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Peter Ruben: 10 Jahre danach

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay

Peter Ruben: Philosophische Schriften. Online-Edition peter-ruben.de, herausgegeben von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke. Berlin 2017 © Peter Ruben. Nähere Angaben zum Copyright im Impressum


Peter Ruben

10 Jahre danach¹

Bemerkungen zum Thema Später Aufbruch – frühes Ende²


Vorbemerkungen

Die Veranstalter haben die beabsichtigte Bilanz unter die Frage „Später Aufbruch – Frühes Ende?" gestellt, ohne ihren Inhalt stillschweigend als positiv gemeinte Antwort schon vorauszusetzen. Daher darf ich vermuten, diese Frage habe nur den Sinn, in einer griffigen Kurzfassung für die Öffentlichkeit die ungefähre Bestimmtheit des Problems zu avisieren, mit dem wir uns beschäftigen wollen. Unter Gesichtspunkten der objektiven Historiographie ist solche Frage natürlich sinnlos. Ein geschichtlicher Vorgang verläuft zu bestimmter Zeit. Und wer ihn problematisiert, hat in seinem Anfang wie in seiner Dauer vorgegebene Daten, die natürlich Gegenstand der Erklärung sein können. Es ist sinnvoll, die Frage zu erwägen, ob der gemeinte Aufbruch etwa früher hätte auftreten, das entsprechende Ende noch etwas verzögert werden können. Sollte die Antwort positiv sein, wäre dennoch kein historiographisches Urteil der Art: „die Wende des Jahres 1989 in der DDR begann zu spät und endete zu früh", sinnvoll zu formulieren. Wir hätten es dann nur mit einer anderen Dauer, einem anderen Anfang zu tun – und wären um nichts wissender. Ich vermute, daß die Veranstalter „die Ideen des Herbstes 1989" im Vorgang der Wende eingebettet sehen, diese „Ideen", wie in der Einladung geschrieben steht, durch „die Macht des Faktischen" zum Schein einer Illusion herabgesetzt erkennen und nun gern wissen möchten, ob so etwas wie „die bleibende und uneingelöste Aktualität der im Herbst 1989 entwickelten Ideen" feststellbar sei. So kann ich mir gut vorstellen, daß die Imagination auftritt, bei längerer Dauer der Wende hätten „die Ideen des Herbstes 1989" vielleicht mehr Substanz und viel mehr Einbildungskraft ausgebildet, und vielleicht daher die Frage „Später Aufbruch – Frühes Ende?"
    Gegen diese Sicht kann ich nur mit der Gegenfrage operieren: Von welchen „Ideen des Herbstes 1989" ist eigentlich die Rede? Ich bin unfähig, dergleichen Ideen wahrzunehmen. Die in der DDR-Wende artikulierten Ideen waren keine anderen als die von 1789. „Freiheit. Gleichheit, Brüderlichkeit!" konnte man auf selbstgefertigten Plakaten während der vielen Demonstrationen lesen. Es ging um gar nichts anderes als um die Wiederherstellung (Restauration) des persönlichen Privateigentums und damit um die Wiederbelebung der in der DDR 1948 bis 1950 sozusagen eingefrorenen Parteiendemokratie, angereichert durch westdeutsche Mitbeteiligung. Es ging um die Liquidation des Erbes der kommunistischen Herrschaft in Europa, die sich selbst in die Lage gebracht hatte, den Gang zum Konkursrichter antreten zu müssen. Wenn die bekannte „Allianz für Deutschland" mit der Forderung „Nie wieder Sozialismus!" in den Wahlkampf zum 18. März 1990 eintrat, so wird sich doch wohl niemand finden, der diese Losung für den Ausdruck einer Idee hält.
    Der „Demokratische Aufbruch" folgte auf seinem Gründungsparteitag am 17. Dezember 1989 der Feststellung eines seiner Delegierten: „Jetzt ist alles zusammen, die Forde-rung nach der Einstaatlichkeit und die Forderung nach einem wirtschaftlichen System, wie wir es in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend verwirklicht sehen. Damit ist für uns, denke ich, eine klare Entscheidung gefallen. Wir brauchen uns keinen Kopf mehr zu machen darüber, wie wir zu einem eigenständigen Weg finden. Wenn Sie das wollen, dann stimmen Sie dieser Vorlage zu." Und die Delegierten stimmten dem hier zur Debatte stehenden Zusatzantrag, das Recht zur deutschen Einheit in die Verfassung der DDR auf-zunehmen, mit großer Mehrheit bei 35 Gegenstimmen und 21 Enthaltungen zu.³ Natürlich ist die zitierte Feststellung ein Indiz des Umstands, daß die DDR-Wende in großen Teilen ihrer Akteure durch keinerlei Hauch von irgendwelchen „Ideen des Herbstes 1989" auch nur angekränkelt gewesen ist. Wer sich „keinen Kopf mehr zu machen" wünscht, weiß sich jenseits jeglicher Idee.
    Die Öffnung der Mauer am 9. November 1989, von neugierigen Ostberlinern, die Schabowskis Mitteilungen prüfen wollten, bei den Grenzsoldaten an der Bornholmer Straße mit Schulter-klopfen erzwungen, hat den sinnlich-gegenständlichen Vergleich der Lebensstandards in den beiden deutschen Staaten für die ostdeutsche Bevölkerung nach der Unkenntnis von einer Generationsdauer ermöglicht und damit die Entscheidung der Ostdeutschen: Wir wollen materiell ebenso leben wie unsere westdeutschen Schwestern und Brüder! Wir sehen 45 Jahre nach Kriegsende nicht mehr ein, diejenigen Deutschen sein zu sollen, die wesentlich mehr zu zahlen haben als die westlich der DDR-Grenze lebenden. Otto Schily, der dem DDR-Lebensstandard nie unterworfen war, hat diese Ent-scheidung mit dem Vorzeigen der Banane versinnbildlicht. Was immer man davon halten mag, sicher ist, daß niemand mit einer solchen Frucht irgendwelche Ideen assoziiert, auch nicht die vermeintlichen des Herbstes von 1989. Und insofern ist die Banane rechtens demonstriert worden.

Die Wende als Bilanz des Kommunismus

Ich meine, daß die heute und hier auf unserer Konferenz zu debattierende „Zeitenwende" in Wahrheit die Auflösung der „Diktatur des Proletariats" in der Deutung Lenins und der Komintern sowie in der Begründung der Sowjetmacht im November 1917 ist und die Dauer von drei Jahren (1989–1991) umfaßt hat. Die Abschiedsrede Gorbatschows als Präsident der UdSSR und das Einholen der Roten Fahne auf dem Kreml markieren das wirkliche Ende des Vorgangs, der zur Debatte steht. Die Auflösung der DDR ist darin nur ein Moment. Sie hat gar keine selbständige Bedeutung. Dieser Staat hat fast 41 Jahre demonstriert, wie sich deutsche Kommunisten in Abhängigkeit von ihrem russischen Bundesgenossen und Lehrherrn die „von Ausbeutung freie“ menschliche Gemeinschaft vorstellen. Er hat mit der Mauer bewiesen, daß die deutsche Nation durch ihn nicht auflösbar ist, und er nicht imstande, die kommunistische Produktionsweise in freier Konkurrenz mit der des persönlichen Produktivvermögens siegreich werden zu lassen. Der Zusammenbruch des europäischen Kommunismus liegt in der Depressionsphase des 4. Kon-dratieff (diese Phase rechne ich vom Juli 1980 bis zum Frühjahr 1994) und somit weder zu spät noch zu früh, sondern wirtschaftsgeschichtlich wunderbar zeitlich korrekt. (Depressionsphasen sind gerade Dauern, in denen nicht mehr konkurrenzfähige Unternehmungen aus dem sozialen Wettbewerb ausscheiden.)
    Nun muß ich des weiteren allerdings feststellen: Zehn Jahre nach der Wende von 1989/91 ist meine Unsicherheit und Vorstellung widerstreitender Urteile mit Bezug auf das in ihr verblichene kommunistische System in Mittel- und Osteuropa nicht geringer geworden, als sie es zuvor waren. Peter Scheibert hat für sich ihren Kern 1984 auf die folgende Feststellung gebracht: „Wenn wir die Revolution von 1917 in erster Linie als Coup zur Machtergreifung und Machterhaltung betrachten, so erfassen wir ihre unterliegenden Motive zureichender, als wenn wir jene als Verwirklichung oder Verfehlung eines ideologischen Telos zu verstehen versuchen." Ich gestehe in meiner Deutung des Scheibertschen Ansatzes, den Coup-Charakter nicht wahrnehmen zu können, aber die Bereitschaft zu haben, über die möglichen Unterscheidungen des fraglichen Vorgangs zu räsonieren: War er ein coup de maître (ein Meisterstück), ein coup d’État (ein Staatsstreich), ein coup du sort (ein Schicksalsschlag) oder noch anderes?
    Ich weiß natürlich nicht, was Scheibert mit dem Ausdruck ‚ideologisches Telos’ genau avisiert, aber ich meine schon, daß Trotzkis Befehl Nr. 1 „Der Petrograder Sowjet ist in Gefahr“ sehr wohl als Anfangsaktion im Prozeß der Realisierung des kommunistischen Ideals zu denken ist. Unter Voraussetzung hegelianischer Geschichtsauffassung versteht sich von selbst, daß jede Verwirklichung oder Verfehlung eines ideologischen Telos’ (also jede Idealrealisierung) als geschichtlich bestimmte Handlungsfolge diesem oder jenem als Coup einer Gang erscheinen mag, die schon lange auf die Schmalztöpfe der politischen Macht lauert. Aber dies als wesentliche Erscheinung zu nehmen hieße, in der sozialen Realität keinen Grund für kommunistisch artikulierte Empörung zu sehen. Das, so meine ich angesichts der zweieinhalb-jahrtausendjährigen Geschichte des europäischen Kommunismus, ist eine gar zu bewußt- und gedankenlose Reflexion.      Der Kommunismus ist keine historische Aberration, kein „Coup zur Machtergreifung und Machterhaltung“ einer einkommensgierigen Gang, sondern – wie immer er sich ideologisch artikulieren mag – der beständige Protest gegen das persönliche wie gegen das Klasseneigentum, das im Gegensatz von Reichtum und Armut seinen – doch gewiß nicht selten empörenden – Ausdruck hat (alle Denunziation des ‚Neides’, gegenwärtig flott neoliberal dahergeplaudert, hilft hier nichts). Der Kommunismus besteht nicht als mentales Gebräu von abenteuernden Banden, denen es nach Macht gelüstet, sondern als Ausdruck der sozialen Frage. Er ist die Protestation gegen die soziale Ungleichheit, insbesondere gegen die zum Teil aberwitzigen Vermögens-unterschiede im System des Privateigentums, die Forderung nach der sozialen Gleichheit, die mit Herstellung des Gemeineigentums aller als Glieder derselben Gemeinschaft gewiß doch hergestellt wird. Die Kommunisten können „ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen", sagen Marx und Engels zu Recht im ‚Kommunistischen Manifest’. Und diese Aufhebung des Privateigentums zum (nationalen) Gemeineigentum, realisiert durch den von den kommunistischen Parteien beherrschten Staat, ist der Sachverhalt, der in der Wende 1989/91 aufgelöst worden ist.
    Die soziale Gleichheit selbst ist natürlich keine Phantasie, sondern wirkliches Moment des ökonomischen Austauschs, doch gleichgültig gegen den Umstand, ob jemand etwas zu tauschen hat oder nicht. Die nichts haben, daher auf die Hilfe der Habenden angewiesen sind, bringen die soziale Frage zur unangenehmen Erscheinung. Aber es ist das soziale System selbst, das sie konstituiert. Indem es die Konkurrenz der verschiedenen Produktivvermögen wesentlich einschließt, setzt es die Vermögenslosigkeit der Verlierer hier und die Bereicherung der Gewinner da. Für dieses Resultat machen die Kommunisten das persönliche Privateigentum verantwortlich. Und daher lautet die kommunistische Antwort auf die soziale Frage: Herstellung des Gemeineigentums am Produktivvermögen! So ist in der Tat ein Ziel, ein Telos präsentiert, dem die Unrealisierbarkeit keineswegs unmittelbar einsehbar eingeschrieben ist. Vielmehr ist die Annahme des Gemeineigentums rein logisch mit dem Ausschluß der Vermögenslosigkeit gekoppelt, so daß Kommunismus und soziale Armut sich wechselseitig auszuschließen scheinen, kommunistische Armut bestenfalls durch den zu behebenden Rückstand der Produktivkräfte auftreten kann.
    Wer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit will, also die bürgerliche Gesellschaft (ob sie nun ‚Zivilgesellschaft’ genannt wird oder anders, ist gleichgültig), der darf sich nicht wundern, wenn die Habenichtse dieser Gesellschaft die Gleichheit fixieren und via Gemeineigentum verwirklicht wünschen. Der Kommunismus ist das Echo der bürgerlichen Gesellschaft selbst, allgemeiner: der negative Widerschein der Gesellschaft überhaupt, d. h. des Tauschsystems der Sondereigentümer, in dem Eigentumslose nicht auftreten können, daher nicht zur Gesellschaft gehören. Die Gesellschaft des äquivalenten Austauschs und somit des Privateigentums wird den Kommunismus nie los, weil er ihre eigene Negation ist, der Mephisto dieses Faust.
    Das Ergebnis des wirklichen Realisierungsversuchs im 20. Jahrhundert, der eine Dauer von 74 Jahren in Anspruch genommen hat, steht seit 1989/91 für Mittel- und Osteuropa so ziemlich fest. Unser Konferenzthema reduziert zwar das Ende dieses Versuchs auf das Jahr 1989 und die DDR. Aber es wird wohl nicht widersprochen, wenn gesagt wird, daß die DDR und ihr spezielles Ende nichts anderes als ein besonderes Moment dieses umfassenderen Vorgangs ist. Sollte jemand die DDR für sich untersuchen, ist nichts dagegen einzuwenden, wenn nur immer klar ist, daß dieser Staat die deutsche kommunistische Macht gewesen ist, die in der deutschen Novemberrevolution von 1918 gesetzt und mit dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition als Konsequenz des gegen den deutschen Nationalsozialismus siegreichen russischen Kommunismus auf deutschem Boden gezogen worden ist. Ignoranz gegen diesen baren Tatbestand fingiert eine DDR-Geschichte, die man zur moralischen Erbauung beliebig traktieren kann; einen wissenschaftlich bestimmten Ge-genstand liefert sie nicht.
    In der DDR-Wende ist sehr bald von Lothar de Maizière das Wort Sozialismus als eine leere ‚Worthülse’ erklärt worden, die die gewendete CDU nicht mehr gebrauchen solle. Natürlich ist damit die bestehende kommunistische Ordnung gemeint worden, deren Regierende sie selbst seit 1936 mit Einführung der u. a. von Bucharin formulierten ‚Stalinschen Verfassung’ als errichtete Grundlagen des Sozialismus bezeichnet haben. Sozialismus war der Kommunistischen Internationale der Name, den sie für das verwendete, was Marx 1875 in seiner ‚Kritik des Gothaer Programms’ eine kommunistische „Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern . . wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht¹⁰ nannte.      Im Gegensatz zu Marx wähnen naive kommunistische Ideologen den Kommunismus unwill-kürlich als Lösung des sozialen Problems in der Zukunft, relativ zu der die Gegenwart stets als nichtkommunistisch vorgestellt wird. Denn sie kann auch dann, wenn Kommunisten die Machthaber sind und ihre direktive Planwirtschaft (manche sagen auch ‚Befehlswirtschaft’) das dauernde Bewußtsein des Mangels lebendig erhält, den beteiligten Menschen nicht als Erfüllung des kommunistischen Wunsches bzw. der entsprechenden Hoffnung plausibel gemacht werden. Da jedoch klar ist, daß kommunistische Herrschaft und kapitalistische Wirtschaft nicht zusammen bestehen können, muß der wirkliche Zustand unter dieser Herrschaft einen Namen bekommen, der ihn weder als Kommunismus noch als Kapitalismus oder bürgerliche Gesellschaft signiert. Diese begriffslose Rolle wies die Komintern dem Worte Sozialismus zu, was keine sozialistische Partei – und die Sozialistische Internationale schon gar nicht – verhindern konnte.
    In solcher Benennung ist die klassische sozialtheoretische Unterscheidung des Sozialismus vom Kommunismus, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts selbstverständlich war, untergegangen. Und da heutzutage obendrein im Gemeinbewußtsein die Identifikation von Wort und Begriff als gewöhnliche Annahme fungiert, also das Wort Sozialismus schon für den Begriff des Sozialismus gehalten wird, wird nicht einmal bemerkt, daß man in Wahrheit vom Sozialismus tatsächlich gar keinen Begriff hat So kann man denn rüstig ‚Freiheit oder Sozialismus’ in der Hoffnung posaunen, daß die Leute sich schon etwas dabei vorstellen, jedenfalls ihr Kreuzchen im richtigen Kreis auf dem Wahlzettel zeichnen werden.

Von den Begriffen des Sozialismus und des Kommunismus

In Deutschland ist die fragliche Unterscheidung 1842 von Lorenz Stein so präsentiert worden, daß sie damals jedenfalls jeder Interessierte aus seinem Text kannte (einschließlich Engels und Marx). Ich rufe sie in der dritten Fassung seiner Darstellung von 1850 in Erinnerung: „Der Sozialismus, mit der industriellen Arbeit entstanden, hat zuerst den Widerspruch der Idee der Persönlichkeit mit der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit erkannt und ausgesprochen. Er hat von dieser Erkenntnis aus den Grundsatz aufgestellt, daß die Arbeit als freie Betätigung der Persönlichkeit, von dieser Herrschaft frei, daß sie im Gegenteil bestimmt sein müsse, ihrerseits das Kapital zu beherrschen, das heißt, allein zu bestimmen, in welcher Weise das Einkommen verteilt werden solle."¹¹ Wer heute „Leistung muß sich wieder lohnen" skandiert, artikuliert im Sinne der Steinschen Erkenntnis eine sozialistische Losung. Denn das Wort Leistung (L) meint das Verhältnis der Arbeit (A) zu der in ihr realisierten Arbeitszeit (tA), ist in seiner Bedeutung durch die Gleichung L = A : tA bestimmt. Und folglich ist die vermeintlich neoliberale Proklamation von einer sachlichen Bedeutung, die etwas ganz anderes darstellt, als diejenigen meinen, die sie als Slogan artikulieren. Sie besagt, daß sich die Arbeit wieder lohnen müsse. Sollte dagegen insbesondere die Größe des shareholder value im Blick sein, müßte anständigerweise „Aktienkauf muß sich wieder lohnen“ gesagt werden.
    Im Unterschied zur sozialistischen Attitüde, die Freiheit der Arbeit von der Kapitalherrschaft zu fordern, so nun weiter Stein, „muß man ... sich hüten, unter dem Kommunismus sich irgendein bestimmtes System, irgendein klares logisches Prinzip zu denken. Noch gegenwärtig hat der an Kraft und Umfang täglich wachsende Kommunismus durchaus keine ihm eigentümliche Lehre; alle einzelnen kommunistischen Richtungen und Systeme haben wenig oder gar keine Gewalt über ihn; er hat sie bald abgeworfen, bald anerkannt, sich ihnen zum Teil hingegeben und sie wieder vergessen, ohne seinen Charakter, ohne seine Richtung zu ändern. Eben dadurch ist er aber viel wichtiger und mächtiger als aller Sozialismus. ... während der Sozialismus der wissenschaftliche Ausdruck der Auffassung jener sozialen Frage im Geistes eines einzelnen Menschen ist, ist der Kommunismus vielmehr diese Auffassung einer ganzen Klasse, der Ausdruck eines ganzen Zustandes, ... in seiner inneren Bedeutung ... wird man ihn ... allein aus den Elementen der industriellen Gesellschaft und ihrem Gegensatze verstehen."¹²
    Dieser von Stein erkannte Umstand, daß der „Kommunismus durchaus keine ihm ei-gentümliche Lehre“ hat, erscheint im kommunistischen Fraktionskampf, in dem nicht Theorien und Begriffe, sondern Phrasen und Wörter das mentale Schlachtfeld bevölkern – und das geistige Leben von der Exegese der „Klassiker" zum Zitieren der Generalsekretäre verendet. Das ist jedoch kein Grund, die Gewichtigkeit des Kommunismus – als einer praktischen politischen Bewegung – nicht ernst zu nehmen. Er ist nicht die Mobilisation des Geistes, sondern des Gemüts der Eigentumslosen, die im Konsum der Reichen ihre eigene Armut als Unrecht und unvernünftige Ordnung der menschlichen Beziehungen und Verhältnisse wahrnehmen und aufheben wollen.
    Das Prinzip der industriellen Gesellschaft, so Stein weiter, „ist die durch die Familie dauernd erhaltene Herrschaft des Besitzes über den Nichtbesitz, den das Recht des Gesetzes und die Gewalt des Staates schützen. Sowie dies einmal von der ganzen . . Klasse der Nichtbesitzer erkannt ist, beginnt plötzlich eine gänzliche Umgestaltung der Auffassung derselben in allen öffentlichen Dingen. Es entsteht der Haß der Nichtbesitzer und Arbeiter gegen die Besitzenden, und besonders gegen die Kapitalisten, die von arbeitslosem Kapitalertrag leben; . . das Recht des Eigentums und der Bestand der Familie wird von der nichtbesitzenden Klasse mehr und mehr in Zweifel gezogen, ... und so geht aus der sozialen Abhängigkeit dieser Klasse die Negation von Eigentum und Familie als Geist dieser Klasse selber hervor."¹³
    Man muß nicht meinen, daß diese Diagnose durch den Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft 1989/91 erledigt ist. Dieser Zusammenbruch hat an der Existenz der sozialen Frage im klassischen Sinne gar nichts geändert. Sie besteht nach wie vor – und zwar universell oder global (was übrigens u. a. die Ausländerfeindlichkeit hinreichend deutlich signalisiert, die ja eine Reaktion auf die Immigration derjenigen ist, die der Armut entfliehen wollen). Damit besteht aber auch die kommunistische Potenz, eben die Gesellschaft zu negieren, die diese Frage unvermeidlich und immer wieder hervorbringt.
    Stein definiert dann den Begriff des Kommunismus: Das „Bewußtsein des Proletariats von dem Widerspruch seiner Lage mit der Idee der Freiheit und Gleichheit, das sich negativ gegen Eigentum und Familie verhält, weil es in ihnen die absoluten Gegner der Freiheit und Gleichheit sieht, und die Gesamtheit der Systeme, Sekten und Bewegungen, welche aus diesem Bewußtsein hervorgehen, nennen wir den Kommunismus."¹⁴ Sozialismus dagegen ist ihm die „systematische Entwicklung der Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit“¹⁵.
    Sollte es nicht möglich sein, unser eigenes Wissen erneut auf die einmal in Deutschland bereits erreichte Höhe der sozialtheoretischen Erkenntnis zurückzubringen? Die Wende von 1989/91 hat doch die Möglichkeit eröffnet, endlich ohne ideologische Zensur, ohne Furcht vor Aburteilung wegen „Staats- und parteifeindlicher Auffassungen", ohne Einbuße an Einkommen zu denken, was wir wollen. Dies wirklich zu tun, erfordert nur die doch nicht so schreckliche Anstrengung, das Denken und Erkennen vom bloßen Meinen und Schwadronieren zu lösen. Daß dabei die Wahrheit als eine Meinung öffentlich ist, versteht sich und läßt sich gar nicht ändern, ist sogar für ihre öffentliche Existenz im rechtlich gesicherten Meinungspluralismus oder Meinungsmarkt von existentieller Bedeutung. Unter den vielen Meinungen die Wahrheit zu finden, das kann zugestanden werden, ist freilich ein Thema nur für die, die beide voneinander unterscheiden wollen.
    Schließlich ist es in einer Bilanz der Wende 1989/91 vielleicht nicht überflüssig zu bemerken, daß man den Kommunismus als Bewegung vor einer Machtübernahme und danach thematisieren sollte. Vor derselben bietet der Anschluß an die kommunistische Bewegung keine besonderen persönlichen Vorteile (wenn man von der Bezahlung des Funktionärskaders mittels russischer Finanzmittel absieht). Danach allerdings sind Einkommensstellen zu verteilen und somit Ionescos Nashörner unabwendbar. Es versteht sich, daß die Beurteilung des Kommunismus variiert je nachdem, wen man sich als individuelle Verwirklichung eines Kommunisten vorstellt. In der DDR z. B. kann man von Ernst Busch bis zu Erich Mielke gehen, um die Vielfalt möglicher Präsentationen zu thematisieren. Und den deutschen Kommunismus des 20. Jahrhunderts kann man – nun vielleicht mit feministischer Präferenz – als geschichtlichen Vorgang von Rosa Luxemburg bis Margot Honecker verfolgen, um dem Urteil über ihn wahrnehmbare Individuen zu unterstellen.
    Mit Verweis auf Lorenz von Stein möchte ich nun eine einzige These verteidigen:
 Die Wende 1989/91 war keine Entscheidung über den Sozialismus als eine Gesell-schaftsordnung, sondern über den Kommunismus als eine Gemeinschaftsordnung.

Der so genannte ‚Realsozialismus’ war der Kommunismus sans phrase

Was in der Wende 1989/91 in Mittel- und Osteuropa zusammenbrach, war die russisch geführte politische Herrschaft des Kommunismus in seiner Leninschen Version. Sie hatte 1900 bis 1903 ihre Genesis, wurde durch den Ersten Weltkrieg und unter wesentlicher deutscher Teilnahme zur Komintern erweitert, erlangte in der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg ihre universelle Geltung und erreichte mit der politischen Entkolonialisierung 1975 den Höhepunkt ihrer geschichtlichen Entwicklung (Niederlage der USA und Sieg des Kommunismus in Vietnam). Den Übergang zur Wende hat der internationale Kommunismus mit dem Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha 1978 und sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 selbst gesetzt. Der letztere hat angesichts der Entfaltung der Solidarność in Polen seit dem Juli 1981 die Wiederholung des Abenteuers in der ČSSR von 1968 ausgeschlossen. Die Überstrapazierung des ökonomischen Potentials in der Rüstung zwang schließlich die kommunistische Führungsmacht, ihren Bundesgenossen so ziemlich volle nationale Selbständigkeit – insbesondere in der Wirt-schaftspolitik – zu gewähren. Dies führte umgehend zur Entsolidarisierung mit der DDR und erwies darin, daß dieser Staat zu einer selbständigen Existenz nicht fähig war. Die Wende hat nicht zufällig in der DDR, dem Pfropfen auf der Flasche des „sozialistischen Lagers", begonnen und ist nicht zufällig mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geendet. Denn wer die DDR freigab, mußte erst recht Polen und die Tschechoslowakei entlassen. Wer aber diese emanzipierte, konnte das Baltikum nicht weiter besetzt halten. Er mußte daher die Sowjetunion zur Disposition stellen, um sie zur .Gemeinschaft Unabhängiger Staaten' aufzuheben – ohne das Baltikum.
    Dieser Gang des kommunistischen Zusammenbruchs ist, wie ich meine, Ausdruck des Scheiterns der ökonomischen Absicht der kommunistischen Bewegung seit Babeuf, das national verfaßte Gemein- oder Volkseigentum zur Voraussetzung der Lösung der sozialen Frage zu machen. Entgegen der Annahme, mit der „Expropriation der Expropriateure" die ungehemmte progressive Entwicklung der Produktivkräfte zu garantieren, hat die Realisierung der kommunistischen Organisation des Gemeineigentums die Innovationspotenz der fraglichen Volkswirtschaften lahmgelegt und schließlich zum Verzehr der in Generationen zuvor hervorgebrachten ökonomischen Substanz geführt.
    Die kommunistische Idee, die man, wie schon bemerkt, nach Marx und Engels „in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen" kann, ist durch die kommunistische Praxis im 20. Jahrhundert empirisch widerlegt worden. Sie ist nicht aufgrund externer Bedingungen oder eines historisch zu frühen Versuchs unausführbar gewesen, sondern an und für sich in dem Sinne unrealisierbar, in dem die Aufhebung des Privateigentums die Garantie für die unbeschränkte progressive Produktivkraftentwicklung liefern soll. Sie ist deshalb unrealisierbar, weil sie mit der Herstellung des Gemeineigentums den Ausschluß des ökonomischen Verkehrs, d. h. des Handels, des Geldes, der Rentabilität als betriebswirtschaftlicher Existenzbedingung (denunziert als „Profitwirtschaft"), verbindet. Eine den ökonomischen Verkehr und damit unterschiedliche Eigentümer – selbstverständlich auch Gemeineigentümer, etwa in genossen-schaftlicher Gestalt – zulassende Wirtschaftspolitik ist nichtkommunistisch. Ohne den ökonomischen Verkehr sind keine objektive Preisbildung und daher keine vernünftige Kostenkalkulation möglich. Die kommunistische Ersetzung des Verkehrs durch die Verteilung ist folglich immer nur als transitorische Unternehmung möglich. (Das ist übrigens in der Geschichte oft genug versucht worden. Man denke in diesem Zusammenhang aber auch an jene Ge-meinschaften, häufig ideologisch religiös determiniert, die intern kommunistisch verfaßt sind und nach außen lebhaften Handel treiben, also keineswegs den Austausch für eine Sünde wider den Heiligen Geist halten. Sie zeigen die Pluralität kommunistischer Möglichkeiten, daher zugleich die Leninsche Version als eine Realisation von vielen anderen Realisationsmöglichkeiten.)
    Der kommunistische Zusammenbruch von 1989/91 hat sicher nicht die Bedeutung einer logischen Widerlegung der kommunistischen Idee. Es ist sehr wohl möglich, sich selbst und anderen zu suggerieren, daß dem Kommunismus wenigstens die fernere Zukunft gehöre, weil die „globalen Probleme" keine andere Lösung zuließen. Aber entschieden anzunehmen ist, daß der kommunistische Zusammenbruch von 1989/91 als empirische Probe auf die zugrunde gelegte Idee zu denken ist. Der Verzicht auf die Reflexion dieser Tatsache wäre Verzicht auf Erkenntnis.
          Das wirklich einsichtige Argument, das zur Aufgabe der Fiktion einer Subsistenzwirtschaft betreibenden Weltgemeinde führt, ist die Überlegung, daß der ökonomische Verkehr, der Handel, keineswegs nur eine Veranstaltung gegenseitiger Prellerei darstellt, sondern die Institution der Selektion wertbevorteilter Produkte und Dienste ist. Dadurch bildet er das Medium des wirklichen Produktivkraftfortschritts, der in der politischen Herrschaft der Kommunisten zwar immer beschworen, wirklich aber institutionell verhindert worden ist. Der Handel ist nicht das listige Auskunftsmittel, um bei unüberwindlicher Stärke des fremden Eigners gewünschter Produkte durch Abgabe eigener Erzeugnisse in den Genuß eben der fremden zu gelangen, sondern das Purgatorium des Werts der eigenen Produktion für fremde Nutzer, die Institution der Vergesellschaftung der eigenen Produkte und Dienste. Ist demnach der Handel als die Realisierung der menschlichen Sozialität bzw. Gesellschaftlichkeit unersetzlich, führt seine Beseitigung zur ihrer Auflösung, zur Ersetzung des Austauschs durch die Verteilung, d. h., wie wir schmerzlich erfahren haben, zur Auflösung jeder Grundlage vernünftigen ökonomischen Kalkulierens. So muß, soll der Progreß der produktiven Kräfte keine wohlfeile Phrase sein, von der, wenn auch nur impliziten, Idee einer Realisierung der menschlichen Gattung durch eine kommunistisch verfaßte Weltgemeinde Abschied genommen werden.
    Mit Blick auf diesen Umstand meine ich, daß die von Ferdinand Tönnies längst präsentierte Unterscheidung der Gesellschaft von der Gemeinschaft¹⁶ theoretisch wieder aufzunehmen und im Interesse der intellektuellen Verarbeitung unserer praktischen Erfahrung des modernen Kommunismus zu reflektieren ist.¹⁷ Tönnies hat – auch in Rezeption des Marxschen Werks – den Begriff der Gesellschaft mit Rückgriff auf die Tauschtheorie gebildet, den Begriff der Gemeinschaft im Unterschied dazu an die Voraussetzung der „einheitlichen Arbeit" und der „Haushaltung" gebunden.¹⁸ Im Sinne dieses Ansatzes können wir die Wörter Gemeinschaft und Gesellschaft als Bezeichnungen der Verbindungsarten unter Menschen verwenden, die einerseits in der Produktion als unmittelbare Kooperation und andererseits im Wirtschaftsverkehr als Austausch bzw. Handel verwirklicht werden.
    Damit wird unterstellt, daß die Produktion vom Austausch klar unterschieden ist (beide sind die wirtschaftlichen Haupthandlungen, die die materielle Existenz unseres Lebens sichern), daß nicht jede Produktion zum Austausch führt (dann Subsistenzproduktion ist), wohl aber jeder Austausch vorgängige Produktion voraussetzt. Es gilt also die ökonomische Implikation: Wenn Austausch besteht, so besteht Produktion. Des weiteren ist angenommen, daß die tauschenden Produzenten (das können kommunistisch organisierte Gemeinschaften sein oder auch Personen, die eigenes Vermögen zum Tausch anbieten, selbstverständlich auch nichtkommunistisch organisierte Gemeinschaften) ganz im Sinne der Hegelschen Sozialtheorie gerade durch den Handel ihre präsentierten Güter als das Eigentum jedes Tauschpartners anerkennen und in der wechselseitigen Entäußerung bei äquivalentem Austausch den Wert ihres Vermögens erhalten. Ausdrucksmittel des Werts ist das Geld, ob durch Getreide, Edelmetall oder Papier modelliert. Die in der Ideologie artikulierte ‚Macht des Geldes’ ist natürlich reiner Wahn. Was wirklich Macht gewährt, ist das Eigentum an den Mitteln, etwas zu machen. Dieses Eigentum kann man durch den Tausch mittels Geld dem Gebrauchswert nach ändern, dem Wert nach erhalten.
    Die aktive Nichtanerkennung des fremden Eigentums ist die Eroberung, der Raub, die Plünderung, die imperiale Annexion und die mit ihr häufig genug gekoppelte entsetzliche „ethnische Säuberung“, die nicht nur das fremde Eigentum enteignet, sondern den fremden Eigentümer vertreibt oder gar vernichtet. Der kapitalistische Imperialismus ist neben dem Leninschen Kommunismus die zweite und diesem vorgängige Weise der neueren oder ‚modernen’ Gesellschaftsnegation.¹⁹ Die politische Entkolonialisierung mit dem Höhepunkt des afrikanischen Jahres 1960 ist die charakteristische Errungenschaft des 4. Kondratieffs. Die Geschichte des modernen Kommunismus ist ohne Rückbezug auf den Imperialismus, den er bekämpft hat, und die Entkolonialisierung, die er (natürlich nicht ohne die eigenen Interessen zu verfolgen) unterstützt hat, gar nicht zu verstehen. – Die Unterstützung übrigens, die die DDR in der Entkolonialisierung geboten hat, ist in mancher Hinsicht als ein erfreuliches Kapitel deutscher Geschichte zu denken.
     Der Terminus Austausch findet in sozialtheoretischen Überlegungen mitunter die merk-würdigsten Verwendungen (nicht selten in der Soziologie). Daher sei betont, daß er hier zur Bezeichnung des Handels verwendet wird, in dem die Preisbildung den gelungenen Austausch reflektiert. „Austausch" meint so immer handfesten Ein- und Verkauf, die „bare Zahlung" für erworbene Güter (Produkte oder Dienste²⁰) bzw. die Einnahme der Gegengabe für im Tausch abgegebene Güter. Wo es sich nicht um den Erwerb fremden Gutes mittels Abgabe eigenen Gutes (bzw. um Dienstverrichtung gegen Bezahlung) handelt, ist – wenigstens im hier gemeinten Sinn – nicht von „Austausch" zu reden („Austausch von Zärtlichkeiten" z. B. ist demgemäß ein Unsinnsausdruck). Insbesondere ist die Distribution eines gemeinsam erarbeiteten Produkts auf die Mitglieder einer Gemeinschaft kein Austausch. Diejenige Distribution, die in der Tat durch den Austausch vermittelt wird, heiße „gesellschaftliche" oder „soziale Distribution". Diejenige dagegen, die in einer Gemeinschaft als regelgeleitete Aufteilung eines gemeinsamen Erzeugnisses auf die Glieder derselben verwirklicht wird, heiße „gemeinschaftliche Distribution". Erstere ist über die Preisverhandlung wertvermittelt, letztere keineswegs.
    In der marxistischen und kommunistischen Tradition wird nun der Tausch bzw. Handel ganz im Sinne romantischer Protestation gegen den „schnöden Schacher" als Expression der Habgier gedeutet, der nur darum nicht zur räuberischen Aneignung führt, weil ein Tauschpartner den anderen nicht zu überwinden fähig ist. Hätte er die besseren Waffen, wird suggeriert, würde er sich umstandslos ohne Tausch in den Besitz des fremden Gutes setzen. Dies zu unterstellen heißt, den barbarischen Instinkt als konstitutiv für den Handel anzunehmen, ihn als solchen zu beargwöhnen. Betrachtet man die Sache nüchtern und ohne romantische Flausen, so muß die zivilisatorische Funktion des Handels erkannt und zugestanden werden. Selbstverständlich mag der aufklärerische Egoismus durch den romantischen Gemeinsinn unter Verdacht gehalten sein. Aber wir können nach der Erfahrung des kommunistischen Experiments nachdrücklich versichern, daß der Egoismus in diesem Experiment, was immer die kommunistischen Gründerväter an Altruismus exerziert und für nötig gehalten haben, systematisch fröhliche Urständ gefeiert hat. Zwar handelte es sich nicht mehr um die Gewinnung des „schnöden Mammons" (in einer nichtkonvertiblen Währung ein ziemlich unergiebiges Unternehmen), sehr wohl aber um die Besetzung von individuell vorteilhaften Leerstellen des kommunistischen Systems, die mit der Bildung von Seilschaften erobert und mit dem Ausschluß von unliebsamen Konkurrenten hartnäckig verteidigt wurden.
    Die Vision, der Kommunismus würde den Egoismus beseitigen, d. h. Herrn Gaus viel berufenen „neuen Menschen" als Gegenmodell zum „alten Adam" hervorbringen, hat sich in der empirischen Geschichte des modernen europäischen Kommunismus als blanke Illusion gezeigt. Vielmehr hat sie erwiesen, daß der Egoismus, den der originäre Sozialismus den sozialen Verhältnissen, nicht den Personen zuschrieb, durch die kommunistische Systemausbildung nicht erledigt worden ist, sondern nur andere Entfaltungsmöglichkeiten erhalten hat. Mithin ist das Privateigentum via empirische Erfahrung vom Ruch, Quelle des Egoismus zu sein, absolviert worden.
    Das ist eine Einsicht, die jede noch so konsistent begründete ökonomische Kritik der Gemeinwirtschaft²¹ nicht überzeugend hat liefern können. Wer die Unmöglichkeit objektiv begründeter Preisbestimmung in der kommunistischen Wirtschaft logisch fundiert darstellt, was beweist er gegen die Vision, es könne sich der Egoismus mittels dieser Gemeinwirtschaft als historisch transitorisch und entbehrlich herausstellen? Der Verdacht ist unabweisbar, daß erst die praktische Erfahrung über die konsistente Realisierung der kommunistischen Idee die Überzeugung von der Nichtigkeit jener – immerhin das abstrakte Gute favorisierenden – Vision vom Ende des Egoismus zu desavouieren fähig gewesen ist.
    Ist nun die Annahme gültig, daß der Tausch, der Handel die wechselseitige Anerkennung fremden Eigentums, darunter des Gemeineigentums voneinander verschiedener Gemeinschaften, durch die entsprechenden Tauschpartner bedeutet, so muß auch gesagt werden, daß die Determination des Eigentums durch den Austausch dasselbe a priori als Sonder- oder Privateigentum konstituiert. Die Annahme des exklusiven Gegensatzes zwischen Gemein- und Privateigentum ist daher im Rahmen der sozialtheoretischen Unterscheidung zwischen Gemeinschaften einerseits und der durch die Bildung des Weltmarkts geschaffenen Gesellschaft andererseits eine logische Absurdität. Eigentum ist in der Gesellschaft immer und nie etwas anderes als Privateigentum, ob gemeinschaftliches oder persönliches. Nur in einer Gemeinschaft für sich ist der Gegensatz zwischen öffentlichem und privatem Eigentum wirklich gegeben.
    Des Weiteren versteht es sich mit der formulierten Annahme von der Rolle des Austauschs als der Eigentumsdetermination, daß die geschichtliche Bildung des Privateigentums durch die ebenso geschichtliche Entfaltung des ökonomischen Verkehrs, des Handels, bedingt ist. Dieser bringt nicht, wie Marx gemeint hat, die „entfremdete Arbeit" hervor, sondern befriedigt mittels Abgabe eigener Produkte eigene Bedürfnisse durch fremde Produkte, macht also die Ergebnisse fremder Arbeit zu Bedingungen eigener Reproduktion. Der Austausch ist nicht das Vehikel der Entfremdung, sondern im geraden Gegenteil das Medium der Aufhebung der Fremdheit voneinander unabhängig produzierender Gemeinschaften. Die Gesellschaft überhaupt ist nicht das Subjekt der Eigentumsbildung, sondern das System der Eigentumszirkulation. Sie besteht nur durch den und in dem Fluß der Güter und Dienste und ist ohne diesen Fluß nicht vorhanden.
    Das besagt nun auch: Der Terminus „gesellschaftliches Eigentum" ist inhaltsleer und folglich als Surrogat für den Terminus „Gemeineigentum" unverwendbar. Mit anderen Worten: Gesellschaftsbildung und Privateigentum sind Kehrseiten derselben Medaille. Die Negation des Privateigentums ist daher logisch zwingend auch die Negation der Gesellschaft, die Ersetzung des Verkehrs durch die vom Gemeinwesen realisierte Verteilung. Die kommunistische Forderung, das Privateigentum aufzuheben, ist folglich identisch mit der Forderung, die Gesellschaft abzuschaffen. Die rohkommunistische Lösung der sozialen Frage besteht in der Liquidation der Sozialität. Ein Kommunismus freilich, der den Handel, das Geld, die Rentabilität, den Profit (d. h. Zins plus Gewinn) nicht attackiert, sondern unter ihrer Voraussetzung als Verteidigung der Gemeinschaftsinteressen, die es im Gegensatz zur neoliberalen Annahme selbstverständlich gibt, auftritt, wäre nicht mehr roh und muß als eine denkbare Möglichkeit erwartet werden.
    Die Erkenntnis von der rohkommunistischen Lösung der sozialen Frage durch die Liquidation der Sozialität wird ideologisch verstellt, wenn die Identität von Gesellschaft und Gemeinschaft intellektuell angenommen (oder gar die Gemeinschaft überhaupt als ein Übel präsentiert) wird. Dann kann so etwas wie die „kommunistische Gesellschaft" überhaupt vorgestellt oder suggeriert werden, eine Vorstellung, die in der deutschen Arbeiterbewegung 1875 programmatische Bedeutung bekam: „Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft", heißt es nämlich im Gothaer Programm der Socialistischen Arbeiterpartei Deutschlands.²² Genau damit ist die Gesellschaft als etwas unterstellt, das Gemeingut haben kann. Ist aber klar, daß „die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut" die Konstituierung der entsprechenden Gemeinschaft als das alleinige Wirtschaftssubjekt bedeutet, so kann die zitierte Forderung nur bei Identifikation von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" einen Sinn haben. Gilt diese Identifikation für ausgeschlossen, ist die Forderung unmittelbar absurd. Sie muß dann vielmehr lauten: Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeineigentum, die Herstellung der Gemeinwirtschaft; die Gemeinwirtschaft regelt ihren gesellschaftlichen Verkehr mit anderen Gemeinwesen über das Außenhandelsmonopol und hat somit die Gesellschaft, die Sozialität jederzeit außer sich.

Über Engels’ Vision der „vergesellschafteten“ Produktion

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, auf die insbesondere von Engels favorisierte Einbildung einzugehen, mit der Entfaltung der großen Industrie sei angesichts der Bildung umfangreicher Betriebsbelegschaften die „Vergesellschaftung" der Produktion ein bares Faktum. Daher komme es für die kommunistische Revolution nur noch auf die „Vergesellschaftung“ des Eigentums an, um den wesentlichen Widerspruch des Kapitalismus, private Aneignung bei gesellschaftlicher Produktion zu sein, aufzulösen. Damit ist eine erstaunlich naive Verkennung des Phänomens der Vergesellschaftung angenommen und implizit unterstellt, daß Betriebsbelegschaften als Exemplare der Sozialität gelten, Gemeinschaften unter dem Namen Gesellschaft vorgestellt werden.
    Engels meint: In der mittelalterlichen Warenproduktion beruhte das Eigentum der Produkte „auf eigner Arbeit. ... Da kam die Konzentration der Produktionsmittel in großen Werkstätten und Manufakturen, ihre Verwandlung in tatsächlich gesellschaftliche Produktionsmittel. Aber die gesellschaftlichen Produktionsmittel und Produkte wurden behandelt, als wären sie nach wie vor die Produktionsmittel und Produkte einzelner. ... So wurden also die nunmehr gesellschaftlich erzeugten Produkte angeeignet nicht von denen, die die Produktionsmittel wirklich in Bewegung gesetzt und die Produkte wirklich erzeugt hatten, sondern vom Kapitalisten. Produktionsmittel und Produktion sind wesentlich gesellschaftlich geworden. Aber sie werden unterworfen einer Aneignungsform, die die Privatproduktion einzelner zur Voraussetzung hat, wobei also jeder sein eignes Produkt besitzt und zu Markte bringt. Die Produktionsweise wird dieser Aneignungsform unterworfen, obwohl sie deren Voraussetzung aufhebt. In diesem Widerspruch, der der neuen Produktionsweise ihren kapitalistischen Charakter verleiht, liegt die ganze Kollision der Gegen-wart bereits im Keim.“²³
    Mit dieser Deutung ist unterstellt: Schließt ein Unternehmer mit mehreren Personen Arbeits-verträge, so wird die Produktion des fraglichen Unternehmens in der Sicht von Engels gesellschaftlich. Und es ist nurmehr eine Frage der operationalen Definition, wie viel persönliche Arbeitsverträge es genau sein müssen, um den „gesellschaftlichen" Charakter der fraglichen Produktion zweifelsfrei feststellen zu können (den Unternehmer im Falle der revolutionären Erhebung zu enteignen). Gesetzt, dieser Unternehmer investiert sein eigenes Geld, so ist er zweifelsfrei Kapitalist (im Falle der ausschließlichen Bindung von Fremdkapital via Kredit ist er das nicht) und damit nach Engels nicht mehr Produzent, sondern bloßer Aneigner des Produktionserlöses.
    Es ist wohl unübersehbar, daß in dieser Interpretation die in der Unternehmensbildung konstituierte Betriebsbelegschaft die Engelssche Idee der Gesellschaft modelliert, die damit von der der Gemeinschaft ununterscheidbar ist. (In Wahrheit besteht die wirkliche Vergesellschaftung vielmehr darin, das Produkt des Unternehmens zu verkaufen – gleichgültig, wie viel Arbeiter bei seinem Zustandekommen im selben Unternehmen miteinander kooperiert haben.) Des Weiteren ist in Engels’ Deutung klar, daß mit dem Schaffen großer Betriebsbelegschaften die Produktionskompetenz des Unternehmers, man weiß nicht wie, verloren wird und auf die Belegschaft übergeht. Denn nicht er, sondern die Belegschaft für sich produziert, während er nur aneignet.
    Eine solche Sicht, in der jede wirkliche Betriebsgeschichte ignoriert wird, kann nur gewonnen werden, wenn mit Hilfe einer begrifflosen Anschauung a priori ausgemacht ist, daß die Industriebetriebe der Moderne die Entgegensetzung zwischen Produktion und Eigentum vorstellen und erweisen. Fraglos wird diese Anschauung in der Wahrnehmung des Prinzips hire and fire konfirmiert, aber ebenso fraglos beruht sie auf der Ausblendung der wirklichen Produktions-kompetenz des Unternehmers, ohne die das Unternehmen gar nicht zustande kommt. Natürlich besteht sie nicht in den Fähigkeiten, deren Mithilfe durch den Abschluß von Arbeitsverträgen gesichert wird, wohl aber in der Fähigkeit, die beabsichtigte Produktion möglich und realisierbar zu machen, d. h. die erforderlichen Produktionsbedingungen zusammenzubringen und den zu erzeugenden Produkten oder Diensten einen Absatz zu sichern. Daß die Realisierung dieser Fähigkeit im strengen Sinne gesellschaftlicher Arbeitsaufwand ist, kann nur übersehen werden, wenn allein bestehende und erfolgreiche Unternehmungen im Blick stehen. Wer selbst die Anstrengung auf sich nimmt, ein Unternehmen zu entwickeln, kann eigentlich über solche Anschauung nur fassungslos staunen.
    Das wirkliche Problem mit Bezug auf Engels’ Vorstellung von der „vergesellschafteten“ Produktion besteht darin zu erfassen, wie sich unter dem Druck der durch die Gesellschaft stabilisierten Evolution Gemeinschaften transformieren, auflösen oder neu bilden. Die Annahme, die neuerdings manchmal präsentiert wird, daß die menschliche Entwicklung überhaupt als ein Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft zu denken sei, ist ebenso verkehrt wie die Identifikation der Gesellschaft als Gemeinschaft. Die Gemeinschaft an sich ist schon aus dem einfachen Grunde unaufhebbar, weil sie Medium der biologischen Reproduktion ist. Eine reine Gesellschaft hätte keinen überlebensfähigen Nachwuchs, daher eine Dauer von höchstens einer Generation. Was begriffen werden muß, ist die wechselseitige Determination von Gemeinschaft und Gesellschaft, ihr offenbar unaufhebbarer Dualismus.
    Ich fasse nochmals zusammen: Der Kommunismus ist keine irgendwann zu erwartende Gesellschaftsformation, sondern die permanente Negation des Privateigentums auf dem Standpunkt desselben. Er kann daher auch stets nur lokal realisiert werden (als besondere Gemeinde oder Polis bzw. Nation). Er kommt zum Weltstaat nur, wenn er keine militärische Macht außer sich hat, die sich ihm widersetzt. Nach unserer Erfahrung ist daran gar nicht zu denken. Negiert er die Gesellschaft absolut, schafft er den Austausch ab oder macht ihn mit dem proklamierten Außenhandelsmonopol zum Monopol des Staats (womit er die Korruption der Staatsdiener setzt) und wird darin roher Kommunismus.

Die Wende war keine Revolution

In seinem Urteil hat Rolf Reißig die Wende 1989 als eine „friedliche politische Revolution" charakterisiert, die nicht so sehr durch die ökonomische Krise als vielmehr durch das Legitimationsdefizit der Führung in Bewegung gekommen ist. Mit Blick auf die akzeptablen Modelle einer Revolution (das niederländische im 16., das englische im 17. und das französische im 18. Jahrhundert) meine ich sagen zu können: Die Wende 1989 war gewiß keine Revolution, sondern (mit der rumänischen Ausnahme) der bemerkenswert friedliche Rücktritt der europäischen Kommunisten von ihrer im Gefolge des Sieges der Anti-Hitler-Koalition gegen das faschistische Deutschland mit Hilfe der Sowjetunion errichteten Herrschaft. Sie war eine klare Restauration des persönlichen Privateigentums und der bürgerlichen Demokratie, die in der DDR auf Basis der Wahlergebnisse von 1946 seit 1948/49 mit Durchsetzung der Einheitsliste für die so genannten Wahlen sozusagen nur auf Eis gelegen hatte. Schönstens brachte Prinz Albert von Sachsen am 31. Januar 1990 den restaurativen Charakter der Wende zum Ausdruck, als er – im Gefolge des bayerischen Ministerpräsidenten Streibl zu Besuch in Dresden – dem Fernsehen mitteilte: „Ich fühle mich hier zu Hause, und ich meine, nach der Wahl, wenn eine allgemein legi-timierte Regierung ins Amt kommt, müßte man die Frage des Wohnsitzes und der Eigen-tumsrechte aufgreifen."²⁴ Eigentumsrestauration vor Entschädigung war denn auch die insbesondere von der FDP (von Kinkel und Lambsdorff) durchgesetzte wesentliche Wen-debestimmung.
    Das Glück des Jahres 1989, so sagt Heinz Bude mit Bezug auf die DDR rechtens, besteht darin, keinen blutigen Preis gezahlt zu haben. Dieses Glück ist durch den Umstand vermittelt worden, daß die kommunistischen Führer angesichts der verfahrenen ökonomischen Lage keinen Ausweg mehr wußten. Sie waren, wie viele von ihnen im Nachhinein bestätigten, „ohne Konzeption", d. h. ohne die geringste Vision oder Vorstellung davon, wie es denn im Unterschied zur bisher verfolgten Politik hätte weitergehen sollen.
    Der Untergang als solcher kam nicht überraschend. Jeder, der sehen wollte, konnte wenigstens seit Mitte der 70er Jahre den ökonomischen Substanzzerfall in der DDR ohne Schwierigkeiten wahrnehmen. Er brauchte nur an Leuna und Buna vorbeizufahren, Städte wie Halberstadt oder Leipzig zu besuchen, auf dem Lande die militärischen Sperrbereiche mit ihrer Naturverwüstung zur Kenntnis zu nehmen – oder einfach die Berliner S-Bahn anzuschauen. Das hätte ihm gewiß keine ökonomischen Daten über den Zustand der DDR-Volkswirtschaft geliefert, wohl aber die Sicherheit für das Bewußtsein, daß in diesem Lande die kommunistisch avisierte schrankenlose progressive Entwicklung der Produktivkräfte offenbar irgendwie nicht eintreten will. Obendrein bewies die Mauer seit dem August 1961, daß die kommunistische Organisation der Volkswirtschaft im freien Wettbewerb mit der sozialen Marktwirtschaft chancenlos ist. Sie als „antifaschistischen Schutzwall" zu präsentieren, konnte doch bestenfalls der Eigensuggestion dienen, aber nie der Erkenntnis der wirklichen Lage.
    Ich gebe gern zu, daß der nach dem Mauerbau absolvierte Reformjuglar von 1962 bis 1971 den Stempel des verzweifelten Versuchs einer Gruppe kommunistischer Reformer ausgerechnet unter der Führung des wohl altersweise gewordenen Ulbricht trägt, den Anschluß der DDR-Volkswirtschaft an den Weltmarkt zu gewinnen. Aber bereits im Frühjahr 1964 warnten ZK-Apparatbeamte vor „sozialistischen Millionären", und der Selbstmord Apels am 3. Dezember 1965 signalisierte das Ende der Intention, den Markt (vor allem den Weltmarkt) zum Kriterium der ‚sozialistischen Planung’ zu machen. Die Hoffnung, die Mauer könnte wenigstens als Bedingung für die Konzentration der Kräfte auf den inneren Aufbau dienen, erfüllte sich nicht.
    Ich habe den Eindruck, daß die vielfach geäußerte Überraschung über den plötzlichen und unerwarteten Einbruch der Wende nicht so sehr der unbefangenen Wahrnehmung galt als vielmehr der ideologisch diktierten Ausschließung klarer Fakten. Den höchst wahrscheinlichen Zusammen-bruch nicht wahrnehmen zu wollen, war eine mentale Implikation der europäischen politischen Lage und des Interesses der beteiligten Akteure, keinen Krieg in Europa mit Deutschland als Schlachtfeld zuzulassen. Den Frieden zu erhalten, hieß das nicht, den Status quo zu akzeptieren? Die Unterschrift unter die KSZE-Akte in Helsinki zu geben, hieß das nicht, dem Opponenten im Kalten Krieg die Bestandsgarantie zu bieten, also nichts zu tun, was seine Existenz in Frage stellen könnte? Mit Vertragspartnern geht man schließlich seriös um und verdeckt sich den Umstand der Gegnerschaft wenigstens für die äußerliche Darstellung. Aus welchen Gründen im Übrigen sonst, als denen der äußeren Attacke, sollte dieser Opponent auch verschwinden? Hatte er nicht eine unüberwindliche Militärmacht zur Verfügung?
    Der Blick auf den inneren Zustand unterblieb. Und wenn er unternommen wurde, blockierte er sich häufig genug durch alte antikommunistische ideologische Zerrbilder (z. B. vom ‚Reich des Bösen’ etc.), die kein adäquates Verständnis zuließen. Um des lieben Friedens willen war es daher sinnvoll zu imaginieren, daß die Lage in der DDR z.B. gar nicht so schlecht sei (besser selbstverständlich als etwa in den Entwicklungsländern). Diesem Einbildungsbedarf kam die Notiz vom 10. Platz der DDR in der Rangfolge der Industrieländer gerade recht. Strauß’ Milliardenkredit vom Juni 1983 sicherte die internationale Bonität, und der honorige Empfang Honeckers durch Kohl in Bonn im September 1987 setzte den Höhepunkt im deutsch-deutschen Akkord vor der Wende. In dieser Konstellation eben sie zu erwarten, war gewiß eine nur gegen ideologische Determination mögliche Disposition. Die Emanzipation von der Ideologie ist wenigstens für das Erkennen und die geistige Arbeit eine erfreuliche Frucht der Wende von 1989/91, die nicht mehr losgelassen werden sollte.


¹   Erstveröffentlichung in: Berliner Debatte INITIAL 11 (2000) 2, S. 18–30. Druckfehler wurden korrigiert und eine Anpassung an die gegenwärtige Orthographie vorgenommen. Vgl. auch H. Misselwitz, K. Werlich (Hg.): 1989: Später Aufbruch – Frühes Ende? Eine Bilanz nach der Zeitenwende. Berlin: Berliner Debatte Wissen-schaftsvlg. 2000 (Eine Publikation der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung.), S. 39–57.
²   Überarbeitete Fassung des Diskussionsbeitrages vom 24. September 1999 auf der Konferenz in Potsdam.
³   Vgl. ‚Chronik der Wende’ vom 17. Dezember 1989, ORB.
⁴   Nach den Überlegungen Schumpeters (Konjunkturzyklen, 2 Bde., Göttingen 1961) unterstelle ich den von ihm charakterisierten „bürgerlichen Kondratieff“ (1843 bis 1897 einschließlich) als Standardzyklus, sozusagen als Etalon der ‚langen Wellen’, nehme dann mit Blick auf den Umstand, daß ein Kondratieff gerade zwei Generationen umfaßt (die Generation zu 25 bis 30 Jahren gerechnet) die Konstanz der Dauer dieser Zyklen an. Das bedeutet, daß der 3. Kondratieff von 1898 bis 1952 einschließlich währt, der 4. 1953 beginnt und 2007 endet. Was sonst ‚Wirtschaftswunder' genannt wird und seit dem Sommer 1952 wirklich wahrnehmbar gewesen ist, ist demgemäß nichts anderes als die westdeutsche Gestalt der Prosperitätsphase des 4. Kondratieff. Zu sagen ist noch: Der 1. Kondratieff beginnt 1788, d. h. mit dem Beginn der industriellen Revolution. Die Verknüpfung von Dampf- und Arbeitsmaschine ist sein Signum.
P. Scheibert: Lenin an der Macht. Das russische Volk in der Revolution 1918–1922. Weinheim: Acta humaniora, 1984, S. 479. Der Autor meint gewiß nicht die ganze zweite russische Revolution, die hungernde Frauen im Interesse ihrer ebenso hungernden Kinder am 8. März 1917 in Petrograd eröffneten, sondern Trotzkis Übernahme der Macht namens des Militärischen Revolutionskomitees des Petrograder Sowjets am 6. und 7. November 1917 in Abwehr einer Attacke der Provisorischen Regierung auf die Nachfolgerin der seit Juli 1917 verbotenen bolschewistischen Prawda.
⁶  Wie zu hören ist, soll Herr Esser mit 60 Mill. DM für seine Managementtätigkeit bei Mannesmann abgefunden werden. Bedenkt man, daß ein promovierter Ingenieur beim von ABB übernommenen VEB Bergmann-Borsig mit 19.000 DM abgefunden worden ist, kann man erwägen, ob die gekonnte Vorstandsführung eines erfolgreichen Unternehmens das mehr als 3000fache einer ingenieurtechnischen Wirksamkeit wert sein kann. Das ist offenbar nur dann der Fall, wenn die Wertdetermination nicht nur von der verrichteten Arbeit, sondern auch von der davon unabhängigen Nachfrage innerhalb gegebener sozialer Beziehungen abhängt.
Marx, Engels: Werke (MEW), Band 4, Berlin: Dietz Verlag. 1971, S. 475. Wird die „Aufhebung des Privateigentums" positiv als Beseitigung des persönlichen Eigentums an Produktivvermögen bzw. als Herstellung des Gemeineigentums an den gegenständlichen Produktionsmitteln verstanden, so ist jede historische Erzeugung dieser Lage die Herstellung von Kommunismus. Dieser theoretischen Konsequenz kann man nur entgehen, wenn man sich mittels des Wortes Kommunismus am besten gar nichts denkt, sondern irgendeine Art säkularen Paradieses vorstellt, das irgendwann in der Zukunft eintreten soll. Im Gegensatz zu solcher phantasierenden Imagination plädiere ich dafür, unter den Begriff des Kommunismus eben die Gemeinschaften zu subsumieren, die persönliches Produktivvermögen und sozialen Austausch (also konvertible Währung) im Innern ausschließen.
Meine Sicht habe ich in dem Beitrag „Vom Platz der DDR in der deutschen Geschichte" formuliert; vgl. dazu die Zeitschrift Berliner Debatte INITIAL 9 (1998) 2/3, S. 22–38. Erweitert um die Daten, nach Juglar-Zyklen geordnet, ist sie erneut publiziert worden in: Konfliktforschung Aktuell. Wiss. Mitteilungen des Vereins für angewandte Konfliktforschung e. V. 7(1999)2–3, S. 44–79. Des Weiteren verweise ich auf meinen Artikel „Die kommunistische Antwort auf die soziale Frage", in: Berliner Debatte INITIAL 9 (1998) 1, S. 5–18. [Online unter: www.peter-ruben.de]
Die Identifikation des Kommunismus mit dem Sozialismus präsentiert Bucharin im Mai 1918 reflexionslos in seiner Schrift Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki): „Die Menschewiki ... verteidigen ... die parlamen-tarische Republik. ... Die Kommunisten aber, die ... die kommunistische (sozialistische) Gesellschaftsordnung verwirklichen wollen, müssen unvermeidlich für die Diktatur des Proletariats ... kämpfen." (Berlin: A. Hoffmanns Vlg., o. J., S. 20). Diese ‚Diktatur des Proletariats’ sieht Bucharin in der Räte-republik realisiert, in der „die nicht arbeitenden Klassen ... kein Stimmrecht haben und keinen Anteil an der Staatsverwaltung nehmen" (ebd.). Daß der Kommunismus gar keine Gesellschaftsordnung ist, sondern eine Gemeinschaftsordnung, die in ihrer rohen Gestalt die Gesellschaft gerade von sich ausschließt, ist die im folgenden zu verdeutlichende Auffassung, die ohne die Erfahrung des europäischen Kommunismus des 20. Jahrhunderts wohl schwerlich zu gewinnen ist.
¹⁰  Vgl. MEW, Band 19, S. 20.
¹¹  L. v. Stein: Die industrielle Gesellschaft. Der Sozialismus und Kommunismus Frankreichs von 1830 bis 1848. Hg. v. G. Salomon. München: Drei Masken Vlg. 1921. S. 123.
¹²  Ebd., S. 343–344.
¹³  Ebd., S. 346–347.
¹⁴  Ebd., S. 348.
¹⁵  Ebd., S. 124.
¹⁶ F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Leipzig: Fues's Verlag (R. Reisland) 1887.
¹⁷  Über meinen bisherigen Reflexionsstand vgl. P. Ruben: Gemeinschaft und Gesellschaft erneut betrachtet. In: Ethnohistorische Wege und Lehrjahre eines Philosophen. Festschrift für Lawrence Krader zum 75. Geburtstag. Hg. v. D. Schorkowitz. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1995. S. 129–148.
¹⁸  A. a. O., S. 32.
¹⁹ Ich unterstelle hier den Imperialismusbegriff Schumpeters. Vgl. Joseph Schumpeter: Zur Soziologie der Imperialismen. Tübingen: Vlg. v. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1919, Sonderabdruck aus dem ‚Archiv f. Sozialwiss. u. Sozialpol.’, Bd. 46, H. 1 u. 2.
²⁰  Das Wort Dienstleistung möchte ich wegen des darin verwendeten Gattungsterminus Leistung nicht ver-wenden und spreche daher kurz von „Diensten" mit der Bedeutung, Arbeiten in gewisser Arbeitszeit zu meinen, d. h. ein ökonomisches Produkt aus Arbeit und Zeit. „Leistung" meint gerade, wie weiter oben notiert, den Quotienten aus Arbeit und Zeit und ist daher nicht verwendbar.
²¹  Vgl. L. v. Mises: Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus. 2. Aufl. München: Philosophia Vlg. 1981.
²²  Vgl. M. Beyer / G. Winkler: Revolutionäre Arbeitereinheit. Eisenach – Gotha – Erfurt. Berlin: Dietz Vlg. 1975, S. 78.
²³ F. Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: MEW, Band 20, S. 251–252.
²⁴  Vgl. ‚Chronik der Wende’ vom 31. Januar 1990, ORB.
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