Pétur Gunnarsson: Vier Gedichte
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Pétur
Gunnarsson
Vier
Gedichte
(Aus: Ljóðbréf
Nr. 6 / Poesiebrief Nr. 6, Tunglið forlag, Reykjavík 2022)
Aus dem Isländischen von
Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
DER DICHTER
Der Dichter gleicht einem Pfarrer in einer verlassenen Gegend.
Alle sind in den Süden des Landes gezogen, nur er ist noch da
in
seiner frisch renovierten Kirche, mit Pfeifenorgel und allem Drum
und Dran.
Die Kirchenbänke ( ein Geschenk vom Frauenverein) stehen
leer.
Wenn die Fliegen nicht wären, gäbe es nichts, das sich bewegt
(doch
auch sie versuchen, hinauszugelangen).
Keine automatisch gesteuerten Glocken läuten mehr übers Land
und die Kinder spielen „Alle meine Entchen“ auf der
Kirchenorgel.
Ist es vollbracht?
EIN BUCHLADEN IN EINER UNGENANNTEN STADT
Auf dem Sofa am Fenster sitzt eine Frau und liest, sie hat
ein Bein untergeschlagen und presst das andere mit der Fußsohle
gegen dessen Knie – die Oberschenkel bilden eine konische, kegelartige
Form …
Man musste das nicht groß erklären, es war einfach so und
ließ
einige unter dem Vorwand, etwas in der Reihe der Titel zu
suchen,
sich näher herantasten.
Draußen war Frühlingsanfang.
ALLES, WAS LEBT
Ich kam das Ufer entlangspaziert, als ich einen Nerz
in einer Falle feststecken sah, das Fell hatte die gleiche
Farbe wie das Geröll.
Ab und zu stieß er einen schrillen Schrei aus und versuchte,
sich loszureißen.
Das Mitgefühl unterscheidet nicht zwischen Tierarten.
FENSTERBILD
Vor dem Haus gegenüber kniet der Punk auf dem verschneiten
Pflaster
und schnürt die Schuhe seiner Tochter zu; sie nutzt die Gelegenheit
und
streichelt seinen Hahnenkamm.
Pétur Gunnarsson, geb. 1947 in
Reykjavík, arbeitet nach einem Studium der Literatur und Philosophie in
Frankreich als Schriftsteller und Übersetzer in Island und gilt als einer der
wichtigsten zeitgenössischen Autoren des Landes. Nach der Veröffentlichung von
Gedichten in Literaturzeitschriften und eines Lyrikbandes im Jahr 1973 erschien
1976 mit punktur punktur komma strik sein erster Roman, Auftakt einer
Tetralogie, die das Heranwachsen des Jungen Andri Haraldsson in den Zeiten des
Umbruchs ab 1968 beschreibt und mit Sagan öll 1985 ihren Abschluss
findet. Die Tetralogie, von der vor allem der erste Roman in Island Kultstatus
genießt, erschien von 2011 bis 2014 unter den Titeln punkt, punkt komma
strich, ich meiner mir mich, Die Rollen und ihre Darsteller sowie
Das vierte Buch über Andri im Weidle Verlag.
Neben seinem eigenen umfangreichen Werk, das auch
Essays, Theaterstücke, Drehbücher und Biografien umfasst, übersetzte Pétur
Gunnarsson u.a. Gustav Flaubert und Marcel Proust. Für seine Übersetzung von „Die Bekenntnisse“ von
Jean-Jacques Rousseau wurde er im Februar 2023 mit dem Isländischen
Übersetzerpreis ausgezeichnet.