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Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen

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Michael Braun

Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte. Italienisch-deutsch. Hrsg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Theresia Prammer. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2021. 632 Seiten, 42,00 Euro

ICH  BEDECKE MICH  MIT  SCHLAMM
„Späte Gedichte“ von Pier Paolo Pasolini – Bekenntnisse eines Ketzers


Als häretischer Katholik, ketzerischer Kommunist und libertärer Kritiker der Macht hat der Filmemacher, Lyriker, Sprachtheoretiker, Romancier und Polemiker Pier Paolo Pasolini über viele Jahre seine Zeitgenossen provoziert. Fast alle seine Filme, Romane und Gedichte waren anarchistische Anschläge auf die dominanten Weltanschauungen der Sechziger und Siebziger Jahre. Er faszinierte mit seinen Liebeserklärungen an das Subproletariat der Vorstädte und vor allem mit seinen radikalen Filmen, die alles aus den Angeln hoben: die Kunst, die Moral, die Ideologien, die Theologie, die sexuellen Tabus, den eigenen Körper. Pasolini hat in allen seinen Kunstwerken seine ästhetischen und sexuellen Obsessionen kompromisslos ausagiert. Neben grelle politische Pamphlete und in ihrer Drastik schwer erträgliche Filme treten in seinem Werk ganz zarte und fromme Gedichte und Lieder.

Als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Mutter aus dem alten kulturellen Grenzgebiet Friaul wird er 1922 in Bologna geboren. Er beginnt als Dialektdichter mit Gedichten auf die Liebe, im friulanischen Dialekt, dem er zeitlebens anhing und dessen all-mähliches Verschwinden ihn schmerzte wie das Verschwinden der alten bäuerlichen Welt. Die Entscheidung für das Friula-nische als Dichtersprache, die der junge Pasolini traf, war auch ein politisches Statement. Denn mit dem Dialekt bekannte er sich zur Sprache der Regionalität und der Individualität. Das Hochitalienische: Das war die Sprache der Macht und des Kollektivs. Im Jahr 1942 gehörte es zu den kulturpolitischen Projekten der italienischen Faschisten, die Dialekte zurückzu-drängen. Und genau in diesem Augenblick versuchte Pasolini, mit einigen Freunden eine Akademie für die friulanische Sprache zu gründen und Dialektforschung zu betreiben. Das Dialektale bedeutet also auch eine poetische Subversion.

2009 wagte der Berliner Dichter und Übersetzer Filips den kühnen Versuch, die sprachliche Heterogenität Pasolinis in eine deutsche Polylingualität zu transformieren. Bei der Übersetzung der frühen Pasolini-Gedichte für den Band Dunkler Enthusiasmo (bei Urs Engeler Editor) verwendete er die unterschiedlichsten Sprachregister: das Mittelhochdeutsche in der Tradition Mechthild von Magdeburgs, das Bibeldeutsch Luthers, das Volkslied und das Kunstlied – und nicht zuletzt die Rhetorik kommunistischer Agitation.
        Pasolini selbst war im Oktober 1945 der Unabhängigkeitsbewegung Friauls beigetreten, bald aber hatte er sich der Kommunistischen Partei Italiens angenähert, in die er 1947 eintrat. 1949 war er Ortssekretär des PCI im Städtchen Casarsa im Friaul und arbeitete als Volksschullehrer. Im Oktober 1949 wurde er aus der Partei ausgeschlossen wegen „moralischer Unwürdigkeit“. Gemeint war seine Homosexualität. Man hatte ihn denunziert wegen angeblicher homosexueller Annäherungen an Schutzbefohlene, die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos, aber Pasolini verlor über Nacht seine Anstellung als Lehrer, seine Parteimitgliedschaft und sein soziales Umfeld. Er zog daraufhin mit seiner über alles geliebten Mutter ins Armenviertel nach Rom.
        „Mein Realismus ist ein Liebesakt“, hat Pasolini einmal gesagt – und dieses Bekenntnis lässt sich nur verstehen, wenn man die sehr unterschiedlichen Konnotationen des Wortes „Liebesakt“ anschaut. Es gibt bei Pasolini den zärtlichen Liebesakt, es gibt auch die mörderische sexuelle Gewalt, die unsägliche Rohheit. Es gibt die Liebe des Jesus Christus im Film Das 1. Evangelium – Matthäus. Es gibt das übermächtig werdende sexuelle Begehren in Teorema. Und es gibt die sexuellen Scheußlichkeiten in Die 120 Tage von Sodom.
     Die Verfilmung des Matthäus-Evangeliums war Pasolini jedenfalls eine Herzensan-gelegenheit: „Ich möchte das Matthäus-Evangelium getreu in Bilder übersetzen, ohne etwas dazuzufügen oder wegzulassen...Es ist der poetische Rang des Textes, der mich inspiriert. Ich möchte etwas Dichterisches schaffen. Ich liebe diesen Jesus aus ganzem Herzen.“
         Am 2. November 1975 wurde Pasolini bei Ostia ermordet aufgefunden, die Umstände seines Todes sind bis heute nicht geklärt.
           Pasolinis Nachruhm beginnt nun allmählich zu verblassen. Katholizismus und Marxis-mus, die Institutionen, die er erbittert bekämpfte, haben als hegemoniale Mächte abgewirtschaftet.
Einen großen Markstein zu seiner Wiederentdeckung setzt nun die zweisprachige Ausgabe mit Späten Gedichten, die die Essayistin und Übersetzerin Theresia Prammer unter dem etwas verwirrenden Titel Nach meinem Tod zu veröffentlichen vorgelegt hat. Es hat etliche Jahre gedauert, bis dieser große Wurf der Pasolini-Relektüre bei Suhrkamp gelandet ist. Bereits 2009 hatte Theresia Prammer ein fulminantes Pasolini-Dossier in der Literaturzeitschrift Schreibheft vorgelegt, ihre große Pasolini-Übersetzung, an der sie viele Jahre gearbeitet hat, gelangte erst auf Umwegen zu Suhrkamp. Die anrührenden liedhaften Verse aus dem Frühwerk Pasolinis sind hier nicht berücksichtigt, sondern ausschließlich die zwischen schriller Selbstbehauptung, diaristischer Reflexion und trotzigem politischen Statement changierenden Verse der nach 1957/58 entstandenen Gedichte. Was nun die Texte auf den 620 Seiten dieser sorgsam kommentierten Gedichtsammlung verbindet, ist ihr immenser aufklärerischer Bekenntnisehrgeiz, der überbordende Confessio-Modus, mit dem Pasolini sich unablässig zu verorten versucht in seinem Weltanschauungskampf, zu dem er die Kommunistische Partei und den katholischen Klerus herausfordert. Es sind im wesentlichen die drei Gedichtbände La religione del mio tempo („Die Religion meiner Zeit“) von 1961, Poesie in forma di rosa („Dichtung in Form einer Rose“) von 1964 und das wuchtige Spätwerk Trasumanar e organizzar von 1971, die hier in Auszügen übersetzt vorliegen. Von dem hohen Ton und der klassischen Musikalität seiner früheren Verse, die noch den Band Le ceneri di Gramsci (Gramscis Asche, 1957) bestimmten, hat sich Pasolini hier abgewandt zugunsten einer freien, offenen Form, die viel dem Narrativen verdankt, der erzählerischen Geste, der politischen Tagebuchnotiz, dem emotionalen Kommentar. Neben politischen Gelegenheitsgedichten hat Pasolini auch ganze Gedicht-Zyklen geschrieben, die den Entstehungsprozess seiner Filme begleiten. „All diese Filme habe ich als Dichter gemacht“, hat er einmal beiläufig erklärt.
       Das unruhige Nomadisieren des verzweifelt Liebenden, der mit seinem Dazugehörigkeits-verlangen abgewiesen wird von den Instanzen der Macht – das ist die poetische Grundfigur sehr vieler Gedichte. In seinem 1970 entstandenen Gedicht Späte Einsichten porträtiert er sich als „Gefangener eines schamlosen Verlangens“ und imaginiert sich als „wildes Tier“, das in seinem Käfig hin und her läuft“. Es ist die Einsicht, dem Schmutz näher zu sein als der Reinheit: „dass ich mich mit Schlamm bedecke, denn Schlamm ist Materie, also rein; / dass ich das Licht nur dann mag, wenn es ohne Hoffnung ist.“
      In den Mondänen Gedichten, die 1962 die Genese des Films Mamma Roma reflektieren, findet dieses Weltgefühl seinen prägnantesten Ausdruck: „Den ganzen Tag über arbeite ich wie ein Mönch/ und streife abends umher wie eine räudige Katze/ auf der Suche nach Liebe … Ich werde der Kurie / vorschlagen, mich heiligzusprechen.“ Zu einer Heiligsprechung des Ketzers ist es natürlich nie gekommen. Dafür ist das „extremistische Geschrei“ des Pier Paolo Pasolini auch heute noch viel zu verstörend, zu weit abseits jeder gesellschaftlich zumutbaren Moral.  


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