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Petrus Akkordeon, Jan Kuhlbrodt: Das Land und ich wir werden

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Kristian Kühn

Petrus Akkordeon, Jan Kuhlbrodt: Das Land und ich wir werden. Texte und Zeichnungen. Berlin (Gans Verlag) 2022. 196 Seiten. 21,90 Euro.

Panoptikum der Weltbilder


Hüftschwünge zum Ruhme der Vernunft könnte man Jan Kuhlbrodts Gedichte der letzten fünf Jahre nennen, die vor geraumer Zeit vom Berliner Gans Verlag, zusammen mit den archetypischen Zeichnungen von Petrus Akkordeon, herausgegeben worden sind. Sie sind in leichter Sprache geschrieben und deshalb, in Anbetracht der Schwere der Gedanken, zwischen Abgeklärtheit, Pathos und Humor changierend. Ein Konzeptbuch über Vergänglichkeit, Sprache und zyklischen Bestand von Untergang und Wiederkehr. Stirb und werde! Und dazwischen die Sprache als wuchernde Ranke. Dabei gelingt es beiden Künstlern, je auf ihre Weise, wie von Zauberhand diese ewig verwurzelten Formen an Denkwürdigkeit sinnlich ruhig und gleichnishaft einzufangen, wobei Akkordeons Hohlformen wie für das Neujahrsblei bestimmt sind, das noch zu gießen ist. Schlingend, suchend, Sinn fordernd, zwei Kapitel allein nur mit Bildern, so werden die zumeist kurzen Texte Kuhlbrodts eingeschlossen, ohne sie zu interpretieren oder ihnen eine Richtung zu weisen. Akkordeon zeichnet die bildliche Matrize von Kuhlbrodts Sprache.

Jedem der sieben Kapitel ist ein und derselbe Vierzeiler vorangestellt, jeweils inhaltlich abweichend, als würde das Rad der Welt kurz angehalten und zeige eines seiner Illusionsbilder. Zum Beispiel:

Das Land wird sterben, aber ich, ich werde leben
durch Straßen ziehn, die längst vergangen sind
vorbei an Männern; Mauern, dort Plakate kleben
die ich nur sehen kann, das Land jedoch ist blind

Dieses an Friedrich Rückerts Gedicht „Chidher“ angelehnte Konzept des ewigen Wanderers, der von Zeiten zu Zeiten durch alles am gleichen Ort vorbeizieht, hat manche mythischen Vorbilder im Orient, aber auch Griechenland, und bedeutet letztlich „Grün“. Vielleicht erinnert man sich an diesen Chidher Grün aus Gustav Meyrinks „Das grüne Gesicht“ – also auch ein Bild der Apokalypse, wenn die Lichter umgestellt werden, und das eine aufwacht und das andere einschläft.

Das erste Kapitel heißt „Auch Freud“ – denn auch Freud hat geweint, als er seine Diagnose erhielt. Im Krankenhaus kommt Elvis zu Besuch, eine der mythischen Figuren, die Kuhlbrodt immer wieder gerne begleiten, und zeigt ihm nach der Diagnose, sei es als Aufheiterung, oder als Provokation, den Hüftschwung. Kuhlbrodt setzt dieses platonische Gleichnis von der Wahr-nehmung in der Höhle des Körpers in eine andauernde Span-nung zur sozialistischen Imagination einer Welt (draußen) aus Licht und Freiheit. Doch solle man sich nicht täuschen, sagt er – vielleicht ist die Sonne nur eine Lampe.

zwar stößt ein harter Strahl dir keck ins Angesicht
jedoch als Sonnenstrahl mein Freundchen ists ein Witz
du sitzt beschissen hinter dieser Bahn aus Stoff
aus deren Löchern dir doch schon die Hoffnung tropfte
wie dieser Schnaps den vorher hier ein andrer soff
und wütend als er es erkannt auf diesen Boden kotzte
(S. 14, Zur Sonne zur Freiheit (eine Etüde))

Die zweite mythische Figur, die ihm ins Krankenhaus zu Besuch kommt, ist Nietzsche. Denn auch er verlor zuerst seinen Glauben, dann die Besinnung. Und was hinter dieser Schwelle von Besinnung steckt, ist Kuhlbrodt nicht mutig genug, in Form einer Flucht aus dem Körper – analog zu den Gefangenen bei Platon – herauszufinden (Klage, S. 17: Ach, ich kann mir Flucht nicht leisten). Oder so, wie Rilke es 1908 in seinem Requiem an den jung aus dem Leben getretenen Dichter Wolf Graf von Kalckreuth schrieb:

Die großen Worte aus den Zeiten, da
Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns.
Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.

Und so wird Kuhlbrodt in dieser seiner Metamorphose unbeweglich, zu einer „Liegenschaft“, wie er sagt. Doch sieht er sehr wohl diesen physischen Mangel als eine Art Traum an (S. 26) – und damit als „Irrtum“.

Gleichnishafte Texte lesen wir, changierend zwischen einem sarkastischen Realismus und sakraler Trauerarbeit. Es ist, als ob es Kuhlbrodt nicht um den Alterungsprozess und ein gebrechliches Schwinden gehe – sondern um einen Kampf gegen innere Aufgabe und Zersetzung. Schwinden wie eine Abblende, aber nicht als aushöhlende Löchrigkeit, nicht als radioaktiven inneren Fallout. Den gilt es durch andere Welten aufzuschütteln. Weil Altern und Verfall schlimmer sind, wenn sie von innen heraus wie ein Zerplatzen sind und nicht von außen her wie Einschränkungen sind. So wird sein Sterbegedicht eins sein, sagt er, das niemand mehr lesen können wird, weil es nur im Innern erscheinen wird und sich dann auflöst. Dies sei die Apokalypse in ihrer entmystifizierten Form. Eine endlose stets von neuem sich stellende Aufgabe, wie Derrida unter dem Begriff Apokalypse angemerkt habe, sagt er.

Verstehe ich das richtig, deuten beide damit an, die Apokalypse finde ununterbrochen statt, für diejenigen, die sie in ihrem Innern wahrnehmen, ist sie Korrespondenz zwischen dem Ich, das gerne Wir wäre und vergeht, und dem Wir, das sich ins Ich zurückzieht und vergeht. Und Kuhlbrodt schließt dieses erste Kapitel mit der Imagination seiner Mutter auf dem Sterbebett, die ihm verbietet, sich in ihren Mutterleib zurückzuziehen.

Nun kommen wir zum großen Les Murray, dem langjährigen Anwärter auf den Nobelpreis für Literatur, den Kuhlbrodt mit dem zweiten Kapitel konnotiert, es heißt „To the Glory of God“ und wurde „Zur Ehre Gottes“ übersetzt. Seitdem Murray „Translations from the Natural World“ geschrieben hatte, widmete er alle seine Bücher dieser Ehre, diesem Ruhm Gottes“, und das in einer Sprache, die verknotet, beult und anschwillt, die funkelt und changiert, wie die Kuhlbrodts ähnlich auch. Der Effekt, schreiben Murray-Experten, kann fast albern sein, zum Lachen, pathetisch, aber humorvoll, wie die Wüsten in Australien, sagt Kuhlbrodt, eine Art Krabbenkork-Syndrom, sagen die Experten zu Murray, indem man sich über sich selbst lustig macht, wohl wissend, dass es sonst die andern tun.

Kuhlbrodt, der bekanntlich ein Dauerleser ist, beginnt dieses Kapitel damit, dass er in seinem Gedicht „Ostern“ am Krankenbett seiner Mutter sitzt und liest und nicht liest, denn die Mehrfachwelten seiner inneren Transzendenz holen ihn ein, als ob alle Bücher, die er liest, sich gleichzeitig öffnen würden, und er sieht sich tausendfach am Krankenbett seiner Mütter lesen und die Stimmen ihn dröhnend jagen, von einer Innenwelt in die andere, das Erhoffte wird zugleich unausweichlich, aber von Welt zu Welt wie eine Wanderung durch die Zeiten des Chidher Grün bei Friedrich Rückert. Wie die Rennwagen, die vorbeibrausen bei der Formel 1 von Shanghai, sagt Kuhlbrodt.

Die Unbeherrschbarkeit der Erinnerungsbilder
ist bedrohlicher als die staubigen Gänge eines Archivs.
Überschwang in der Formulierung
trübt den Wahrheitsgehalt, färbt die Dinge
mit beliebiger Farbe.
(S. 45)
        
Philosophisches Sterben, von dem Platon als Sinn der Philosophie spricht, ist zugleich, wenn man so sagen darf,  platonische Liebe, und es dringen alle Eindrücke seines Schaffens und seines schöpferischen Erlebens auf ihn ein, wie platzende Gedanken, wie flackernde Projektionen einer löcherigen Welt, wie der Käse als Mond bei Edeka, sorry, bei Büchner natürlich. Ja, Woyzeck – und so werden Weltbilder geschöpft und wieder verworfen. Denn der Mensch ist nur der Kleine Bauer, der Große lässt auf sich warten. Wer hat die Geduld, fragt Kuhlbrodt in diesem Kapitel, etwas zu schöpfen und dann beim Vergehen zuzuschauen. (S. 46, Wie nennt man ein Interesse, das sich einer Erfüllung verweigert?)

Nun ganz bei Woyzeck, erinnert sich Kuhlbrodt daran, am meisten gelesen zu haben, als er Soldat war – im Leerlauf der Wache. Und er kommt zu Les Murray, der all seinen Werken dieses „To the Glory of God“ vorgab, was Kuhlbrodt beunruhigt, wenn auch zugleich gewisse Glücksgefühle bei ihm auftauchen, was ihn noch mehr beunruhigt. Und er kommt auf seinen Atheismus zu sprechen, zumindest den, den er während seiner Kindheit als Schüler empfand. Und dass Karl Marx geschrieben habe, Bewusstsein „sei nichts anderes als bewusstes Sein“. Und Kuhlbrodt kommt auf Fernandel zu sprechen und die Filme über Don Camillo und Peppone, die diesen Zwiespalt zwischen Moral und sozialem Verhalten aufzeigen, auf beiden Seiten des Antagonismus zwischen den beiden Welten.

Es folgt eine Art Selbstbekenntnis, und zwar zur Kunst als etwas Sakralem (S. 54 f. „Was für Bach und Augustinus, für Petrarca und Michelangelo selbstverständlich war“) – als eine Art säkularisierter Gottesdienst, als Verehrung des Lebens, der Teilhabe am geistigen Anteil und nicht nur am tierischen, einer Teilhabe an der Liebe, am Schönen und Guten. Doch sei eine Autonomie vom Menschen entdeckt worden, „die Mensch und Werk als unabhängig nebeneinander stellt / und damit deren Produktcharakter verdeckt, und so eben auch den Produktcharakter des Menschen selbst.“ Man wisse, dass man geboren wird, wächst und stirbt – doch sonst wolle das Geschöpf „ganz es selbst“ sein. Das Selbst als „gesellschaftliche Gefasstheit“ suche sich selbst wie einen Zwilling im Diesseits und trenne so das Schöne vom Guten. Weil es im Diesseits das Gute nicht dauerhaft gibt. Kuhlbrodt hält nun die Maske des Murray den Lesenden vor Augen, jener da in den Wüsten Australiens, als sei dieses down under die andere gesuchte Welt, als würde Murray die Moderne retten wollen mit diesem mythischen Spruch, dass alles zum Ruhme Gottes geschehe, auch das, was man selber schafft.  

Als habe sich das Vermächtnis des Abendlandes
in den Wüsten Australiens als feiner Staub niedergeschlagen.
Als wüsste man nur in der Trockenheit wovon Johannes
in der Apokalypse spricht, wenn er von Wasser spricht. Sediment.
(S. 55)
      
Bis zu einem gewissen Grad ist Kuhlbrodt da wíeder bei Karl Marx, denn dessen Kunstverständnis in seiner Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie geht von einer Welt analoger Beschaffenheit aus, wie Kurt Eisner in seinem Essay „Karl Marx‘ Kunstauffassung“ schließt:

„Marx wirft die Frage auf, ob Achilles möglich sei mit Pulver und Blei, die Iliade überhaupt mit der Druckerpresse und der Druckmaschine, ob das Singen und Sagen und damit die notwendigen Bedingungen der epischen Poesie nicht verschwinden müßten mit dem Preßbengel, „Aber die Schwierigkeit“, fügt Marx hinzu, „liegt nicht darin, zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.“ Damit ist in einem klassischen Satz das Eigenrecht der ästhetischen Probleme und die in sich ruhende Selbständigkeit der Kunst erkannt und gegen alle platten Anfechtungen gesichert.“
(März 1913)
 
Und im folgenden Gedicht, das Kuhlbrodt auch für sich „To the Glory of God“ nennt und den Abschluss des zweiten Kapitels bildet, kommt er zum Punkt der heute noch an der Moderne (und Postmoderne) festhaltenden Dichtung:

Kann man glauben, ohne zu glauben, oder wie glaubt man, ohne zu glauben?
Oder glaubt es sich selbst? Was sind die Schöpfungsszenarien?
(S. 56)
   
Das dritte Kapitel heißt folgerichtig „Drüber (Fehlübersetzungen)“ und imaginiert spielerisch animistische und sonstige Eigenschöpfungen: Gott auf einem Zweig einer Fichte, den nächsten Urknall hervorrufend, oder war es nur eine blöde Nachtigall, deren Klang durch die Welten hallt? Schreiben und Schöpfen immer ein Palimpsest, sagt Kuhlbrodt, als gäbe es nur ein Blatt Papier, nur einen Kuhlbrodt, aber immer mit neuen, sich ausbreitenden Imaginationen, Überlegungen und Einfällen.

Schau her und nimm es und bring
zum heißen feuchten Mund des Wirtes
zum Beweise der Wahrheit iss es und sing.
Teil des Ganzen, des Ganzen Teil wird es.
Nimm es mit und leg es zu Füßen
dem Engel. Zwei Silben erhebt
er zum Hall, steigen auf und begrüßen
Gott, der in eisernen Stiefeln doch schwebt.
(S. 71)                

Das nächste Kapitel heißt „Stehende“ und enthält Zeichnungen von Petrus Akkordeon, im Grunde von ein und derselben Großen Mutter oder heilenden Frau, der aufgerichtet Aufrechten, die mit der Natur verschmolzen ist und deren Mund mit gebleckten Zähnen die Vulva ist. Oder sagen wir, Akkordeon sie hypergroß ausgelagert hat. Anhand sehr alter archetypischer Muster, mit Ähre, den Hund gebärend, oder als Totenkopf oder Daunen tropfende Sonne (Holle). Mit apokalyptischem Pferd und als Feuerofen. Akkordeon, in seiner kryptisch matrizenhaften Art kann das fast lehrbuchartig vermitteln.

Danach ein zum Glück kurzes Kapitel von „Coronaübungen“, eher ein Zustandsbericht vergangener Sorgen. Gefolgt von einem Kapitel namens Delfter Blau“, bestehend aus zwei Gedichten, über Tiere und Natur auf Porzellan. Dann ein Kapitel („Liegende“) mit weiteren Bildern von Akkordeon, voller Metamorphosen des Weiblichen, ihrer Verbundenheit mit dem kosmischen Wachsen und Verdorren, alles aus ihr heraus, als sei sie ein Blumentopf. Dann als Letztes das Kapitel „Die letzte Hose“, mit sehr kurzen „Wenn – dann“-Gedichten, Aphorismen zur Philosophie.

Philosophie hilft mir, im lichtleeren Raum, der die Welt ist, zu navigieren.
(S. 176)

Ein kurzweiliges, wenn auch besinnliches Buch, fast eine philosophische Lebenshilfe. Wenn auch ohne Einübungen, aber wie bei Marc Aurel oder Epiktet nachvollziehbare, zum Teil gleichnis-hafte „Selbstbetrachtungen“ mit allem heutigen Zweifel.


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