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Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam

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Jan Kuhlbrodt

Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. München (C.H. Beck Verlag) 2022. 287 Seiten. 26,00 Euro.

Sind wir nicht alle ein wenig Nietzscheaner?


Man könnte meinen, dass die Publikations- und Rezeptionsgeschichte der Werke eines Philosophen eine recht trockene Angelegenheit und mit einer gültigen Gesamtausgabe abgeschlossen sei. Aber die der Werke Nietzsches gleicht eher einem Abenteuer- und zuweilen Kriminalroman, zumal sich seine Schwester nach Nietzsches Tod des Nachlasses annahm und aus den verschiedensten Texten ein Werk kompilierte, das sie mit antisemitischen und natio-nalistischen Momenten anreicherte. Die Parteigängerin der Nazis konstruierte so einen Theo-retiker, der durchaus als Vorgänger der Nationalsozialistischen Ideologie gelten konnte. Aber dieser Popanz hatte mit dem Original recht wenig gemein.

Philipp Felsch erzählt in seinem bei C.H. Beck erschienenem Buch „Wie Nietzsche aus der Kälte kam – Geschichte einer Rettung“ die Nietzschephilologie und Rezeption nach 1945 gewisser-maßen als die Geschichte der Entstehung und Aufnahme der kritischen Ausgabe von Colli und Montinari und damit auch eine Geistesgeschichte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Europa erscheint darin nicht nur in politische Blöcke gespalten, sondern auch in philologische, die letztlich quer zu denen der politischen Geographie liegen.

Als ich in den Achtzigerjahren in Leipzig zu studieren begann, war in der DDR von Nietzsche kaum etwas zu bekommen. Hin und wieder tauchten alte Ausgaben auf. Ein Freund von mir hatte eine Feldpostausgabe von „Also sprach Zarathustra“ aus dem ersten Weltkrieg, die er wie seinen Augapfel hütete und auch nicht verlieh. Es herrschte ein Nietzschebild, das sich letztlich aus den Einlassungen Lukacs‘ in dessen Buch „Die Zerstörung der Vernunft“ aus den Fünfzigern speiste, in dem er den Philosophen zum Vorläufer und Wegbereiter des National-sozialismus erklärt hatte.
      In den Achtzigern aber war auch eine Nietzschepublikation erschienen, eine unglaublich teure Prachtausgabe von „Ecce Homo“; die die einzige in der DDR war und auch bleiben sollte.

Ein Exemplar dieser Ausgabe verirrte sich, so will es die Legende, die wir uns damals erzählten, in das Schaufenster der Brechtbuchhandlung im Berliner Brechthaus, dem letzten Wohnhaus des Dichters unmittelbar neben dem Dorotheenstädtischen Friedhof, auf dem sich auch Hegels Grab befindet. Der ostdeutsche Philosoph reststalinistischer Prägung, Wolfgang Harich, versuchte, nachdem er erfolglos um die Entfernung des Bandes aus der Auslage gebeten hatte, vor der Buch-handlung stehend, diesen mit einem aufgespannten Regenschirm zu verdecken, damit Passenten das Buch nicht sehen konnten. Wie lange Harich dort gestanden hatte, ist nicht überliefert. Überliefert jedoch sind seine zahlreichen Protestschreiben unter anderem an den SED-Chef-ideologen Kurt Hager und auch an Erich Honecker. Gegen Ende des Buches geht Felsch auf diese Episode ein.

Gleichzeitig lagerte der Nachlass Nietzsches in Weimar. Der Italiener Montinari hatte sich aber schon in den Sechzigerjahren ans Werk gemacht, diesen zu sichten und die Dokumente für eine kritische Gesamtausgabe zu ordnen und anzuordnen.
       Montinari war Schüler des Philologen Colli und Mitglied der Italienischen kommunistischen Partei, was eine höchst spannende und in diesem Fall produktive Mischung darstellte. Die beiden hatten sich in den Vierzigern noch unter den Bedingungen der Herrschaft Mussolinis kennengelernt, als Colli in der toskanischen Provinz einen Philosophieklub leitete. Aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis erwuchs eine lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit, deren Frucht die textkritische Nietzscheausgabe war.
    Mit der Entstehung dieser Ausgabe erzählt Welsch aber auch eine Geschichte der sich verändernden Positionen zur Philologie allgemein und zur Nietzschephilologie im speziellen, von Auseinandersetzungen mit französischen Denkern wie Foucault, Deleuze und Derrida, die dem Projekt zuweilen skeptisch gegenüberstanden, oder mit Karl Löwith, der sich in seiner Skepsis dann doch als Unterstützer erwies.
     Und am Ende des Buches erweist sich die Nietzscherezeption als unabgeschlossener und wahrscheinlich unabschließbarer Prozess, weil die Positionierungen im Gegenwärtigen das Bild der Geschichte verschieben.


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