Peter Hille: Nordost
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Peter Hille
Nordost
Die Zeit ist vorüber. Die Wandervögel ziehen in hohen,
langhingewellten, schwarzen Geschwadern durch die grauen Lüfte. Und bisweilen
tönt aus unsichtbaren Höhen die Stimme des Herbstes, des Bußpredigers da oben,
des ernsten Himmels, wie ein Anruf von dannen, ein Sammeln und ein Ziehen, herb
und verhallend. Auch die Fremden zogen von dannen. Nur die Sinnigen blieben,
die es gerne haben, wenn es ernster und versunkener wird in ihrer Seele wie in
der großen Natur.
Aber auch die Natur will allein gelassen sein, wie
laut Detlev von Liliencron der Adel von Holstein. Und da ihr das zu lange
dauert, eh alles geräumt ist, so greift sie selbst zu und bricht das Gerümpel
ab, damit man es den Fremden in seiner unmittelbaren Nähe gemacht hat.
Da schwimmt hier eine Treppe, da ein Pfahl, nun bohrt
sich eine Laufplanke, mit Leinwand bezogen zum Schutz der zarten Damenfüße, mit
Stürmerwucht in den tannenglatten Strand.
Der rostentblätterte Anker ist fast ganz
eingeschwemmt, an seinen noch freien herzförmigen Zacken hängen wie wilde,
welke, vom Leben losgerissene Kränze gelber Verzweiflung, Büschel lohenden
Tanges und bläulich angelaufene Stranddisteln. Das Wrack aber, das seit den
Frühlingsstürmen hier festliegt, ist wieder lebendig geworden und führt den Vorgang
seines Untergangs noch einmal auf: es schluckt eine Sturzsee nach der anderen
und gibt sie durch die lecken Planken seines Rumpfes dem bis auf etwa zehn
Minuten hinein sandgelben Strandmeer wieder. Sprühgebüsche stieben über Deck.
Ganz in der Weite düstergrüne Schollen, wie aufgeworfener Kirchhofsrasen,
tobende Höhen, rasender Schaum, stürmende Berge, stürzender Jubel,
durcheinandergeschüttelte Winde, ein wild durchäderter Grabstein von gelbem
schluchzendem Marmor.