Patrick Wilden: Abgetaucht und Canzona
Montags=Text
Foto: Dirk Skiba
Patrick Wilden
Abgetaucht und Canzona
Abgetaucht
Ich werde schwimmen müssen
den trüb gewordenen Spiegel zerbrechen
und kein Boot und kein Bett
werden zur Rettung da sein
Ein warmer Eisberg werde ich sein
neun Zehntel davon unter Wasser
mit dem letzten Zehntel Atem schöpfen
die Wärme wird vergehen
der Herzschlag langsamer werden
immer langsamer bis nichts mehr
zu hören ist
Ich werde unter Wasser die Augen aufreißen
wie es Wasserleichen tun
all die munteren Wasserleichen um mich her
Wenn du das Schwimmen erst verlernt
wenn du die Schwimmbewegungen hinter dir gelassen hast
werden sie sagen dann
gehen dir die Augen über
deine grauen Wasserleichenaugen
Im trüben Nirwana wo ich mit den andern treibe
blinkt Metall bestrahlt von der Sonne
undeutlich sehen wir ihren Schemen
jenseits des Spiegels ohne die Sorge
von ihr verbrannt zu werden
verdutzt stelle ich fest daß es auch unter Wasser
Autos gibt Fabriken glänzende Häuser aus Glas
Woher kommt der Glanz werde ich fragen
und die anderen zur Formation gruppierten Wasserleichen
werden lachen mich knuffen und mit den Füßen
unterducken daß der Glanz bald verschwindet
und ich nur noch mit Plastikmüll
mit auseinanderbrechenden Wracks
und Laternenfischen auf einer Höhe treibe
doch vom Meeresboden wo Algenbäume stehen
Gärten mit wehendem Seegras
von den Haien und Delphinen kahlgefressen
vom Meeresboden habe ich
keinen Schimmer
Die in der Nähe flösselnden Meeresbiologen
wissen nicht woher diese Trübheit kommt
ihre Meßgeräte sind ausgeschaltet
Wir hatten einen Kurzen werden sie durch die Schnorchel
sagen
und mir ihre zerplatzten Bildschirme zeigen
und ich werde wissen daß sie lügen
daß sie jederzeit auftauchen und Atem schöpfen können
Mit Anstrengung gleite ich zur Seite
denn ein Zug rauscht auf einmal heran
und durch mich hindurch die Abteile
hell erleuchtet und leer
Sollten das die letzten Luftkammern sein
für uns hier unten frage ich mich und woher
hat der Zug seine Elektrizität
und ich höre wieder das Lachen
das Tuscheln und Kichern der Wasserleichenformation
fast freut es mich hier im Trüben
im Zwischenreich mit den toten Augen
bekannte Laute zu hören
Ich werde auftauchen müssen denke ich
den Spiegel durchbrechen wie ein Hecht
aus dem Wasser springen
und mich am Haken eines Sonntagsanglers
mit einem Eimer neben sich einer Zigarette
im Mundwinkel und einer halbgeleerten Flasche
in der anderen Hand verfangen
Wenn ich am Tisch sitze all das trübe Wasser
unter mir und die verschrumpelte Haut
langsam wieder glatt wird und mir
mein eigener süßer Wasserleichengeruch in die Nase steigt
werde ich glücklich sein getrocknet
die Augen dem Himmel zugewandt
dem Spiegel in dem das braune Licht
sich bricht
[unveröffentlicht]
© Patrick Wilden 2021
Canzona
Heiliger Dankgesang heiliger Bimbam
der Genesene ist eine historische Tat-
sache jemand der Dukaten brauchte
weil er essen wollte weil die Luft
noch nicht raus war aus ihm punktiert
oder nicht ein seelischer Aderlaß
molto adagio mit
Bindebögen
ein Choral ein tönendes schwebendes
Gebäude das immer mehr Ecken
bekommt die es ständig wieder
einreißt neue Kraft fühlend
beste Notenwerte drei bis vier Balken
und dennoch sanghaft
und ausdrucks-
stark und noch ein
Bogen und noch
ein sexthoher Sprung über den eigenen
Schatten es war das Herz ach
was ist das Herz so molto
adagio
schlägt es denn doch nicht
die Musik ist heute nicht allein
ich schlage sie auf ich öffne ihre
leinengebundene Hülle und
da liegt sie vor mir canzona
di
ringraziamento
welch schöne Worte
ich sehe sie und höre nichts doch
der Erfinder sah und hörte
wo jeder Taktstock kurz ins
Zittern geriete ob der kleinen
Zwinkeraugen die gegen seine
Schläge revoltieren mit
innigster
Empfindung Violino
I ich höre
zwei Krähen graublau wie der
Abend bevor ich sie sehe auf dem
Dach gegenüber als wieder Zeit ist
für intimissimo
sentimento sie
krächzen kontrapunktisch zur
schwebenden zwinkernden
auf und ab flackernden Musik
scheren sich nicht um den Vortrag
der Lautsprecherboxen entkommen
lässig zeitlupenhaft die Flügel
schlagend wie zitternd ich den Takt
während ich Klang bin zwei kleine
sich unsichtbar entfernende
Gottheiten so ganz unheilig in die
blaugraue Nacht dieses tauben
Chorals in der
lidischen Tonart
einer nicht mehr bestehenden Kirche
[unveröffentlicht]
© Patrick Wilden 2021
Patrick Wilden,
geboren 1973 in Paderborn. Kindheit und Jugend in Westfalen und der Region
Kassel, Studium in Tübingen. Lebt in Dresden und Leipzig. Lyriker, Rezensent
und Redakteur der Zeitschrift Ostragehege.
Erhielt 2000 den Würth-Literatur-Preis und 2016 ein Aufenthaltsstipendium der
Kulturstiftung Sachsen im Gerhart-Hauptmann-Haus in Jagniąt-ków, Polen. 2019 kam
als „Raniser Debüt“ sein Gedichtband Alte
Karten von Flandern heraus. Im Winter 2021/22 erscheint ein neuer Band bei
der Kölner parasitenpresse.