Þórarinn Eldjárn: Alaskablues
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Þórarinn Eldjárn
ALASKABLUES
und zwei weitere Gedichte
(Aus: Ljóðbréf Nr. 7 / Poesiebrief Nr. 7, Tunglið forlag, Reykjavík 2023)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
ALASKABLUES
Alaska
an der Hringbraut*
war
eine Gärtnerei,
aber
der Name kam vielen seltsam vor.
Warum
denn nicht Gärtnerei Jan Mayen
Spitzbergen
oder Novaja Semlja?
Jón
Ólafsson, ein Poet und Redakteur,
Bruder
von Páll Ólafsson**,
wollte
zu seiner Zeit alle Isländer
nach
Alaska umsiedeln .
Sein Wunsch ging nicht
in Erfüllung,
aber viele Jahre später
brachte sein Enkelsohn,
der Forstwirt Hákon Bjarnason,
Alaska nach Island,
durchaus in guter Absicht,
obwohl heute viele der Meinung sind,
dass alles, was mit Alaska in Verbindung steht,
dem Land nur einen Bärendienst erweise:
Die Alaskalupine
trennt das Volk in zwei Teile,
sie hat die Nachfolge der Armee angetreten.***
Was dies betrifft, habe ich
ewige Neutralität erklärt,
aber ich muss gestehen,
28 Alaskapappeln gefällt und außerdem
mit einer Kettensäge ein gewaltiges Exemplar
einer Alaskaweide gemordet zu haben.
Bin seither total aggressiv,
total unmöglich, und mein Verhalten
ist wahrscheinlich total ungesetzlich.
*
Straße in Islands Hauptstadt Reykajavík
**
Páll Ólafsson (1827 – 1905) war ein beliebter Schriftsteller des 19.
Jahrhunderts.
***
Gemeint ist das frühere amerikanische Militär, das von 1951 bis 2006 auf Island
stationiert und nicht von allen akzeptiert war. Island selbst ist ohne
Militär.
EIN
BEWUSSTSEIN ERWACHT
Ein
Bewusstsein, das sich langsam vorantastet,
zweidimensional,
aber allein
in
einer weißen Wüste.
Ein gelbes Schneemobil, den Harsch entlang
wie ein Cursor auf einem Bildschirm.
Darüber
hängt ein Rabe
und
sucht neue Perspektiven
und
Flüchtlingskinder,
–
die schwarze Drohne der Vogelwelt.
Noch
höher tanzen
Wolkenbilder,
berühren
sich
und
brüten Formen aus,
die
kein Wolkenatlas
je
wird erzählen können
und
noch weniger erklären.
Trotzdem
diese Gewissheit,
dass
sich irgendwo ein wenig weiter südlich
ein
Frühling im Ungewissen
wähnt.
Wenn
er nur ein wenig
näher
rücken könnte,
um
meine Argumente zu hören,
unwiderlegbar,
dass
es keinen Grund gibt, zu warten
bis
zum Herbst.
Zum
Schluss kam der Frühling
mitten
im Sommer,
er
hatte ein paar Busse verpasst,
nicht
aber den Zug.
Er
kam wie eine Sprühdose
mit
Duft unter Engelsflügeln.
Doch
dann, als es Herbst wurde,
nicht
lange danach:
Singschwäne
aus Schellfischknochen
auf
allen Seen.
EIN
GANZES JAHR OHNE GEBURTSTAGE
Ein ganzes Jahr ohne Geburtstage,
niemand ist älter geworden.
Die geboren wurden,
haben angefangen, Tage zu sammeln
für den kommenden Turnus.
Uns befiel
ein gewisser Mutismus,
der schwer in Worte zu fassen ist.
Ganz oben in meinem Kopf
und doch viel tiefer,
andere Gesetze,
andere Zeiten.
Ich spreche den Radioempfänger an,
der so tut, als würde er
mich nicht hören.
Antwortet
nicht auf den Aufruf
zu
einem schöneren Menschenleben
und
kultivierteren Speisen.
Þórarinn
Eldjárn, geboren 1949 in Reykjavík, studierte Isländisch, Literatur und
Philo-sophie in Schweden und an der Universität Islands. Seit 1975 arbeitet er
als Schriftsteller und Übersetzer und gehört, vor allem durch sein Bestreben,
die Shortstory im Isländischen weiterzuentwickeln, zu den bekanntesten Autoren des
Landes. Sein Werk jedoch ist weit gespannt, es umfasst ebenso Romane,
Aphorismen, Kinderbücher und nicht zuletzt Gedichte. Sein bekanntestes Werk, Brotahöfuð,
erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel Im Blauturm. Außerdem
erschien in Deutschland unter dem Titel Die glücklichste Nation unter der
Sonne eine Sammlung von Erzählungen des Autors. Seine Gedichte sind trotz
ihres großen Erfolgs in Island hierzulande bis dato unübersetzt.
In Island
erschienen zuletzt die Bände Til í að verða til / Bereit zu werden (2019) sowie Allt og sumt / Alles und nichts (2022).
Þórarinn
Eldjárn lebt und arbeitet in Reykjavík.
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