Peter Handke: Die Ballade des letzten Gastes
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Jörg Neugebauer
Peter Handke:
Die Ballade des letzten Gastes. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2023. 185 S.
24,00 Euro.
Kein Himmel -
oder doch?
Zu Peter Handkes
"Ballade des letzten Gastes"
In nur drei
Monaten - von September bis November 2022 - hat Peter Handke diese annähernd
200 hochliterarischen Seiten zu Papier gebracht, ein gewaltiges Schreibtempo,
das sich in einer gewissen Atemlosigkeit des Textes spiegelt. Wenigstens auf
den ersten Blick wird Sprache darin weitgehend weniger benutzt, um etwas zu
erzählen. Fast mehr nebenbei erfährt der sprach-faszinierte Leser, dass ein
gewisser Gregor (zumindest scheinbar nicht verwandt oder ver-schwägert mit
Kafkas Gregor Samsa) seinen wesentlich jüngeren Bruder verloren hat: Tod in der
Fremdenlegion. Das heißt, Gregor erfährt es selbst als Nachricht auf seinem
Handy, ziemlich früh schon, auf der neunten Seite des Textes. Da ist er, der
sonst "im vorletzten Kontinent" lebt, gerade dabei, wie alljährlich
einmal, seine Familie zu besuchen, das angestammte Geschlecht, das schon viele
Gregors hervorgebracht hat; er wird aber der letzte sein.
So stringent,
wie das jetzt klingt, wird das aber nicht erzählt, der Plot kommt fast eher als
Beiwerk rüber zu - ja was eigentlich? Derlei Fragen stellt der Erzähler sich
immer wieder auch selbst, der Leser wohnt zeitweise einem Selbstgespräch bei,
einem Dialog, der, jeweils kurz und knapp gehalten, das Erzählte reflektiert
und in Frage stellt. Punktuell werden, wie bei Handke gewohnt, eigene
Formulierungen hinterfragt, der Erzähler ist sprachlich stets vor sich selbst
auf der Hut.
So weit, so gut.
Der Familie verheimlicht Gregor den Tod des Bruders, bis er, unmittelbar vor
seiner Abreise, seiner Schwester davon berichtet. Und dazwischen? Die sieben
Tage dazwischen ist er, nach einer einzigen im Elternhaus verbrachten Nacht,
stets allein unterwegs, mit wachsender Neigung, in Wirtshäusern die Rolle des
letzten Gastes zu spielen. Er legt es darauf an, jeweils als letzter zu gehen.
Wohin? Einmal schläft er im Wald, ein andermal im "hintersten
Hinterzimmer" eines Gasthofs. Anson-sten scheint Gregor ständig wach zu
sein, ständig beobachtend und reflektierend. He, komm mal zur Ruhe! möchte man
ihm zurufen, mach's doch mal halblang. Gregor macht's aber nicht halblang,
sondern seinem Namen alle Ehre, der, wie der Erzähler verrät, altgriechischen
Ursprungs ist und "der Wache, Erwachte" bedeutet.
Ab etwa Mitte
des Textes mutet dieser zunehmend wie ein Selbstporträt des Autors an: So sieht
Gregor dem Autor Handke verdächtig ähnlich, wenn er sich als
"Chronist" versteht, der sein Berufsleben mit
"Ein-Mann-Expeditionen" zubringt. Und es gibt immer wieder
eingestreute Bezüge zur Odyssee, mit leicht genervter Betonung der
Langatmigkeit, mit der dort erzählt wird. Erzählen als
"Hinausschieben" - aber wessen, was wird dort hinausgeschoben: der
(eigene) Tod? "Das Erzählen als die ANDERE Scheherazade" heißt es im
Text - in Anspielung auf die Geschichten in "Tausendundeiner Nacht"
und deren Funktion, durch den Akt des Erzählens den eigenen Tod möglichst lang
aufzuschieben.
In der Familie,
die Gregor eine Woche lang nicht aufsucht (stattdessen durchstreift er tagsüber
"Dorfreste", also Überbleibsel früherer Dörfer, die mittlerweile zu
etwas Städtischem verschmolzen sind unter Verlust ihrer einstigen Identität),
in der Familie soll er, das wurde ihm gleich bei seinem Eintreffen gesagt, die
Rolle des Taufpaten übernehmen: Die deutlich jüngere Schwester hat einen Knaben
unbekannter Abkunft geboren, der von einem im Ruhestand befindlichen Priester
in einer nur zu diesem Anlass "reaktivierten" Kirche getauft werden
soll, und Gregor ist dazu ausersehen, das Kind übers Taufbecken zu halten. Mehr
oder anderes wird nicht von ihm verlangt.
Mit der
Schwester zusammen beweint er den toten Bruder. Die eigene Familie stellt er
sich am Ende als Wirtsleute vor - das Elternhaus als ein Gasthaus. Aber das ist
nur die Vorstellung. In der Realität sitzt er die letzten Abende in fremden
Gasthäusern, anstatt zuhause der letzte Gast zu sein. Dass er das wollte, wird
im Text aber nicht so gesagt. Überhaupt ist dieser sehr interaktiv angelegt -
immer wieder wird der Leser aufgefordert, sich manches selbst auszudenken. Der
Autor versteht sich nicht als Rundum-Lieferservice, der alles benennt und
erklärt. Neu sind die bei Handke sonst kaum zu findenden religiösen Motive,
speziell des Katholizismus. Der Priester - die Taufe - der wie ohne leiblichen
Vater gezeugte Knabe (den Gregor, als hätte er den Jesusknaben vor sich, übel
beschimpft, wie um ihn für die dunklen Seiten des Christentums verantwortlich
zu machen).
Aber es sind
bloße Motive, die Erzählhaltung ist nicht religiös. Stattdessen gilt:
"Kein Himmel mehr als der Himmel der Sprache".
NEU von Jörg
Neugebauer: Und jetzt erst sehe ich dich. Ein Quintett. Edition Noack &
Block, Berlin 2024