Polina Barskova: Mutabor
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Meinolf
Reul
Polina
Barskova: Mutabor. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Russischen
und mit einem Nachwort von Daniel Jurjew. München (Edition Lyrik Kabinett bei
Hanser) 2023. 160 Seiten, Pappband. 24,00
Euro
„Los,
lass uns das Wort aufwecken!“.
Mutabor. Gedichte von Polina Barskova
[…] seiIchSei dieser wald im herbst mitFliegenpilzen auf den wurzeln,Pigmentflecken auf den armenHühneraugen an den füßen.Sei der hase im ergrauenden feldDie ente im gestank der moore.
Das
Personal russischer Märchen wie den Zarensohn Iwan oder die Hexe Baba Jaga
wieder auftreten lassen: das hat sich die russisch-amerikanische Dichterin
Polina Barskova ausgedacht, die 1976 in Leningrad geboren wurde und seit 1998
in Berkeley lebt. Anders als bei den Brüdern Grimm, wo es die Hexe ist, die
sich Hänsel und Gretel einverleiben will, fordert hier die Hexe den Zarensohn
auf, sie zu essen, mehr noch: sie zu werden. Welche Version ist
abgründiger?
Und
noch mehr Märchen! Der Gedichtzyklus „Mutabor“ zitiert Wilhelm Hauffs „Kalif
Storch“. Mutabor hieß das Zauberwort, mit dem der Kalif und der
Großwesir in ihre Menschengestalt zurückfinden sollten – doch sie hatten gegen
die Anweisung verstoßen, nicht zu lachen. Murtabor, Murbutur, Murtubur?
„Mutabor“
steht am Anfang des gleichnamigen Bandes, den Daniel Jurjew jüngst für den
Hanser Verlag übersetzt hat, und mit dem die Dichterin Polina Barskova
erstmals einem deutschen Lesepublikum vorgestellt wird (die Prosaistin war
schon vorher zu entdecken gewesen). Die neunundzwanzig Gedichte sind über einen
Zeitraum von knapp fünfzehn Jahren entstanden und bilden den Weg der Autorin
vom „literarischen Wunderkind“ zu „einer der wichtigsten russi-schen
Lyrikerinnen der Gegenwart“ (Daniel Jurjew) ab.
In die Auswahl aufgenommen sind auch sechs Erstveröffentlichungen.
Alle Texte sind zweisprachig abgedruckt – keine Selbstverständlichkeit bei
Hanser.
Leningrad. Berkeley. Beide Lebenspole prägen Barskovas Schreiben und ihre wissen-schaftliche Arbeit: Die Literatur der Leningrader Blockade zwischen September 1941 und Januar 1944 bildet ein Hauptforschungsinteresse Barskovas, die als Professorin für Slawistik an der University of California lehrt. Der Band Written in the Dark: Five Poets in the Siege of Leningrad (Ugly Duckling Presse, Brooklyn, New York, 2016) ist aus umfangreichen Archivstudien hervorgegangen.
Der in Mutabor enthaltene Zyklus „Lexikon Leningrader Schriftsteller an der Front 1941-1945“, der nach einem historisch verbürgten Verzeichnis benannt ist, kann als ein Beispiel für das Verschmelzen von akademischer Recherche und poetischem Zugriff gelten. Ein anderes wäre das Gedicht „Eine Gemachtheit (Leningrader Bilder)“, das sich auf eindrückliche Weise dem Schicksal des Malers Pawel Filonow widmet, der 1941 in der belagerten Stadt verhungerte.
Der Übersetzer erläutert Barskovas Verfahren: „Sie verschiebt und vermischt die Namen und Realien und unterstützt die Verfremdung der Sprache mit agrammatischen Konstruktionen“. Die Unstimmigkeiten ermöglichen der Dichterin auf inhaltlicher Seite, sich behutsam ihren Figuren zu nähern, während sie auf formaler Seite den Text verdichten und poetisieren.
„Die Frau des Malers Ph war vermutlich überaus leicht“, hebt das Gedicht an. Es ist bereits eine Spiegelung, denn wer hier nur noch Haut und Knochen ist, „Dürr wie eine Mumie“, ist Pawel Filonow selbst. Nicht er trägt seine Frau durch die Straßen der Stadt, sondern sie ihn. „Deine ergrauten Beinchen schlafen wie müde Entlein im Wintergras.“
„Eine Gemachtheit“ ist ein eindringliches Zeugnis des Leidens in Zeiten von Krieg und Not.
Am Schluss bedankt sich die Autorin bei ihren „Co-Autoren“, und setzt damit den Toten mit ihren Namen und Lebensdaten, in der Art textlicher Stolpersteine, ein literarisches Denkmal.
Der Rezensent, des Russischen nicht mächtig, kann wenig zur Treue der Übersetzung sagen. Auch dem Sprachunkundigen wird aber auffallen, dass beim Gedicht „Зонтаг и Бродский в Венеции. О фотографии“, zu deutsch „Sontag und Brodsky in Venedig: Zu einem Photo“, das russische „фотографии“ („Photographie“) mit „Photo“ wiedergegeben wird, was sich stilistisch unangemessen lässig liest.
Das ist ein kleiner Einwand, der durch den Vorzug wettgemacht wird, dass Daniel Jurjew, 1988 in Leningrad als Sohn von Schriftstellereltern geboren, buchstäblich von Hause aus mit der Metropole an der Newa vertraut, und mit der russischen literarischen Tradition aufgewachsen ist, die in den vorliegenden Gedichten allenthalben aufgerufen wird. Wie glanzvolle Einschlüsse bergen sie Erinnerungen an große Gestalten der russisch-europäischen Kultur: Wacław Niżyński (Vaslav Nijinsky), Sinaida Hippius, Anna Achmatowa (Eigennamen sind, mit wenigen Ausnahmen, im Kommentarteil erläutert).
Eines der Gedichte zitiert aus einem Brief von Iwan Turgenjew an seine langjährige Freundin oder Geliebte Pauline Viardot-García und entwickelt aus dem anekdotischen Anfang, nicht ohne Ironie, ein knappes Psychogramm ihrer Beziehung. Ein Kabinettstück! – Wie übrigens auch die amerikanischen Gedichte „Bücherwühltisch in Hadley, Sonntag“ und „Ohne Kontext“, die von Alltagsszenen ausgehen.
Der Blick der Dichterin ist mitunter spöttisch, zeugt aber stets von Zugewandtheit, Zuneigung gegenüber Mensch und Ding, so wenn es etwa über die Tram 29 heißt: „Mit einem gespiegelten Stück des Sonnenuntergangs / Auf der runden Stirn“ oder über die missachteten Bücher auf dem Wühltisch in Hadley: „Hier liegt dieses Buch, wie ein Apfelbaum auf der Erde, / der den Winter nicht überstanden hat“.
Barskovas Sensibilität für die „Epiphanien im Alltäglichen“ (Daniel Jurjew), ihr tiefempfundener Sinn für Humor und Tragik, nicht zuletzt der erzählerische Gestus der Gedichte ziehen den Leser in ihren Bann.
Harsche Fügungen („Kälte der Schwerzungigkeit, die stachelgleich aus dem Mund / kriecht“) setzt Polina Barskova sparsam ein, ebenso wie andererseits schnoddrige Formulierungen (Sich-Beömmeln“, „Eumel“, „Plörre“).
Der variable Ton, Doppelbödigkeit, dokumentarische Versatzstücke, poetische Bilder der Gewalt, surreale Überblendungen: Mutabor stellt Polina Barskova als Autorin vor, die auf eigener Bahn die große, überwiegend männerdominierte Tradition russischer Dichtung fortsetzt, ohne in Ehrfurcht zu erstarren oder ins Fettnäpfchen der Epigonalität zu treten. Eine Entdeckung.
Außerdem erschienen:
Polina Barskova, Lebende Bilder. Aus dem Russischen und mit einer Nachbemerkung von Olga Radetzkaja. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2020. 224 S. Gebunden mit Schutzumschlag 22,00 Euro.