Philipp Létranger, Siegfried Völlger: ungläubig eine kathedrale betreten
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Armin Steigenberger
Philipp Létranger, Siegfried
Völlger: ungläubig eine kathedrale betreten. Gedichte. Visbek (Geest-Verlag) 2025.
112 Seiten. 12,00 Euro.
in jedem schreiben / steckt ein schrei
Seit einigen Wochen liegt der gemeinsam verfasste Gedichtband von Philipp
Létranger und Siegfried Völlger auf meinem Schreibtisch. Beim Lesen betrete ich
immer wieder ungläubig eine Kathedrale – ein Bild, das sich in mir festsetzt und das Buch auf
überraschende Weise als Raum erfahrbar macht. Die „Dialoggedichte“ begleiteten
mich sogar auf eine einwöchige Auszeit in Dänemark; immer wieder blätterte ich
und ließ mich hineinziehen, immer wieder blieb ich an Formulierungen hängen.
Ein Buch, das immer besser wird, je länger man sich mit ihm befasst.
man hat ihm zweifel übergezogenals zweites fell
Solche Sprachspiele sind es, die mich als Leser neugierig machen. Hier
möchte ich mich vertiefen.
Bereits das erste Kapitel trägt den Titel tanz mit dem zweifel und
fährt fort:
wer ist dies ungefragt geborenegeschöpf mit meinem namen
Diese Kürze, die Präzision der Bilder und die unaufdringliche, positive Unberechenbarkeit
der Sprache schaffen eine Grundstimmung, die – bei Lesenden und dem lyrischen
Ich gleicher-maßen – zwischen Staunen, Skepsis und sanfter Verzweiflung
oszilliert.
Die Texte arbeiten mit wiederkehrenden Motiven – Zweifel, Stille, Schuld,
Einsamkeit – und lassen religiöse Bezüge nicht dogmatisch, sondern eher
reflektierend erscheinen:
nie, nicht einmalich habe nie jemand getötet
Durch das Enjambement entsteht ein winziger Versatz, eine syntaktische
Zweideutigkeit, eine Irritation. Später heißt es:
nicht leicht, die lebenden zu unterscheidenvon den totengesichtslose von scheintotenmitläufern, marschierern
Diese Passagen formulieren Fragen nach Verantwortlichkeit und
Mitläufertum in knappen, eindringlichen Bildern. Zugleich findet sich in
anderen Gedichten eine pragmatischere Melancholie: Erinnerung, Kindheit,
verlorene Nähe, kleine Alltagsfreuden wechseln mit existenziellen Momenten –
mal ironisch gebrochen, mal ganz leise.
Als jemand, der selbst Erfahrung mit kooperativen Schreibprojekten hat, interessiert mich besonders die Form dieses Duos. Was mir auffällt und gefällt – wahrscheinlich der Erfahrungswert beider Autoren und ihres gemeinsamen Arbeitens – ist, dass das Buch ein Ganzes geworden ist. Es ist letztlich unwichtig, Wort für Wort zuzuordnen, wer welchen Vers beigesteuert hat. Die häufige Forderung, die Autorenschaft einzelner Passagen kenntlich zu machen, übersieht, wem das nützt. Zweck dieser Aufspaltung wäre nur eine unnötige Konkurrenz, die dem Gemeinsamen schadet. Lesende neigen dazu, sich bei bestimmten Zeilen an den jeweils geschätzten Namen zu klammern und dort die stärksten Pointen zu erwarten. Doch hier ist vieles im Fluss entstanden:
Ein Gedicht führt zum nächsten, oft über kommentierende, ergänzende oder sich widersprechende Einsprengsel – ein Prozess, in dem das eine aus dem anderen erwächst. Insofern verliert die Frage nach der genauen Herkunft an Bedeutung. Ein gemeinsames Projekt ist außerdem gute Übung gegen die Fixierung auf das eigene Ich; es öffnet den Blick für das Andere, für den Anderen, für die Art, wie der Mitautor liest, deutet und empfindet.
Das Vorwort ist hierin
sehr aufschlussreich: Gut zu beobachten ist, wie Ideen, Gedanken und Worte
von einem Gedicht zum anderen überspringen, dabei kommentieren, ändern,
ergänzen, widersprechen oder scheinbar aneinander vorbeigehen.
Der Titel selbst – ungläubig
eine Kathedrale betreten – ist bemerkenswert mehrdeutig. Er kann Staunen
meinen, Atheismus, ein Nicht-wahrhaben-Wollen oder bewusste Ignoranz gegenüber
dem Göttlichen. Zugleich ruft er die biblische Figur des ungläubigen Thomas in
Erinnerung: die Spannung zwischen Zweifel und Glauben, zwischen Ablehnung und
mög-licher Wiederfindung desselben. Diese Ambivalenz eröffnet viele
interpretatorische Möglich-keiten.
Im Band tauchen
wiederkehrend Motive wie Stille, Einsamkeit, Erinnerung und moralische Kälte
auf. Steine erhalten Eigenleben, Gott schweigt, innere Kälte wird als
gesellschaftliche Haltung sichtbar:
gewaltige massen stürzten herabsamt einem kreuznur ein glückuns hat es nicht getroffen
Sprachlich besticht der Band auch durch prägnante Neologismen und
Wortbildungen – seelen-mahlwerk, vernünftiger vogellärm, achtsamkeitsfähnchen
– die den Ton unangestrengt und überraschend halten, ohne affektiert zu wirken.
Es gibt etliche (nicht-)religiöse
und zwischenmenschliche Motive, die “alte” Sehnsucht nach Zweisamkeit und sogar
Liebesgedichte stehen der misere der welt entgegen –manchmal jedoch siegt die Panik über die
Romantik, und dennoch erfreut sich das lyrische Ich ganz bescheiden, z.B. an
einem sonnigen Tag im Mai, und augenzwinkernd wird im selben Gedicht schon
gleich auch der Winter apostrophiert. Oft steht neben dem Behagen (an sich
selbst) die Panik. Gegenpole sind Einsamkeit, Stille (in einem selbst) und
Leere. Albtraum steht neben Hoffnung. Auch traurig kann es werden / allein.
Nicht ganz ironiefrei
wird eine Szene geschildert, in der sich zwei so nah gekommen sind, dass
sie einander riechen konnten:
gut, dass du mir einige wochen danach gesagt hastdass du ab dem moment des ersten nachriechensebenfalls für alle anderen verloren warst
Doch das Wesen der
Liebe ist nicht greifbar; wie in einer unüberschaubaren gleichung bleibt
zuletzt immer ein loch / in der logik. Liebe tritt hier nicht als
reines Ideal auf, sondern als verwundbares, manchmal komisches Geflecht aus
Nähe und Verlust, Begierde und Reue. Szenen bleiben sparsam, fast prosaisch
skizziert; das Pathos wird meist vermieden, stattdessen setzt die Poesie auf
kleine Einsichten, Selbstironie und ein gelegentliches Augenzwinkern.
Kindheitserinnerungen und Frauennamen brechen die mitunter sachliche Tonlage
mit persönlicher Note:
das rothaarige mädchen –verehrung ist untertriebenHildegard, Hilde, Gerdialles nicht passendsie ist lange weg
Stärken des Bandes sind seine dichte Bildsprache, die gelungene Balance
zwischen Nüchternheit und Empfindung sowie die produktive Dialogstruktur, die
aus zwei Stimmen ein kohärentes Ganzes formt.
die wichtigsten tage sind leisewie ein schneeflockentanz –
Auch wenn der Ton vereinzelt etwas hoch ist und dann recht gefühlsbetont
anmutet, bleiben die Bildwelten dennoch auf dem Teppich und enthüllen An– und
Einsichten
im flüstern der souffleureim tosen der lautedem ruf der vokale
Sie sind angenehm selbstironisch, wo z.B. ein lyrisches Ich, seines
Zeichens Dichter, lieber auf Accessoires, Kapriolen und Muskelmasse setzt – denn
dann müsste ich michnicht so hervortunmit den worten
Wo doch Worte sehr mächtig sind, wie es am Ende des Buches heißt, mit
ihnen können wir die welt rücken.
Augenzwinkernder, verschmitzter Humor und Zeitkritik durchziehen den
Band; auch die Dialektspuren der beiden aus Niederbayern gebürtigen Autoren
treten sparsam und wirkungsvoll auf, so dass die Texte lokal verwurzelt und
zugleich offenbleiben. Nach den so heldenhaften wie ermüdenden Kämpfen kommt,
härtester, die brotsuppe / vor dem nacht-dschungel.
Der Band umfasst 40 “gedoubelte”, also zweifache Gedichte in acht
Kapiteln; die Kapitel-überschriften stammen jeweils aus dem Einstiegsgedicht und
strukturieren den Bogen klar. Manche
Texte lesen sich wie prosaähnliche Miniaturen, andere als scharf pointierte
lyrische Repliken – zusammen
ergeben sie ein vielstimmig anmutendes Konzert, das dennoch unisono klingt und
das die Lesenden zu wiederholtem Hinsehen und Hinhören einlädt.
ungläubig eine kathedrale betreten ist ein zurückhaltend bewegtes
Buch: Es vermeidet großes Pathos, bleibt dabei in seiner Bildkraft beweglich
und prägnant. Die gemeinsame Autorenschaft zeigt sich nicht als Wettstreit,
sondern als Austausch, in dem Gedicht auf Gedicht trifft und Neues entsteht.
Für Leserinnen und Leser, die bereit sind, aufmerksam zu lesen und genau
hinzuhören, bietet die kathedrale als Buch reichlich Entdeckungsraum.
Umso gespannter darf man sein auf den in Kürze von Siegfried Völlger entstehenden
Einzelgedichtband flusswärts, der ebenfalls im Geest-Verlag erscheinen
wird.