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Pia Birkel: schmelzwert

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Dirk Uwe Hansen

Pia Birkel: schmelzwert. Gedichte. Leipzig (poetenladen-Verlag – Reihe Neue Lyrik, hrsg. von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt und der Kulturstiftung des Freistaats Sachsen,) 2022. 72 Seiten. 19,80 Euro.

das sind die funde dieser landschaft


Als Rezensent sollte ich mich nicht von Klappentexten einwickeln lassen. Aber im Fall von Pia Birkels Debutband „Schmelzwert“ verwickelt mich der kurze Satz auf der Innenklappe schon in tiefes Nachdenken, bevor ich das erste Gedicht gelesen habe.

„Also um den Effekt geht es. Der nicht geheischt werden darf, sondern die Sprache, das Bild — das Dahinterliegende ganz ernsthaft freigeben muss. Und freilegen muss ... die Sprache dahin bringen, so zu klingen, was sie meint.“

Dass Kunst nicht abbildet, sondern sichtbar macht (um es mit Paul Klee zu sagen), gehört ohnehin zu meinen Lieblingswahrheiten, aber Birkel geht mit ihrem hohen Anspruch noch einen Schritt weiter, spricht der sichtbar machenden Instanz Sprache ein Eigenleben, einen Eigenwillen zu und gibt dem Gedicht die Aufgabe, sozusagen auf einer weiteren Ebene, nun auch dieses sichtbar zu machen. Das macht natürlich gespannt.

rhein, einige schwäne

das ganze sing, muse, flucht und blutlust
zum anfang gebracht: jungfrau
im knarzenden schnabel, zuckt der
zehn-minuten-schwan wie ein

geköpfter hahn, entlässt sich lässig
in das fremde wesen, so gefasst
im vergleich zu diesem federficker,
der schnappend schnarrt ...

Durch die „Haarrisse der Antike“ geht es im ersten Zyklus des Bandes ins Altertum. Und gleich in den ersten beiden Strophen des ersten Gedichts haut Birkel mir alles um die Ohren, was mich an ihren Gedichten so begeistert. Das Konzept einer docta poiesis ist der Dichterin vertraut. Die Zeugung Ledas als Voraussetzung für das Gemetzel des troianischen Krieges (das „im neunten jahr“ die „weichen sterblichen in den staub“ stoßen wird, wie es in einem späteren Gedicht heißt), die Darstellung dieses Aktes in der Kunstgeschichte von einem pompeianischen Fresko bis zu Leonardos den hilflos flatternden Schwan gelassen von sich abhaltenden Leda, all das führt Birkel mit wenigen Worten zusammen. Das ist großartig. Und gleichzeitig weist sie jede Form selbstzufriedenen Bildungsbürgertums mit einem Lachen zurück: Zeus als flatternder Federficker und „kein riesen plot / für epen hier“. Auch ein phrasendreschender Odysseus und Herakles als „matter töter“ werden uns noch begegnen. Und der Schild des Achill wird zu einem „flüchtige[n] bild“. Großartig auch das, wie der Leyerschwanz als orphisches Huhn (S. 53).

Das Arsenal an literatur- und kunsthistorischem Wissen, das Birkel in ihren Gedichten nutzt, ist, vorsichtig gesagt, beeindruckend (und ich bin mir durchaus bewusst, dass ich sicher nur einen Teil dieses Arsenals erkannt habe und zuordnen kann). Effektheischerei ist das aber in keinem Fall.

he atthis
ich länge nach deinen lippen:
ich länge nach deinen schmalen füßen
    
Natürlich, Sappho und Pound. Das geht schon aus dem Titel des Gedichtes (anrufung der atthis (nach ezra pound)“ deutlich genug hervor. Bemerkenswert ist dabei die Unbekümmertheit, mit der Birkel sich diese Verse aneignet, wo Pound aus dem Griechischen die Anredeinterjektion „O“ übernimmt, ein „he“ hinsetzt, um dann das Pound‘sche „long for“ ganz ‚wörtlich‘ mit „ich länge nach“ wiederzugeben. Dann aber ersetzt sie Pounds „breasts“ durch die schmalen Füße, gibt gewissermaßen Sappho den Text zurück, bei der wir εὔπους immer und immer wieder als Epitheton für junge Frauen finden.

Wenn man will (und ich will), kann man aus dem kurzen Satz im Klappentext das Programm eines zweifachen Auf-den-Grund-Gehens herauslesen. Wenn die Sprache das Mittel ist, mit dem wir uns die Phänomene der Welt erst aneignen können, dann sind die Gedichte Birkels das Instrument, mit dem wir unter die Oberfläche dieser sprachlichen Vergegenwärtigung sehen. Besonders schön zeigt sich dies in einem dem Mont Sainte-Victoire gewidmeten Zyklus — überhaupt sind die Texte in diesem Band dann ganz besonders stark, wenn sie sich zu Zyklen zusammenfinden, die stets eine je eigene Form des Sprechens entwickeln; mich darauf einlassen zu können war das größte Vergnügen, das ich bei der Lektüre hatte. In neun Gedichten nähert Birkel sich nicht nur diesem Berg, sondern Cezannes vielen Darstellungen dieses Berges.

5.
sie saß im zug, der ohne orte vorwärts
kam. landschaft, felder im halbschlaf
und regen.
einmal hielt sie ein tuch, grau, blinzelnd
für den felsen.
sie fasste und hielt den berg, den festen,
in ihren händen.
            
Um dieses zentrale Gedicht gruppieren sich jeweils vier Texte, in denen der Berg (und seine Darstellungen bei Cezanne) zunächst vorsichtig beschreibbar gemacht werden als führe man im Zug an seinen vielen Erscheinungsformen vorbei, dann im zweiten Teil, eignet sich die Sprecherin der Gedichte den Berg und seine Darstellungen in Traum oder Erinnerung so an, dass er am Ende wieder verschwindet, zu Linie („sein vielleicht fiktiver knick“ — über den möchte man gleich eine kunsthistorische Abhandlung schreiben) und Staub wird: „bis (wieviel später?) / in irgendeiner ebenen umzäunung, / seine form vergessen, das zerstaubte gestein / unter den schuhen gespürt“.

Der Zyklus, der mich am meisten beeindruckt hat (anderen wird es mit anderen Texten so gehen, umso besser) ist das carmen perpetuum „verwandlungen archäologischer landschaft“, das sich selbst unterbricht und nicht unterbricht.

„...
da hat die zeit sich
eingegraben. steht eingeschrieben
in den ort, und deine spur — geh hin!
die sich nach vorne schreibt
in ganz, in unmarkiert vergrabenes
und fußabdrücke
macht
das sind die funde dieser landschaft.“
            
Von den eigenen Fußspuren bis zu den Abdrücken des „aufrechte[n] auf leichten fersen“ (S. 48) graben wir uns mit den Texten durch den matschigen Boden und gleich noch die Geschichte der Menschheit und am Anfang (oder Ende) mag man sich selbst hier finden oder einschreiben („ältester fund, der zu staub / gegrübelte schädel“ S. 47) und gleich wieder, wie der Schild des Achill als flüchtiges Bild und der Mont Sainte-Victoire, der zu einer „vielleicht fiktiven Linie“ wird, verlorengehen: „...das gelände / gibt zeugnis ab, schweigt.“


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