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Petr Hruška: Der leere Saal

Diskurs/Kommentare > Diskurse
Foto: Martin Straka
Petr Hruška:
Der leere Saal
übersetzt von Patrik Valouch

Niemand kam zur Dichterlesung. Die Organisatorin des Literaturabends stand mit einem verlegenen Lächeln in der Bürotür eines kleinen Klubs in einer kleinen Stadt herum und wiederholte ab und zu nervös: „Warten wir noch, warten wir noch ein wenig.“ Und dann ging sie auf den Gehsteig hinaus, um Ausschau nach Besuchern zu halten und um leise über ihre Situation zu fluchen, in die sie geraten war, denn zum Programm des Kulturklubs gehörte auch Literatur und somit auch Poesie. Sie selbst hatte sich bereits im Voraus für ihre Nichtteilnahme bei der Lesung entschuldigt, da sie zu Hause irgendein Problem mit einem Wasserrohr lösen musste.
     Die beiden warteten. Sie warteten lange. Schließlich teilte die Veranstalterin mit einem entschuldigenden Achselzucken mit, dass wohl nichts anderes übrigbliebe, als die Lesung abzusagen, und schnell fügte sie hinzu, dass das vereinbarte Honorar selbstverständlich ausbezahlt werde. Der Dichter nahm das Honorar an, und als die Frau sich anschickte, die Stühle abzuräumen und das Licht abzuschalten, bat er sie plötzlich, ob nicht alles so bleiben könnte, wie es sei. „Gehen Sie ruhig nach Hause, um Ihr Problem mit dem Rohr zu lösen,“ sprach er mit fester Stimme. „In der Zwischenzeit will ich… die Lesung abhalten.“
       Der Dichter kam von fernher, von Polen. Ich stelle ihn mir vor, wie er dort steht und in die Leere liest. In die Leere? Ich wäre gern bei dieser Lesung dabei, sehr gern wäre ich dabei gewesen, und gleichzeitig weiß ich, dass ich damit die ganze Situation in etwas völlig anderes verwandelt hätte. Ob die Frau bei ihrem Ringen, die Wasserleitung wieder zum Laufen zu bringen, erfolgreich war, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass der Dichter bei seinem Ringen um das Wort erfolgreich war, von seiner Lesung im leeren Saal erzählte er mir: „Nur selten habe ich so viel über meine eigenen Gedichte erfahren als damals. Bei der Lesung habe ich genau gehört, welche Gedichte stärker und welche weniger stark sind. Wo die Stellen am präzisesten sind, wo die Verse aufrecht und unwiderlegbar stehen, wo sie erbeben und wo sie straflos durch andere ersetzt werden könnten. Ich spürte, wo das abwesende Publikum konzentriert und wo es nur aus Höflichkeit schweigt. Und vor allem spürte ich, welche Energie ich in die Gedichte selbst hineingelegt habe, was diese tragen wollen, wofür ich stehe, weil es anders nicht geht, weil es eben so ist. Ich weiß, dass es paradox und lächerlich klingen wird, aber ich spürte etwas von der Gewichtigkeit der Poesie…“
       Ach, wie würde dieser polnische Dichter den vielen Literaturdiskutanten in den Kram passen, die bei uns in den vergangenen Dekaden eine Theorie über das sogenannte dichterische Ghetto breitgetreten haben, in das sich angeblich die Dichter freiwillig begeben, da ihnen nichts an der Öffentlichkeit liegt, ja, die sie sogar verachten, sie schreiben blasiert ihre intimen Unverständlichkeiten und in ihrem elitären Ästhetentum haben sie kein Interesse an der weiteren Verbreitung ihres Wortes. Und siehe da, sie scheinen sich sogar darin zu verlustieren, in einem leeren Saal lesen zu können! Lassen wir sie also vor einem leeren Saal stehen, bis sie es wieder lernen, mit ihrer Stimme von uns allen zu sprechen, darüber, was wir hören wollen, und wie wir uns danach sehnen. In der Zwischenzeit verdienen sie sich nichts anderes als dieses Ghetto. In der heutigen Welt der Reaktionen, Likes (ich weiß, dass mehr als nur ein Dichter sie auf ihren Facebookseiten zählt), Quantifikatoren und Trends sind als alleinige dichterische „Kommu-nikation“ selbst unbrauchbar.
        Als ob der Dichter mit seinem Anspruch auf verborgene Bedeutungen und Schichten, die sich in dem wundersamen Element, das die Menschen gemeinsam haben – nämlich der Sprache , nicht auf das öffentliche Interesse Wert legen würde. Als ob der Sinn eines guten Dichters für das, was der Mensch nicht verstehen kann und was dennoch in der Sprache verborgen liegt und vor Anziehungskraft glüht, bedeuten würde, dass er sich nach Unverständlichkeit sehnt. Als ob jenes konstruierte Ghetto für ihn ein Privilegium und Pläsier darstellt. Ich behaupte das Gegenteil: die Dichter – zumindest jene, die publizieren – setzen sich für ein intensives Interesse und eine Kommunikation ein, eine tiefe im wahrsten Sinne des Wortes. Gerade deshalb können sie nicht die Fülle der Sprache leugnen, in der sich Bedeutungen und Zusammenhänge verbergen, die sich unserer Macht entziehen und uns dennoch wesentlich beeinflussen und an unserem Erleben teilhaben. Das bedeutet freilich, die Nichtteilnahme jener zu riskieren, die sich für eine solche verstörende Fülle der Sprache nicht interessieren, aber dies bedeutet nicht, sich über diese Tatsache zu freuen. Es ist nur ein Bestandteil des extremen sprachlichen Abenteuers, das den Dichter manchmal in den leeren Saal führt. Er muss es annehmen. Und in ihm bestehen. Der, der mit seiner Sprache nicht vor einem leeren Saal besteht, verdient sich auch keinen vollen Saal.
         Als ich unlängst diese Episode über das redliche Ringen mit den Worten in einem leeren Saal an einem Tisch zum besten gab, an dem einige Literaturskeptiker der Gegenwart versammelt waren, interessierte diese nur eines – wie viel der polnische Dichter für seine unnötige Leistung bekommen hatte.

Der Übersetzer dankt Klaus Anders herzlich für die kritische Durchsicht.

Petr Hruška (*1964, Ostrava, dt. Ostrau) zählt zu den bedeutendsten tschechischen Lyrikern der Gegenwart. Auf Deutsch sind zwei Gedichtbände erschienen: Jarek anrufen (Pongratz, 2008; übersetzt von Rainer Kunze) und Irgendwohin nach Haus (Edition Azur, 2019; übersetzt von Martina Lisa). Ebenfalls ist eine Auswahl von Gedichten in den Signaturen erschienen (Lyrik heute).
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