Peter Ruben im Gespräch mit Michael Grabek, Teil 2: Nachgespräch im Anschluss an die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990
Dialoge
Peter Ruben: Philosophische Schriften. Online-Edition peter-ruben.de, herausgegeben von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke. Berlin 2017 © Peter Ruben. Nähere Angaben zum Copyright im Impressum
Peter Ruben
Michael Grabek
Nach dem »rohen Kommunismus«
Wir hatten im November ’89 über die mögliche Wiederaufnahme der revolutionären Traditionen von 1789 und 1917 gesprochen. Etabliert sich nun auch in der DDR mit der uneingeschränkten Reinstallierung des Privateigentums (Grund und Boden, Banken inbegriffen) erneut die »bürgerliche« Revolution? Der neue DDR-Wirtschaftsminister erklärt uns ja, daß die Unterscheidung Staats- und Volkseigentum eine für ihn praktisch irrelevante, belanglose »philosophische Frage« sei...
Da kann ich nur die Gegenfrage stellen: Was verstehst Du unter bürgerlicher Verfassung. Gesellschaft oder Revolution, die wir nun übernehmen oder zu der wir »zurückkehren«? An dieser Stelle habe ich meine Zweifel und kann zunächst nur sagen: Klar und entschieden ist, wir übernehmen die »soziale Marktwirtschaft« der BRD mit allen rechtlichen Voraussetzungen. Es ging um die schnelle Herstellung der Rechtsverhältnisse, die diese Marktwirtschaft überhaupt ermöglichen, aber ist die »soziale Marktwirtschaft« denn wirklich die Realisation der bürgerlichen Revolution? Und wenn ja, in welchem Sinne? Die soziale Marktwirtschaft ist theoretisch konzipiert worden in der Freiburger Ökonomen-Schule, also unter der Leitung von Walter Eucken. Andere haben dann nach dem Zweiten Weltkrieg expressis verbis ausgeführt, was sie darunter verstehen. »Soziale Marktwirtschaft« ist theoretisch konstituiert worden, als Antwort auf die von Eucken sogenannte Zentralverwaltungswirtschaft in der Sowjetunion und in Hitler-Deutschland. Das ist das eine – und das andere ist, zugleich wurde sie ausgearbeitet als Antwort auf den Manchester-Liberalismus. Die Grundvorstellung, um die es dabei geht, ist die, dass du die Wirtschaft über den Marktmechanismus in einer solchen Leistungsfähigkeit hältst, dass die Sozialpolitik auch genügend Substanz hat, um verteilen zu können. Und nun wäre zu bedenken, dass die BRD sich qua Verfassung Sozialstaat nennt und wir uns sozialistischer Staat nannten. Das sind sozusagen agitatorische Termini. Was wird darunter eigentlich verstanden? Und derart in Rechnung gestellt, wieviel Staatseigentum in den westlichen Ländern da ist (in der BRD wird um die 50 % des Bruttosozialprodukts über den Staatshaushalt realisiert), kann gar nicht so einfach gesagt werden, dass es sich um das Ergebnis der bürgerlichen Revolution handelt. Es ist eine Antwort auf die Ergebnisse der Oktoberrevolution im Interesse der Erhaltung des Privateigentums sehr wohl, aber unter der Bedingung, dass dieses Privateigentum überhaupt dominant in assoziierter Form auftritt, als Aktiengesellschaft bzw. überhaupt als Gesellschaftskapital. Und ob das nun noch im klassischen Sinne bürgerlich ist, ist genau das wirkliche theoretische Problem, das wir vor uns haben.
Nun befinden wir uns aber noch immer in der diffusen Situation, wo niemand so recht sagen kann, was Kapital ist. Gewisse Linke (große Teile der PDS eingeschlossen) attackieren den Kapitalismus weiterhin unter traditionellen ideologischen Voraussetzungen, andere reden plötzlich vom Kapitalbedarf, ohne die simple Unterscheidung von Geld und Kapital zu treffen, dass Geldbedarf längst nicht Kapital zur Konsequenz hat. Wenn heute also in der DDR auf der gesetzlichen Basis von 1937 Aktiengesellschaften gebildet werden sollen, stellt sich für mich das Problem ihrer genauen historischen Identifikation. Was ist – eingedenk Marx' konzeptionell uneingelöster Formulierung, daß die Aktiengesellschaft als Aufhebung des Kapitalverhältnisses auf dem Standpunkt des Kapitals zu begreifen wäre – eine Aktiengesellschaft und welche Bedeutung hätte sie in sozialistischer Perspektive?
Ich halte am Marxschen Kapital-Begriff fest, kenne auch keinen anderen vernünftigen. Und dieser Kapital-Begriff besteht in folgenden Bestimmungen: Ich, die Person, bilde als Privateigner von Geld Kapital dadurch, dass ich mein liquides Vermögen in Arbeitsbedingungen anlege, also mein Geld auf besondere Art und Weise ausgebe. Ich kaufe oder miete Grund und Boden, kaufe Arbeitsmittel und schließe einen – ich nenne es mal so – Mietvertrag mit dem Arbeiter, was in der deutschen Sprache auch dingen heißt. – Der Arbeiter verdingt sich bei mir, verkauft nicht seine Arbeitskraft. Die ist überhaupt nicht kaufbar. Das ist in der Marxschen Theorie sicher eine Fehlannahme ... – Im Arbeitsvertrag schließe ich mit dem Arbeiter in Wahrheit ein Kredit-Verhältnis so ab, dass ich ihm einen Vorschuss, genannt Lohn, gewähre, den er mit lebendiger Arbeit bei mir begleicht. Unter dieser Voraussetzung ist das Kapital wirklich als eine Schuld mir gegenüber und ökonomisch im Rahmen der ,Werttheorie, streng gesprochen, negativer Wert. Und das wird von einem Kapitalisten in seiner Buchhaltung auch ganz präzise unter dem Begriff des Debets, der Schuld, notiert. Das heißt, Kapital ist ausgegebenes Geld und steht mir reell (mir, dem Kapitalisten) als Gesamtheit aller Produktionsbedingungen gegenüber, die ich organisieren muss, um auf eigene Rechnung zu produzieren. Und dann fungiert das Kapital als Standard des Erfolgs, Maßstab des Erfolgs meiner eigenen Wirtschaftstätigkeit. Mit anderen Worten, der klassische Kapitalist ist der persönliche Produzent, der frei ist, alle Bedingungen der Produktion zu mieten oder zu kaufen.
Kapitalismus im strengen Sinne bedeutet daher eine Wirtschaftsordnung, in der die persönliche Entscheidung über die Kombination der Produktionsfaktoren – so würde ein Ökonom reden – realisiert wird. Die Gemeinde oder die Gemeinschaft hat darauf keinen Einfluss. Und wenn ich die Marxsche Auffassung von Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts voraussetze, wonach die Aktiengesellschaft die Aufhebung des Kapitals auf dem Standpunkt des Kapitals ist, dann handelt es sich darum, dass die Aktiengesellschaft die Aufhebung der Souveränität der Person bedeutet. Es wird nun mit Hilfe des Bankensystems ein Unternehmen dadurch realisiert, dass es an die Börse geht, Aktien veräußert und mithin versucht, Geld aufzutreiben, um es im Rahmen der Firma, wie man dann natürlich sagen wird, zu »kapitalisieren«. Die Situation ist dann so, dass du einerseits die Aktiengesellschaft als eine Assoziation von Teileignern hast, die einen Aufsichtsrat wählen, und auf der anderen Seite das industrielle oder Handelsunternehmen, das mit einem leitenden Vorstand die eigentliche Produktionsstrategie realisiert. Mit dem Übergang in die moderne Aktiengesellschaft hast du plötzlich in der Tat die Trennung von Leitung und Organisation der Produktion einerseits und Artikulation des Eigentümer-Interesses an der Nutzung des Vermögens, was in Erscheinung tritt mit Dividenden-Ausschüttung. Diese Situation ist ja nun für das 20. Jahrhundert durchgängig durchgesetzt worden und bedeutet, dass du ausgehend von der bürgerlichen Person oder Person des Kapitalisten zu einer Assoziierungs-tendenz gekommen bist, indem große Mengen von Leuten Aktien eines Unternehmens halten (bei der Deutschen Bank wohl 300 000 Aktionäre). Die an die Person gebundene klassi-sche Kapitalexistenz ist seit Ende des vorigen Jahrhunderts weitgehend aufgehoben. Was das eigentlich sozial-theoretisch bedeutet, bis hin zur Transzendierung der nationalen Schranken, ist im Sinne der Marxschen Überlegungen bisher überhaupt nicht weitergeführt worden, sondern durch die allgemeine Imperialismus-Theorie und die Vorstellung vom so-genannten staatsmonopolistischen Kapitalismus u.ä. als sozialtheoretisches Problem völlig verschüttet worden.
Das heißt, wir wissen immer noch nicht, was eine Aktiengesellschaft für den Sozialismus bedeuten würde?
Nein, dies halte ich für eine absolut offene Frage. Es steckt darin eine Sozialisierungstendenz im klassischen Sinne, insofern das Wort societas überhaupt eine Bedeutung hat. Assoziatives Zusammenschließen von Personen, nebst ihrer frei verfügbaren Geldmittel, um große Investitionsmengen zusammenzubringen (im 19. Jahrhundert z.B. die Chemie- und Elektro-Industrie). Die klassische Sozialismus- Vorstellung ist immer davon ausgegangen, dass die Sozialisierung mit den Mitteln des Staates geschieht. Die kommunistische Soziali-sierungsvorstellung ging davon aus, dass der Sozialismus ohne Enteignung nicht stattfinden kann, so dass der Staat zugleich der Enteigner ist. Dies waren auch schon die Marxschen Voraussetzungen, »Expropriation der Expropriateure«, während die Sozialdemokraten durchaus bereit waren, Entschädigung zu zahlen und dann auch nur bestimmte Zweige der Volkswirtschaft zu sozialisieren und gemischte Unternehmen zuzulassen u. ä. (siehe die Feststellungen der Sozialisierungskommission von 1918/19 bis 1923). Aber dass eine Sozialisierung, eine Vergesellschaftung auch von den Individuen ausgehen kann, indem sie sich nämlich einfach zu Gesellschaften zusammenschließen, die schließlich und endlich auch den nationalen Rahmen überschreiten, ist bis heute überhaupt nicht thematisiert worden, in keiner sozialistischen Vorstellungswelt. Die Aktiengesellschaft wird – so wie Du es in der Frage angedeutet hast – als ganz gewöhnliches kapitalistisches Unternehmen behandelt, womit sich die Schwierigkeit ergibt, wirtschaftliche Rationalität mit Kapitalismus zu identifizieren. Dann bedeutet jeder Angriff auf den Kapitalismus natürlich einen Angriff auf wirtschaftliche Rationalität und kann kein anderes Resultat haben, als das, was wir nun im Herbst ’89 erfahren haben. Der »rohe Kommunismus« war der Angriff auf die wirtschaftliche Rationalität.
Worin bestanden Deiner Auffassung nach die Illusionen im Herbst '89?
Wenn Du mich ganz persönlich fragst ...
Persönlich und generell. Als Stichworte hier nur Unterschätzung des Widerstands und Über-schätzung der Fähigkeiten für die Erneuerung ... Aus dem letzten Interview ist mir ein Satz (der unveröffentlicht blieb) noch sehr präsent: »Niemand von Washington bis Moskau hat ein Interesse an der Wiedervereinigung der Deutschen!«
Ja, diesen Satz würde ich schon aufrechterhalten. Das ist mit Sicherheit nach wie vor wahr. Nur, das verrückte Phänomen, das eingetreten ist, ist gleichzeitig, dass niemand sich gegen die deutsche Einheit – nicht Vereinigung, dies ist noch etwas anderes – stellt. Das ist eine verblüffende, für mich überraschende Erfahrung seit dem November ’89. Ich ging davon aus, dass alle Staaten um Deutschland herum nicht bereit sind, die deutsche Einheit anzunehmen, weder die Franzosen noch die Dänen, die Briten und schon gar nicht die östlich von uns wohnenden Völker. Aber es stellt sich etwas ganz Überraschendes heraus. Der ungarische Außenminister äußerte den Gedanken, »er könne sich eine NATO-Mitgliedschaft Ungarns vorstellen«. Danach kam die Umwälzung in der ČSSR (ČSFR), und der neue Präsident akzeptiert die These von der Neutralität nicht, ebenso in Warschau. Da war mir klar, dass unsere alten osteuropäischen Verbündeten Ungarn, Polen und die ČSSR (ČSFR) die DDR lieber in Einheit mit der BRD insgesamt in der NATO sehen, als die Spaltung Deutschlands aufrechtzuerhalten. Und dies mit einer ganz einfachen Rechnung: Die deutsche Einheit garantiert ihnen die Möglichkeit einer Distanz zur Sowjetunion, und wenn die Deutschen zusammen in der NATO sind, dann garantiert ihnen die NATO, dass die Deutschen nicht erneut mit der Sowjetunion einen besonderen Pakt schließen. Deutsche Spaltung heißt für sie a priori russische Dominanz, und die wollen sie loswerden. Hinzu kommt, dass ich das Interesse der Sowjetunion an der Erhaltung des Status quo offenbar überschätzt habe. Das heißt, die inneren Schwierigkeiten müssen so groß sein, dass offenbar die sowjetische Generalität beschlossen hat, zu meinen, dass sie die Verteidigung der Sowjetunion auch ohne die anderen osteuropäischen Länder realisieren kann ... Als Modrow aus Moskau wiederkam und plötzlich am 1. Februar erklärte, er sei für »Deutschland einig Vaterland«, da konnte dies überhaupt nichts anderes bedeuten, als dass Gorbatschow bereit ist, auch auf die DDR zu verzichten. Und damit war sozusagen eine der Randbedingungen vom November im Laufe von drei Monaten gefallen. Ich hatte die außenpolitische Seite für stabiler gehalten, als sie sich jetzt erweist.
Das Zweite, was mich wirklich überrascht hat, war das Verhalten unserer Bauernschaft. Ich hatte angenommen, dass die DDR-Bauern, die ja für ost- und mitteleuropäische Verhältnisse eine ganz gute Landwirtschaft realisieren, größeren politischen Instinkt für die Bedingungen der Verteidigung der Genossenschaften gehabt hätten. Die wollen sie ja behalten, insbesondere auch die Frauen. Und dennoch ist es so, dass die Masse der Bauernschaft nicht die Bauernpartei gewählt hat, die für die Verteidigung der Genossenschaften eingetreten ist, sondern sie haben CDU gewählt. Und das bedeutet – ich sag’s mal ganz brutal –, dass das Interesse der Bauern (und auch der Arbeiter) an der Erhaltung gewisser struktureller Bedingungen unserer Eigentums-situation weitaus geringer ist als das Interesse an der produktiven Reorganisation der Produktionsbedingungen in diesem Land. Und das sehen sie nur realisiert mit schnellstmöglicher Investition von DM, sowohl in die Infrastruktur als auch in die Industrie usw. Die Arbeiter haben das Kapital gewählt!
Aber ist dies verwunderlich? Ich meine, wir hatten ja diese Verfassung des Eigentums als Staatseigentum und eben nicht als Volkseigentum im dem Sinne, dass der Arbeiter die reale Eigentümer-Erfahrung gemacht hätte. Für den Bauern, der seine LPG zu verteidigen hat, mag die Begründung gelten, aber für den Industriearbeiter? Ist es nicht vielmehr so, dass die Eigentumsfrage für ihn gar keine Frage mehr war?
Ich bin mir da nicht ganz sicher und denke, dass noch etwas anderes hereinspielt. Im November hatte ich fromm angenommen, dass Modrow im Unterschied zu Gorbatschow doch mehr ökonomische Kompetenz einbringt, als promovierter Ökonom, und er holte Christa Luft, Leiterin der Hochschule für Ökonomie usw. Aber im Nachhinein muss ich doch die Schwäche in der Bereitschaft zur praktischen Aktion konstatieren. Ich habe erst hinterher mitbekommen, dass die Leute sehr schnell gearbeitet hatten, um ein Konzept für den Subventionsabbau zu realisieren, also produktgebundene Subventionen (insbesondere die 33 Milliarden bei Lebensmitteln) abzubauen und auf Löhne, Gehälter und sonstige personengebundene Ausgaben zu übertragen. Die Durcharbeitung und Berechnung war, soweit ich weiß, bis Januar fertig und perfekt. Aber die Regierung hat nichts getan.
Basisdemokratische Scheu vor einem zu harten Schnitt?
Obwohl die originäre Entscheidung der Modrow-Regierung wirklich auf die Ökonomie orientiert war, ist sie durch die praktische Entwicklung doch politisch involviert worden, nämlich hauptsächlich durch diese verdammte Stasi-Geschichte. Modrows Einlassen auf ein Amt für Nationale Sicherheit bringt ihn dominant in politische Sachzwänge (siehe die monatelangen Diskussionen), wo es eigentlich um ökonomische Entscheidungen ging. Die Regierung wurde dadurch dauernd geschwächt. Das Zweite war, sie beginnen den Subventionsabbau ausgerechnet bei der Kinderbekleidung, was sofort Proteste provoziert. Das heißt, sie haben eigentlich nur furchtsam reagiert, statt genau an der zentralen Stelle (die 33 Milliarden Lebensmittel-subventionen machen ja die Hälfte aller Subventionen aus) anzupacken und darüber eine öffentliche Diskussion zu initiieren. Anstatt mit der Bevölkerung über Subventionsabbau zu reden, redet die Bevölkerung, reden Teile der Bevölkerung mit Modrow über die Stasi. Das schwächt die Regierung. Und diese Schwäche hat zugleich dazu geführt, dass sie gezwungen ist, den Runden Tisch sukzessive als zweite Volkskammer anzuerkennen. Am Ende steht dann eine Koalitionsregierung von 13 Parteien, wo schließlich (so erklärt Christa Luft) keine Stimmenmehrheit mehr für den Subventionsabbau vorhanden war. Natürlich waren Modrow und die anderen basisdemokratisch orientiert, aber meiner Ansicht nach hat die Regierung durch eine halbherzige, praktisch inkompetente ökonomische Politik das Vertrauen bei der Bevölkerung, das noch im November da war, verscherzt. Die Reformbereitschaft war doch da. Die Haltung, die im März effektiv realisiert worden ist – die Arbeiter wählen CDU, damit das Geld kommt, investiert werden kann etc.–, war doch im November längst nicht so unmittelbar klar. Die wirkliche Wende geschah diesbezüglich Mitte Dezember. Und zwar direkt im Zusammenhang mit der Stasi-Nasi-Geschichte. Da begannen die konservativen Demonstrationen in Leipzig.
Du unterstellst hier einen notwendigen und hinreichenden Konsens für die ökonomi-schen Entscheidungen hinsichtlich der Subventionen, der wirklichen Realisierung des Volks-eigentums, der schrittweisen Etablierung von Marktverhältnissen usw. Vorausgesetzt, diese ökonomischen Fragen wären zu jener Zeit in aller Entschiedenheit gestellt worden, wäre da dieser Konsens überhaupt vorhanden gewesen? Oder wären nicht vielmehr sofort auch hier die Divergenzen aufgebrochen?
Also, das ist eine Sache, die ich nicht so ohne weiteres beurteilen kann. Ich würde nur folgendes sagen: Die Regierung steuert zwar eine Wirtschaftsreform an, betreibt mit großem Aufwand die Reduktion der Kennziffern, so dass statt 200 im November wohl bloß noch 100 im Dezember abzurechnen waren, doch war hier klar, dass das keine Reform sein konnte. Dies wurde dann deutlich. Und ich halte es schon für wahrscheinlich, dass genau diese Erfahrung die Leute erst recht in die Gegenposition getrieben hat. Was hätte passieren müssen? 1. Sofortige Liquidation aller Beschränkungen für die kleine und mittel-ständische Industrie. Das heißt, Proklamation – und zwar mit vollem propagandistischem Einsatz – der Gewerbefreiheit und nicht die Fortführung der bürokratischen Schurigeleien, die sie dauernd hemmten.
Modrows »sozialistischer Unternehmer« ist also eine Phrase geblieben?
... ist praktisch eine Phrase geblieben. Bis heute müssen die Leute, die ein Gewerbe betreiben wollen, von Pontius zu Pilatus laufen ... und 2. hätte die Beseitigung der staatlichen Naturalplanung wirklich als Ziel formuliert werden müssen. Der Übergang zur Wertplanung war ja in der Sowjetunion seit 1986 längst ausgedrückt und proklamiert worden. Im Nachhinein stellt es sich jetzt so dar, dass die Annahme einer Reform mit Bezug auf die sozialen Bedingungen möglich, aber in Bezug auf die tatsächlich agierenden Personen wohl falsch war. Das heißt mit anderen Worten: Diese alte Parteiführung hat ein solches Desaster in den zur Verfügung stehenden Kompetenzen angerichtet, dass sie überhaupt nicht mehr vorhanden waren.
¹ Das Gespräch fand nach den DDR-Wahlen vom 18. März 1990 statt und bildet die Fortsetzung des Interviews vom 18. November 1989. Siehe Argument 180, 204-212.
40,8% der Stimmen für die CDU, 21,9% für die SPD, 16,4% für die PDS – in Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften Nr. 180, 32. Jg. (1990) S. 204-212 sowie Nr. 182, 32. Jg.(1990) S. 582-586. Für diese Publikation wurde der Text von Peter Ruben nach der Mitschrift des Interviews erneut durch-gesehen, um wichtige Textpassagen erweitert und von den Herausgebern mit zusätzlichen Anmerkungen zu erwähnten Personen versehen. (Anmerkung der Herausgeber)