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Peggy Neidel: weiß

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Dirk Uwe Hansen

wo leben wir denn



Rezensenten haben es gut: sie bekommen Bücher zu lesen und müssen sie nicht bezahlen. Und doch wäre ich diesem Band fast lieber in einer Buchhandlung (vorzugsweise einer kleinen Buchhandlung mit großer Lyrikabteilung) begegnet. Ins Auge gefallen wäre er mir dort mit Sicherheit. Denn es ist ein schönes Buch: gedruckt auf festem Papier, gediegen in blaues Leinen gebunden und mit einem Schutzumschlag so weiß und griffig, dass man Aquarelle darauf malen möchte, mit nur wenigen Textzeilen am oberen Rand, die immer und immer wieder übereinander gedruckt allmählich verloren- und nach unten hin im weißen Nichts aufgehen.
Und spätestens, nachdem ich das Buch als erfahrener Bücherflaneur hinten beim Inhaltsverzeichnis aufgeschlagen hätte, wäre mir der Kauf ein unvermeidliches Bedürfnis geworden: Schon die Überschriften der drei Abteilungen, in die die Gedichte gegliedert werden („es riecht nach Schwanken“, „ein formelastisch neuer aufprallschutz“, „contemporary soundso“), wecken erfreute Neugier, und dann bleibt das Auge auch noch unweigerlich an Kombinationen von Titeln hängen, die sich auswendig lernen lassen wie Gedichte:


niemand will fort
eine schicht nach der anderen
wir schlafen nicht mehr
im panikraum
wie lange leben wir schon in diesem zustand
je nach lichteinfall


Diese Äußerlichkeiten sind nun nicht etwa nebensächlich, denn sie spiegeln sehr genau den Eindruck wider, den die Lektüre der Gedichte auf mich gemacht hat. Die Sprache ist unaufgeregt und schlicht wie das Weiß des Umschlags und die Gedichte, die meistens recht kurz sind, gewinnen ihre Faszination immer wieder dadurch, dass sie scheinbar Unvereinbares aufeinander-prallen und so für einen kurzen Moment etwas Befremdliches, vielleicht Bedrohliches, aber immer neugierig Machendes hervorblitzen lassen:

ich kann meine zunge hören
der stahl reibt sich
an deinen sensoren, ja
ist alles wie immer zitrus
schmecke ich noch
nur keine haut mehr


Und wie auf dem Umschlag Text durch immer neue Überschreibungen allmählich zu reiner Oberfläche wird, scheinen die Gedichte Zeile für Zeile diese Oberfläche (das Weiß) aufzukratzen und darunter Zeilen aus immer anderen Schichten darunterliegender Texte auszugraben und neu zusammenzuführen („der wald bekommt etwas / das er nie haben wollte“), sei es in harmonischer Einfarbigkeit („wäre alles nur papier / wer würde zuckerkrank / schieß die schwäne / bis der hof weiß ist“), sei es in verwirrender Vielstimmigkeit („auf dieser bahn ohne parkplätze / mit atmosphäre hinter spiegeln / zusätzlich werden brillen getragen / an was sie denken?“).
Und wie sich erste Zeilen einzelner Gedichte im Inhaltsverzeichnis zu neuen Gedichten formieren wollen, so finden sich Gedichte, hinter oder zwischen deren Zeilen man ganze Welten weiterer Gedichte vermuten möchte:


nehmen sie diesen katalog
jemand bringt kaffee
versuchen sie kurven
auch mal migräne haben
sie gefrühstückt? nur als beispiel:
jene beweglichen beine der serviceeinheit
wie ein leichtes tier im ernstfall
lässt es sich schneller rennen


„eine schicht nach der anderen werfen sie mir über“ heißt eine der Zeilen. Peggy Neidel bricht diese Schichten auf und ihren Gedichten gelingt, was nur der Lyrik gelingen kann: das Sichtbarmachen der Metamorphosen unter der Oberfläche und dessen „was nicht in einen Rucksack passt“. Es lohnt sich, sie zu lesen.


Peggy Neidel: weiß. Gedichte. Hrsg. von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt, Ralph Lindner. Leipzig (Poetenladen Verlag) 2013. 70 Seiten. 16,80 Euro.

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