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Paul Celan: Die Gedichte

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Jan Kuhlbrodt

Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe von Barbara Wiedemann. Berlin (suhrkamp taschenbuch) 2020. 1262 Seiten. 34,00 Euro.


Wenn in der Vergangenheit große Kunstwerke sich als geschlossen darstellten, schreibt Adorno in „Ohne Leitbild“, und in der Sprache einfach identisch, so sei dies nur ein Phänomen ihrer Oberfläche. In Wahrheit seien sie aber "Kraftfelder, in denen der Konflikt zwischen der anbefohlenen Norm und dem ausgetragen wird, was in ihnen Laut sucht." Je energischer dieser Konflikt ausgetragen würde, umso höher rangierten sie. In zeitgenössischer Kunst bricht dieser Konflikt auch die Oberfläche auf.

In der neuen kommentierten Ausgabe der Gedichte Celans, die in diesem Jahr im Suhrkamp Verlag erschienen ist, kann man das nachvollziehen. Und zwar auf verschiedene Weise.

Mir trat bei einigen Celan-Gedichten, deren kristalline Form mich in den Jahren zuvor eher gefangen genommen hatte, als dass die Texte mich in einen bewegenden Zustand versetzten, bei der erneuten Lektüre vor allem ihr diskursiver Aspekt vor Augen. Vielleicht kann man sagen, dass mich die Texte bei erster Lektüre enorm einschüchterten, zumal ihnen der Ruf von Hermetik vorauseilte, und eher dieser Ruf als die materiale Gestalt der Texte verliehen ihnen die Verschlossenheit.

Denn um Kunstwerke herum entspinnt sich ein Diskurs, der von deren Gehalt induziert wird. Im Versuch, dem Werk auf den Grund zu gehen, ergeben sich Möglichkeiten der Interpretation und der Reformulierung, die das Werk selbst zwar nicht verändern, aber die Sicht, den Blick und das Bewusstsein, mit dem der Rezipient oder die Rezipientin sich dem Gedicht nähern. Auch die Hinsichten mögen sich zuweilen verschieben, von der Semantik beispielsweise hin zum Klang.

Zum einen las ich neben den Gedichten einen Berg von sogenannter Sekundärliteratur, Bücher über Celan, biografische Abhandlungen, aber auch solche, die sich unmittelbar auf einzelne Texte bezogen. Dabei gingen einzelne Arbeiten, zum Beispiel die Derridas und die von Waterhouse weit über den Status Sekundärliteratur hinaus. Sie entwickelten wiederum den Charakter eigener Kraftfelder.

Zum zweiten las ich vermehrt und verstärkt auch die wenigen Prosaarbeiten Celans, vor allem die Büchner-Preisrede „Der Meridian“ und die Aphorismen. Hier ergaben sich Zeit- und Sachbezüge, die die Ränder der eigentlichen Gedichte auflösten, die Gedichts selbst in einen Kontext, in ein Feld der Kunstproduktion stellten. Texte sprechen zu Texten und antworten auf Texte. Die Autonomie des Einzelwerkes ist ein Produkt im Kontext der Kunst.

Und letztlich beeindruckten mich auch und vor allem die im Band mit abgedruckten Arbeiten von Gisèle Celan-Lestrange zum Gedichtzyklus Atemkristall. Es handelt sich dabei um Radierungen, die Impulse der Gedichte aufnehmen, ohne in einen illustrativen Gestus zu verfallen. Sie bewahren also ihre eigene künstlerische Autonomie, indem sie den Gedichten beistehen, ihnen zusetzen, wie auch andersherum. Die Gedichte stehen den Grafiken bei. Jedes Werk also bleibt Kraftfeld für sich, aber in der Interaktion kommt es zu wechselseitigen Entladungen.  
    Natürlich erzeugte diese Betrachtung in mir den unbändigen Wunsch, die Arbeiten einmal im Original zu sehen, in Händen zu halten, in ihrer angestammten Aura gewissermaßen.

Diese neue kommentierte Ausgabe der Gedichte Celans ersetzt die Einzelausgaben, die ich bislang in meinem Regal stehen habe, nicht. Schon aus sentimentalen Gründen nicht, denn mir ist zumeist noch erinnerlich, wie ich zu den Büchern gekommen bin, beziehungsweise sie zu mir. Aber die Gesamtausgabe ermöglicht mir, nicht zuletzt eben durch den gründlichen Kommentar Wiedemanns, der zum Beispiel Daten zu den Entstehungsmomenten der Gedichte bereitstellt, eine erweiterte Lektüre, und eine Lektüre der historischen Bedingtheit der Texte. Dies führt zu einer enormen Erweiterung der Verständnismöglichkeiten.

Das Kristalline der Texte wird zum Prismatischen, die Lichtbrechung zum Bildgenerator, und von einer abschließenden Lektüre kann hinsichtlich der Texte Celans ohnehin keine Rede sein.


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