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Péter Esterházy: Wenn ich Ottó Tolnai wäre

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Foto: Wikipedia
Péter Esterházy:

Wenn ich Ottó Tolnai wäre


– der Tolnai und ich, würde denn jemand bei diesem Tausch verlieren? Er wäre sechzig, ich drei, und er hätte meine Hose an (nach Milne); im Großen und Ganzen wollte ich das sagen, aber ich fahre noch etwas fort,

wenn ich er wäre, dann schriebe ich so leicht einen Geburtstagsgruß, nicht mal leicht, sondern von selbst verständlich, so, dass man ihm die Gelegenheitigkeit gar nicht ansähe, denn bei ihm gibt es kein Gelegenheitsschreiben, weil alles das ist, alles ist Anlass zum Schreiben, und jedes Schreiben hat Anlass, Grund, Notwendigkeit und Legitimation, davon abgesehen, dass nichts es hat, es hatte, hat aber nicht mehr, in der Renaissance hatte es noch, nun aber nicht mehr,

wenn ich er wäre, dann stünde hier schon nicht mehr so ein grundsätzliches Dingsda, eine Erörterung, sondern was Konkretes, ich käme nicht nach, kleinsprecherisch zu sein, das Nichts, ein Apfel (meiner und deiner), ein Möwenbrustknochen, ein Golfplatz, eine Hopfenlaube, Ziegen, Indigowürfel, Grabinschriften, blonde Locken, Buchmockups, ein gusseiserner Gartenzwerg (20 kg), ein gusseiserner Kossuth (23 kg), ein gusseiserner Cupido (2 kg),

und die Geschichten natürlich, denn wenn, dann wäre ich voller Geschichten, sie quöllen mir aus den Ohren, wie Schweineschmalz, dann müsste ich mich nicht in Hrabal verkriechen, sondern nur in mich selbst (obwohl das – poetologisch gesehen – zweifelsohne nicht dasselbe ist), und ich würde nur reden, reden, reden, und das wäre so, als ob ich schriebe und schriebe und schriebe (nun, das ist auch jetzt so), und es wäre so, als ob ich redete, es wäre beinahe so, denn wenn es lediglich so wäre, dann könnte es nicht so sein, raffiniert, dieses tolnaische wäre so,

aber wenn, dann würde ich mich damit gar nicht beschäftigen, extra nicht damit beschäftigen, ich würde mich damit nicht thematisch beschäftigen, sondern meine Geschichten würden dauernd auch von meinen Geschichten handeln, und zwischen Geschichten über Geschichten und Geschichten nicht über Geschichten könnten wir gar nicht unterscheiden, dies ist auch eine Geschichte, dieses Garnicht, die Selbstdeutung ist Weltdeutung und umgekehrt, und wir wären noch immer beim Möwenbrustknochen und Schweinsledergürtel (mit dem wir einen kleinen Skandal verursachen, verursachten, verursacht hatten, aber angeblich hat der Herr Bischof gesagt, mit einer kleinen Routinebeichte sei der Fall des salzbeschlagenen Kautschukgürtels über-brückbar),

und so wäre schön langsam klar, dass wir einen Teil eines unendlichen Textes lesen, in jeder Faser des Textes wäre das Endlose, oder dasselbe anders gesagt, als schriebe es Fußnoten, beziehungsweise ich schriebe sie zu einem großen unbekannten Text,

wäre ich Gast eines großen unbekannten Textes (das drückt er so aus: Waisencsáth¹; einen Waisenesti² gibt es nicht, „Esti ist Waise“ aber, diesen Satz gibt es,

wenn, dann verstünde ich was vom Meer, als Ungar verstünde ich was vom Meer, wäre eine Rarität, das wäre schon Teil meines Jugoseins, ich wäre Jugo ohne Jugo, im Allgemeinen, was ich wäre, das wäre nicht (das kann man anders so sagen, dass ich Dichter wäre, mein Sein wäre dichterisch, und nebenbei wüsste ich, worauf Heidegger hinauswill),

ich verstünde was von Bildern, hätte Augen für sie, verstünde richtig was von ihnen, und das wäre kein profanes Wissen, sondern auch Wissen um mein Schreiben, und ich verstünde was von den Nachbarn, so wäre ich Osteuropäer, so verstünde ich jeden Winkel der Provinz, ihr Atemholen, dass sie nicht einen Moment durch Provinzialismus und Selbstmitleid gefährdet wäre, durch diesen vielleicht schädlichsten Zwillingsstern unserer Region, wandelte in Paris und New York, so wie rüber nach Kanizsa, hätte dafür Interesse, Leidenschaft und Freunde (piff-paff, dahin die schöne Kongruenz!), hätte Augen für die Welt, nah und fern, hätte also einen Platz in der Welt, die ich jetzt nur raunend bestaune, dieses scharfe und freundschaftliche Gemisch aus Verwaistem und Heimischem,

wäre Avantgarde, als hätte ich darin Tradition, aber das drösele ich nicht weiter auf,

ja, mein Gott, wenn ich Ottó Tolnai wäre, woher hätte ich wohl meine Schürze.

Aber ich will gar nicht Ottó Tolnai sein, wenn ich etwas sein wollte, was ich nicht bin, obwohl ich in meinen besseren Momenten ein bisschen Ottó Tolnai bin, arbeite auch daran, lerne, lerne es, sondern wäre gern Ottó Tolnais Freundeskreis, ein Fluidum der Freundschaft, ihr Fluss, als solcher, das denke ich als was Gutes, mit meinen abgedroschenen Worten als etwas Leichtes und Leuchtendes, wenn ich mich jetzt auch etwas in dieses Bild verwirrt habe, allerdings, wäre ich Ottó Tolnai, könnte ich mich darüber nur freuen, baute ich aus dieser Wirrnis heraus weiter, schließlich, erinnere ich mich gut, wären da in Palics in der Werkstatt des einarmigen Onkel Csápek ein – – – aber ich glaube, es ist nicht Hrabal, der aus Tolnai spricht, sondern Schwejk, beziehungsweise steht Hrabal auf Schwejks Schultern (Onkel Pepin), und darauf Tolnai, und darauf (das Manuskript, wie üblich, reißt hier ab; im rosafarbenen Geburtstagstaumel klingt das so, daran erinnert Tolnai: das Manuskript reißt ab, die Literatur geht weiter) –
 

Deutsch von Attila Ducsay

aus: Jelenkor 53 (2010) 7/8, S. 746-747.
anlässlich Ottó Tolnais 70. Geburtstag




¹ Géza Csáth (1887 – 1919) ungarischer Schriftsteller und Arzt, wie Tolnai aus Subotica stammend.
² (Kornél) Esti ist Held zweier Erzählungsbände von Dezső Kosztolányi (1885 – 1936), ungarischer Schriftsteller und Übersetzer, ebenfalls in Subotica geboren, Esti war aber auch Esterházys Spitzname in dessen Jugend und Titel eines seiner Romane.

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