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poet nr. 21

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Alexandru Bulucz

poet nr. 21



Und wieder überrascht das von Andreas Heidtmann herausgegebene Chronographicon „poet“ mit lesenswerten neuen Texten. Fündig wird man in der 21. Ausgabe des Literaturmagazins sowohl bei den eher unbekannten Autoren als auch bei den alten Hasen des „Luftgeschäfts“, wie Christoph Meckel die Arbeit des Schriftstellers einmal nannte. Das Glanzstück des Heftes gehört Uwe Hübner.

Die Texte, die in der Rubrik „Geschichten“ hervorstechen, stammen sicher von José Luís Mendonça und Annemarie Rennert. Zwar beginnt Rennert, 1982 in Karl-Marx-Stadt geboren, ihre Kurzgeschichte „My suitcase is packed“ mit dem etwas zu schwungvollen Satz: „Man sollte all seine Anstrengungen darauf verwenden, das Unsägliche so zu formulieren, dass es lesbar wird.“ Was aber als Pathos erscheint, erweist sich letztlich als bissige Polemik gegen übermäßige Transparenzbestrebungen. Mit Rennerts wiederkehrender ironischer Wendung gesagt: „Hauptsache, einer kann es nachher lesen.“ Dabei erkennt die auch in Begleitung ihres Hundes auftretende Ich-Erzählerin ganz richtig: „Man ist längst von allen gelesen. Und will doch noch tiefer gelesen […] werden.“ Diese Lesbarkeit, die auch Fleisch- und Haut-Sache ist, will sie „ganz ausstehen“. Sie will die Narbe, die Spur spüren: „Willens, dem Leben etwas Verwertbares abzupflücken, quittiere ich Kratzer, ganze Einschnitte gar an Armen und Beinen mit Gleichgültigkeit.“ Das Verwertbare hier: Brombeeren … ganz ausstehen, auch wenn der Auszug aus der Transparenz beim „Passieren einer gewöhnlichen Straße“ leicht glücken könnte, „dem Passanten [verlangt es] weiter nichts ab, als von der einen auf die andere Seite zu gelangen. Dann ist es vorbei.“

Von Mendonça, 1955 in Galungo Alto im Norden Angolas geboren, wird keine Kurzgeschichte vorgestellt. Es sind die Kapitel 40, 43 und 44 (und zum Teil nur Auszüge aus diesen Kapiteln, ins Deutsche übersetzt von Manuela Sambo) seines 2014 in Lissabon erschienenen Romans „Das Reich der Kasuarinen“, in dem sich Mendonça kritisch mit Angola in den Jahren nach erreichter Unabhängigkeit Ende 1975 auseinandersetzt. Nkuku, der junge kriegsversehrte Ich-Erzähler, der bei einem Minenunfall sein linkes Bein verliert, darf nach seiner Genesung 1980 zum Studium der politischen Ökonomie „ins sozialistische Deutschland“. Im spätherbstlichen Leipzig angekommen, beginnt er sogleich mit dem Sprachunterricht „am Herder-Institut in der Tarostraße“ und trifft auf „Studenten aus Angola, dem Senegal, Nigeria, dem Sudan, Äthiopien, Nicaragua, Kolumbien, aus Bolivien und Brasilien“. Sich zu seiner Herkunft zu bekennen, fällt ihm leicht: „Wir Afrikaner“, heißt es an einer Stelle. Lediglich die ungewohnte klimatische Kälte und seine schlechte Gesundheit machen ihm zu schaffen. Und weil sein Spracherwerb sich dadurch verzögert, kann er nicht wie vorgesehen sein Studium aufnehmen. Hier gelingt es Mendonça, den immensen Erwartungs- und Leistungsdruck in kommunistischen Ländern zu verdeutlichen: „Die größte Schmach für einen Studenten war es, länger als die vorgesehenen sechs Monate am Institut bleiben zu müssen, während die Anderen abgingen, um an der Uni ihre Studien zu beginnen.“ Nkuku übersteht eine Pharyngitis und eine Malaria-Infektion, er bekommt eine Beinprothese, erlernt das Gehen wieder und beginnt zum Wintersemester 1981 an der Humboldt-Universität zu studieren. Dort lernt er die etwa nur drei Jahre ältere Lehrerin Anne Mettenleiter kennen, deren Vater „ein hohes Tier in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gewesen“ war. Seinen 27. Geburtstag im März 1983 darf Nkuku bei ihr feiern. Für Unterhaltung sorgt dabei Annes Kater Strawinski, den Sie später Nkuku mitgeben wird. Strawinski, „mit ‚i‘ und nicht mit ‚y‘, um ihn von dem großen russischen Komponisten zu unterscheiden“, „begann mit dem bewegendsten Konzert klassischer Musik“, erinnert sich der Ich-Erzähler. Am Ende wird Nkuku bei Anna, in ihrem Bett sogar, übernachten. Von nun an duzen sie sich. Nkuku macht seine ersten erotischen Erfahrungen.

Von der an Strawinski demonstrierten Phantastik des Romans führt eine direkte Linie zum an „Urmensch“ erfahrbar gemachten Wahnsinn. „Urmensch“ ist der Name eines verrückt gewordenen Freundes, den Nkuku im „Clan“ des „verrückten Waldhauses mitten auf der Insel von Luanda“ (= Königreich der Kasuarinen) wiedertrifft. Mendonça geht es m.E. um Machtstrukturen, darum, zu zeigen, dass sie selbst oder vor allem in pathologischen Zusammenhängen auftauchen. Zum Beispiel heißt die Königin des Reichs „Euthanasia“.

Ein Geschichts- und Liebesroman und zugleich ein Roman über Polit-Wahnsinn und Polit-Utopie, aus dem die Übersetzerin beeindruckende Auszüge ausgewählt hat. Hoffentlich wird er bald in Gänze zu lesen sein.


Die Rubrik Lyrik eröffnet der stille amerikanische Poet Keith Waldrop. Fünf der sechs Gedichte übersetzte Jan Kuhlbrodt, eines – „Archipelago“ – Peggy Neidel. Kuhlbrodt folgt dabei mehr dem Sinn als der Wörtlichkeit des Originals. Aus „In the still oft he night, in bed with your only wife“ wird z.B. „In stiller Nacht und monogamen Betten“ (The Still of the Night – In der Stille der Nacht). Oder: Enden alle Strophen des Gedichts „Unlistened“ im Original mit der Zeile „Silence“, enden sie in der Übersetzung mal mit „Ruhig wird“, mal mit „Wird ruhig“. Eine einzige Strophe endet mir „Ruhig“. Das liegt an den im Englischen verwendeten Subjunktionen und Konjunktionen „while“, „though“, „but“, „as“ und „and“ und daran, dass die englische anders als die deutsche Sprache keine durchgängige Verbzweitstellungs-Regel mehr kennt. Trotz solcher und anderer Schwierigkeiten gelingt es beiden Übersetzern, Waldrops Stimme auch im Deutschen zu bewahren. Eine Stimme, die keine Effektheischerei kennt, sondern nur Diskretion, Stille und Zurückhaltung, und die um ihre Endlichkeit weiß. Im Gedicht „Der Wind lacht“ wird die Endlichkeit vom ständig wehenden und sie ignorierenden Wind kontrastiert. Ob zum Lunch, Dinner oder Frühstück: „der Wind lacht“. Und nur angesichts von Episoden der Unendlichkeit befugt uns das Ich, es zu wecken. Ansonsten gilt es: „Nicht stören“.

Während Andra Schwarz in ihren drei Gedichten auf eine Art psychedelischer Wir-Lyrik setzt, liefert der auch als Theologe arbeitende Paul-Henri Campbell mit seinem aus vier Gedichten bestehenden Zyklus „vasa sacra“ etwas, was im deutschsprachigen Raum ansonsten leider nur schwer zu bekommen ist: religiöse Lyrik, „flankiert von johannes maria“.

Die herausragende Publikation, lyrische wie überhaupt, des Heftes, sicher auch aufgrund ihrer Länge (14x14 Zeilen, ungereimte Sonette?), gehört dem Dresdner Uwe Hübner, betitelt „Los zurück“. Im Grunde besteht der Zyklus aus einer einzigen, 196 Zeilen umfassenden narrativen Langstrecke, und das macht Hübners Lyrik so lebhaft und dynamisch. Darin nacherzählt wird die Biographie einer „multiplen Person“ in der sowjetischen Besatzungszone. Der Erzähler – es gibt kein lyrisches Ich – erinnert sich bis zum Jahr 1947 zurück: „zwei Jahre / nach der Stunde Null wackelten die Holzfäller / ausm Dorf“, heißt es gleich zu Beginn. Derjenige, der zu einer multiplen Person werden sollte, wird bald darauf geboren und zunächst als „Balg“ bezeichnet, dann als „Balg-Akteur“, dann als „Akteur“ usw. usf. Er wächst in die Funktionalität kommunistischen Lebens hinein: „Insichgehen hatte offenbar wenig praktischen Sinn“. Aber genau dieses dem radikalen Durchlauf von Zeiten und Räumen entgegengesetzte Insichgehen findet auf der Rückseite des Teppichs statt: „glitzernde Melancholie / eben das Gegenteil von Expansion“. Durch Expansion gezeitigte Intension – ein außerordentlich schöner Text! Schade, dass Hübner in den mehr als 40 Jahren seines Schreibens nur zwei Bücher veröffentlicht hat.

Barbara Maria Kloos dagegen – enttäuscht. Die Gedichte der Trägerin des Christine-Lavant-Preises 2008 laufen auf einen Hyperreduktionismus und -symbolismus hinaus, der sich aus dem gescheiterten Versuch speist, die Wörter bis zum Bersten zu semantisieren. Dass solche Versuche glücken können, beweisen natürlich Dichter und Dichterinnen wie Paul Celan, Nelly Sachs, André du Bouchet und andere wenige, deren Meisterschaft derart einzigartig war, dass sie nicht einmal als Ausnahmen gelten dürften, die die Regel bestätigen. Auch Hilde Domin gehört in der ein oder anderen Weise dazu. Nach ihr und nach Albert Baeza Flores entstand Kloos’ „unter akroben“, das wie folgt anfängt: „aus / dieser ganze schöne leib / leuchtende insel / muß fallen / fallen / kurzer tag / duftet selig / und dann / geliebte asche / du“. Um ein Gedicht oder eine Strophe in einer Zeile wie „du“ münden lassen zu können, muss in ihrem Vorfeld viel mehr geleistet und ein entsprechender Spannungsbogen erzeugt werden, der sich in eben jenem letzten Vers oder Wort in all seinen Farben entlädt. Kloos’ „du“ hingegen ist leer und nichtssagend und dürfte schnell wieder vergessen werden.

Es folgen zehn Gedichte von zehn Dichtern aus Venezuela, sehr liebevoll und sorgsam ausgewählt und übersetzt von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Martina Weber. Wie im Vorspann der Rubrik zu lesen ist, sollen sie „einen Einblick in die Seele und aktuelle Lage dieses Landes [geben], das einen andauernden und schmerzvollen Zerfall seiner politisch-ökonomischen und sozialen Einheit durchlebt“. Luis Enrique Belmontes „Geplündertes Haus“ könnte für diese kleine, aber feine Sammlung repräsentativ stehen – oder das, was dort „[e]benfalls weg“ ist: „auch die getrocknete Rose / aus dem Tagebuch meiner verliebten Schwester, auch sie“.

Auch Michael Brauns und Michael Buselmeiers „Der gelbe Akrobat“, in dem einzelne Gedichte kommentiert werden, findet in „poet“ nach Erscheinen von Band 2 seine Fortsetzung – um genau zu sein: die sechste Fortsetzung innerhalb der Zeitschrift. Der unermüdliche Braun bespricht Sonja vom Brockes „Kunde“, Elke Erbs „‚Ursprüngliche Akkumulation‘“ – hier handelt es sich um einen von Braun „bereits 1997 oder 1998“ für die Zeitschrift „Freitag“ verfassten, aber später verschollenen und nun rekonstruierten Kommentar – und um Carolin Callies „wackersteine im wams (aufbewahrungsverhältnisse)“. Buselmeier bespricht Uwe Kolbes „Heidelberg, den 14en August“, Friedrich Anis „Versehrte Verse“ und Jürgen Brôcans „Fremde ohne Souvenir“.

In seinem rekonstruierten Kommentar zu Erbs Gedicht zitiert Braun folgenden Satz aus Marx’ „Kapital“: „Die ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie.“ Dieses Zitat spannt nicht nur zwei der Themen seiner drei Kommentare auf, sondern gibt auch einen Hinweis darauf, was ihn seit jeher umtreibt: die lyrische Einverleibung „religiöser Mythen“ (zu vom Brocke) und – so banal es klingen mag – die Dichtung schlechthin … die Dichtung als eine Sache von einleuchtenden Bildern, dort eingesetzt, wo der argumentative Diskurs an die Grenze seiner Linearität (vgl. zu Erb) stößt. In diesem Sinn ist sowohl Marx’ Zitat ein einleuchtendes Bild (Analogie, Vergleich) als auch Erbs „durch und durch assoziativ strukturierter Text, in dem durch die offene Kombinatorik der fragmentarisch bleibenden Gedichtelemente eine große poetische Reibungshitze erzeugt wird“.

Längere Gespräche zu „Literatur und Fortschritt“, dem Hauptthema des Heftes, wurden geführt mit Sascha Macht, Sabine Scholl, Jo Lendle, Jürgen Ploog und Ann Cotten, aber auch die Autorinnen und Autoren, die in der Ausgabe mit Lyrik und Prosa vertreten sind, konnten in kurzen Statements Stellung dazu beziehen. Insbesondere Paul-Henri Campbells provokant formulierte und daher unbedingt zu diskutierende thesenhafte Beobachtung fällt auf: „Oft habe ich beobachtet, dass Dichter, die zynisch oder skeptisch auf die Frage nach Fortschritt reagieren, eigentlich überfordert sind. Sie greifen dann häufig zur Technik der Kompilation oder einem wahllosen Eklektizismus, ohne dass ihre Gedichte Spuren einer dichterischen Individualität zeigen, die die Stimme im Jetzt verortet. Solche Dichter sind lediglich Echos des Vergangenen, nicht Herolde des Kommenden.“ Gleichgültig, aus welcher Richtung man auf das Thema „Fortschritt“ zuhält – es geht um die Fortschreibung von Tradition und um deren Verwerfung, um Subjektivität/ Subjektivismus und Individualität/ Individualismus und um Allgemeingültiges, um die Moderne und um die Avantgarde, um Epigonentum und um Neuerungssucht etc. pp. Die Debatte kennt keinen Schlusspunkt …



poet nr. 21. Literaturmagazin. Hg. Andreas Heidtmann. Leipzig (poetenladen) Herbst 2016. 252 S., 9.80 Euro.

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