Patrick Wilden: "Ein metapolitischer Glücksfall"
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						Martin Kippenberger: Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken, 1984.
								Patrick Wilden
						
						„Ein metapolitischer Glücksfall“
Über Schwierigkeiten im Umgang mit rechtem
						Schreiben in Dresden
						
						„manche
						meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern. / werch ein illtum!“
						Wer kennt sie nicht, die Jandlsche „lichtung“? Die belgische Literaturzeitschrift
						„Deus Ex Machina“ (DEM) stellt diese emblematischen Verse an den Anfang ihrer ambitionierten
						Nummer 180, die schlicht „Rechts“ heißt: Es geht um rechte Autoren in Flandern,
						wo Deus Ex Machina erscheint, um rechte Literatur einst und jetzt, um rechtes
						Schreiben und was das sein könnte überhaupt. Die Redaktion bringt dabei den Mut
						auf, über ihren eher linksliberal geprägten Tellerrand zu blicken und sich auf
						die Schwierigkeiten einer Grenzbestimmung im literarischen Feld einzulassen.
						Gleichartige Unternehmungen renommierter deutschsprachiger Literaturzeitschriften
						sind mir nicht bekannt. Darum habe ich mich auf das Wagnis eingelassen, zumal
						auch der ‚Dresdner Fall‘ sich bei näherer Betrachtung viel komplizierter
						ausnimmt, als es in der verkürzenden medialen Diskussion erscheint. Ich habe
						diesen Text auf Anfrage aus Belgien verfasst, er erscheint in DEM 180 u.a. zusammen
						mit Auszügen aus Ingo Schulzes „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) und Heiner
						Müllers „Klage des Geschichtsschreibers“ (1993) in niederländischer Übersetzung
						und sei hiermit in seiner deutschen Originalversion zur Verfügung gestellt.
						
						Rechte Literatur, rechtes
						Schreiben, rechte Autoren in Deutschland – warum fällt mir, wenn ich darüber
						nachdenke, der Titel dieses Gemäldes von Martin Kippenberger ein? Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken.
						Das Bild wirkt wie eine wirre Ansammlung von Stuhllehnen, in flauen, eher
						düsteren Farben gemalt, analytischer Kubismus. Man stolpert über diesen Titel,
						auch wenn man das Gemälde nicht kennt.
						
						      Kippenberger (1953–1997) war ein unangepasster
						westdeutscher Maler, der zu Provokationen und einem skurrilen Humor neigte. Der
						Bildtitel beinhaltet einen hermeneutischen Zirkel, dessen wir uns nicht nur bei
						der Betrachtung des Gemäldes – auf dem tatsächlich kein Hakenkreuz zu sehen ist –, sondern auch beim rechten Schreiben,
						den Strukturen, den Autoren und ihrer Literatur
						bewusst sein müssen. Als Kippenberger das Bild 1984 malte, hatte er deutsche
						Geschichtsvergessenheit im Sinn. Die Genialität und Aktualität liegt darin,
						dass der suggestive Titel mit schöner Ironie ausdrückt: Doch, da könnte etwas sein. Die Erkenntnis liegt im Auge des
						Betrachters.
						
						Es geht hier nicht um Gemälde –
						wenngleich auch die Kunst noch zur Sprache kommen wird – und nicht um Hakenkreuze,
						denn dabei hört der Spaß bekanntlich auf,
						damals wie heute. Das „Institut für Staatspolitik“ (kurz IfS), der augenblicklich
						wohl wichtigste Thinktank der Neuen Rechten in Deutschland, bei dem auch Politiker
						der extrem rechten „Alternative für Deutschland“ (kurz AfD) ein und aus gehen, beruft
						sich eher auf die antidemokratische Konservative
						Revolution der 1920er Jahre. Sie wurde von Leuten wie Oswald Spengler, Carl
						Schmitt und dem jungen Ernst Jünger geprägt. Ihr Kredo formulierte Arthur
						Moeller van den Bruck mit den Worten: „konservativ ist, Dinge zu schaffen, die zu
						erhalten sich lohnt“. Der schwammige, aber enorm anschlussfähige Konservatismus-Begriff
						scheint bis heute gleich geblieben zu sein.
						
						Es gibt rechte Strukturen in der Literatur
						in Deutschland, sie sind erkennbar, hinterlassen Spuren in den Medien, im
						Internet, in den Köpfen der Rezipienten. In den literarischen Werken ist die rechte
						Tendenz hingegen desto weniger spürbar, je reflektierter sie sind. In Essays oder
						Preisreden wird auch mal eine eher schlichte politische Rhetorik entfaltet. Für
						Prosastücke oder Gedichte weitaus typischer ist ein Kokettieren mit nonkonformistischen,
						gegen Mainstream und gegen politische Korrektheit gerichteten Positionen, die inzwischen
						ebenfalls als rechts wahrgenommen
						werden. 
						
						      Ein wichtiger Stichwortgeber für
						die Neue Rechte war in neuerer Zeit der Dramatiker und Romancier Botho Strauß.
						Man muss die düstere Kulturkritik seines Essays Anschwellender Bocksgesang nicht teilen, um dem 1993 verfassten Text
						eine gewisse visionäre Kraft zu attestieren, die sich in ihrem Essentialismus
						gegen „eine bigotte Frömmigkeit des Politischen, des Kritischen und
						All-Bestreitbaren“, gegen die Postmoderne und ihre Spielarten richtet. „Der
						Rechte hofft“, heißt es bei Strauß, „auf einen tiefgreifenden, unter den
						Gefahren geborenen Sinneswechsel, auf die endgültige Verabschiedung eines nun
						hundertjährigen ‚devotions-feindlichen Kulturbegriffs‘ (Hugo Ball)“. Der Dada-Erfinder
						steht hier synonym für Traditionsverlust und Werteverfall. Da ist von „Konformismus“
						und von „Widerstand“ die Rede, von „Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream“.
						Götz Kubitschek, selber studierter Germanist, der zusammen mit seiner Frau, der
						Kritikerin Ellen Kositza, das „Institut für Staatspolitik“ im sachsen-anhaltinischen
						Schnellroda leitet, nannte nach dieser Passage die hauseigene Zeitschrift Sezession.
						
						Wie süßes Gift wirken solche Worte,
						wenn man bedenkt, dass die Betreiber des „IfS“ oder die Influencer der betont
						jugendlich auftretenden „Identitären Bewegung“ (IB) sie als kulturpolitischen
						Auftrag verstehen. Man spricht bei ihrem seit den 2000er Jahren verstärkt spürbaren
						Networking von Metapolitik. Eine Spur
						führt dabei auch in die sächsische Landes-hauptstadt Dresden. Unbedarfte Zuschauer
						des YouTube-Formats „Aufgeblättert. Zugeschlagen. Mit Rechten lesen“ mögen Ellen Kositzas vor
						Bücherregalen gefilmte und mit Klaviermusik unterlegte Plaudereien mit der Dresdner
						Buchhändlerin Susanne Dagen und einem wechselnden Gast über ausgewählte Neuerscheinungen
						als eine Neuauflage der legendären Fernsehserie „Literarisches Quartett“ ansehen,
						nur eben als Trio. Wäre da nicht der erklärte Rekurs auf die Rechten. 
						
						     Das Engagement der von Dagen geführten
						Buchhandlung „Buchhaus Loschwitz“, die ein ausgeprägt literarisches Programm anbietet,
						eine Bühne für Veranstaltungen betreibt und seit Anfang 2020 als Verlag mit der
						Publikationsreihe „EXIL“ in Erscheinung tritt, hat eine Vorgeschichte. Dagen initiierte
						im Jahr 2017 die sogenannte „Charta 2017“, mit der unter dem Banner der „Toleranz“
						gegen die Ausgrenzung neurechter Verlage wie „Antaios“ (IfS-Haus-verlag), „manuscriptum“
						und der Zeitschrift TUMULT auf der
						Frankfurter Buchmesse protestiert wurde – ausdrücklich in Anlehnung an Václav
						Havels berühmte „Charta 77“. Zu den Unterzeichnern des Textes, der einen „Gesinnungskorridor“
						des literarischen Mainstreams diagnostiziert und Deutschland auf dem Weg in
						eine „Gesinnungsdiktatur“ sieht, gehörten auch die Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp
						und Jörg Bernig. Das Opfer-Narrativ,
						das nicht davor zurückschreckt, die eigene Unangepasstheit „mit den Repressionen
						in der DDR und vor allem im Nationalsozialismus kurzzuschließen“, wie der
						Literaturwissenschaftler Torsten Hoffmann schreibt, gehört zur typischen Rhetorik
						der Neuen Rechten. Der neuen Verlagsreihe den Titel „EXIL“ zu geben, ist dafür
						symptomatisch. Mit ihrer kulturell, nicht wirtschaftlich-liberal geprägten
						Bürgerlichkeit – ein Spezifikum im Osten Deutschlands – „stellt Susanne Dagen“,
						so Hoffmann, „einen metapolitischen Glücksfall dar“. 
						
						Dresden, ostdeutsche Halbmillionenstadt
						mit bedeutender Kunst- und Musiktradition und einer Technischen Universität,
						gilt als traditionsbewusst und konservativ. Die alte Residenz sächsischer
						Fürsten und Könige mit ihren Kunstschätzen spielt im städtischen Bewusstsein ebenso
						eine Rolle wie die Zerstörung der barocken Altstadt in den letzten Wochen des
						Zweiten Weltkriegs, die noch heute von der extremen Rechten politisch vereinnahmt
						wird. Manche sehen darin, wie auch in der Flüchtlingskrise 2015, den Grund,
						warum die islamfeindliche PEGIDA-Bewegung, auf deren Veranstaltungen auch Götz
						Kubitschek sprach, ausgerechnet hier entstanden ist. Der aus Dresden stammende Schriftsteller
						Ingo Schulze hat die Mentalität der Dresdner Gebildeten in der späten DDR-Zeit
						als „ein Dagegenhalten, als ein Bestehen auf Unterschieden, sogar auf
						Hierarchien, gegen die grassierende Gleichmacherei“ der sozialistischen
						Staatsdoktrin beschrieben. In Uwe Tellkamps preisgekröntem Roman Der Turm, der im Dresdner Ärzte-,
						Verleger- und Künstlermilieu der 80er Jahre spielt, ist diese Form von Bürgerlichkeit als beeindruckendes
						Zeitgemälde erfahrbar.
						
						      Zu den ersten drei Titeln der
						EXIL-Reihe in der „Edition Buchhaus Loschwitz“ gehörte Tellkamps Im Atelier. In diesem Prosastück des
						1968 geborenen Dresdners, das stilistisch an den Turm anknüpft, besucht Fabian, ein Alter Ego des Autors, zwei Maler,
						die Entsprechungen in der Wirklichkeit haben. In Martin Rahe etwa ist der
						Leipziger Star-Künstler Neo Rauch erkennbar. Tellkamps schwärmerische, kenntnisreiche
						Kunst-Erörterungen kann man auf sich wirken lassen. Interessanter ist, wie ihm
						die Rahe-Figur zur Identitätsfindung dient: „Rahe beginnt mich abzutasten, erkundet
						mein Verhältnis zum Militär und zum Soldatentum“, zu „Disziplin“, ohne die es „Werke
						wie die Recherche, die Sixtinische Kapelle, die Bachsche und Mozartsche Musik“
						nicht gäbe. Das scheint zur Charakteristik von Rahes Kunst zu passen, habe man
						es bei dieser doch „mit einer Arena, einer Kampfstätte zu tun, etwas Ernstem und
						Schwerem und einer Kunst, die weniger spielen als eingreifen will“.
						
						      Der Kunstkritiker Wolfgang Ullrich
						hat sich mit dem echten Neo Rauch eine Kontroverse geliefert, über die er anschließend
						ein Buch mit dem vielsagenden Titel Feindbild
						werden veröffentlichte. Ullrich beschreibt darin zwei Kunstauffassungen, die
						er zu einem deutschen „Ost-West-Konflikt“ stilisiert. Auf der einen Seite gebe
						es die an der Warenwelt geschulte, zu konzeptuellen, oft ironischen Verfahren
						tendierende Postmoderne – Kippenberger & Co., sozusagen. Auf der anderen Seite
						stehe eine an Inhalten und Werten orientierte „kunstreligiöse“ Auffassung, die
						sich auf „Autonomie“ beruft und unter Betonung des Handwerklichen auch die Rolle
						des Künstlers traditionell höher bewertet – wie bei Tellkamps Protagonisten. „Pluralismus
						und Essentialismus sind zwei diametral entgegengesetzte Konfessionen“, die jedoch,
						so Ullrich, nicht direkt mit dem Links-Rechts-Schema übereinstimmten. In der
						Gestalt des Dresdner Malers Thomas Vogelstrom – dessen reales Pendant, Hubertus
						Giebe, sich übrigens gegen diese Darstellung verwahrt hat – formuliert Tellkamp
						in Im Atelier sehr wortgewaltig eine
						Kulturkritik aus essentialistischer
						Sicht, die sich genau auf diese Autonomie des Künstlers und den unvoreingenommenen
						Zugang zu intellektuellen Inhalten beruft: „hübsch artig in der Prosa, nett in
						den Pinseln, vernünftig in der Oper, ja nichts riskieren, ja nicht aufs Große
						Ganze, und ja kein Pathos, da kriegst du Dresche von denen, die bei allem, was
						nicht durchironisiert ist, gleich den gereckten Arm sehen“. Am Ende fragt
						Vogelstrom rhetorisch: „Ironische Kunst, was soll das sein?“ Martin Kippenberger
						lässt grüßen. 
						
						Zeitgleich mit Tellkamps Buch
						erschienen in der EXIL-Reihe unter dem verspielten Titel An der Allerweltsecke die von Reisen nach Serbien, Polen und
						Tschechien inspirierten Essays von Jörg Bernig. Der 1967 im sächsischen Wurzen
						geborene Autor machte im Jahr 2020 Schlagzeilen, als er sich im Dresdner Vorort
						Radebeul auf der Liste der AfD-Partei zum Kulturdezernenten wählen lassen
						wollte. Er hat über die Schlacht von Stalingrad im deutschen Roman promoviert,
						hat in seinen Romanen unter anderem die Vertreibung von Deutschen nach dem
						Zweiten Weltkrieg thematisiert und ist ansonsten als Verfasser von Lyrik bekannt,
						in der er – wie im Gedicht „es beginnt“ über das Frühlingserwachen in der Natur
						– auch mal Wehrmachts-Vokabular verwendet: „aber dann sickern über nacht die
						narzissenuntergrundkämpfer ein ins gelände / aus der luft kommt unterstützung:
						die starengeschwader und die zilpzalpjäger sind da / und es beginnt die
						großoffensive zur rückgewinnung der winterverlorenen gebiete“.
						
						    Bernig ist Vertreter eines
						kulturalistischen Identitätsbegriffs, der um ein nach dem mörderischen 20.
						Jahrhundert wieder erstarktes „Mitteleuropa“ kreist. „Heimat und Identität und
						Volk“ tönen dem in der DDR sozialisierten Nachfahren von Vertriebenen aus
						Nordböhmen wie „Märchenworte“ im Ohr. Orte der eigenen Familiengeographie sind
						für ihn „geheiligter Grund“ – eine typische Denkfigur für Autoren, die sich im
						Umfeld der Neuen Rechten bewegen. Dieser Grund und Boden ist bedroht. Durch die
						Zuwanderung aus islamischen Ländern würden in Europa „fremde kulturelle
						Konflikte“ ausgetragen, argumentiert Bernig. Bereits im Jahr 2016 brachte er es
						fertig, sich mit einer – nicht im Band abgedruckten – politischen Brandrede,
						die nur so strotzt vor migrations- und integrationsfeindlicher Rhetorik, für
						den sächsischen Literaturpreis zu bedanken und diese Suada zugleich als „Verteidigung
						der Aufklärung“ im Geiste Gotthold Ephraim Lessings, nach dem der Preis benannt
						ist, und Immanuel Kants hinzustellen.
						
						Monika Maron geht da viel subtiler
						vor. Sie ist die wohl prominenteste Autorin des EXIL-Programms von 2020. Ihr
						Essayband Krumme Gestalten, vom Wind gebissen
						enthält ausschließlich bereits publizierte Feuilletontexte und Reden, darunter
						im übrigen auch ihre eigene Lessingpreis-Rede, in der sie sich schon 2011
						kritisch über die Nichtintegrierbarkeit mancher Muslime äußerte. Wichtiger als
						der Inhalt des Bandes ist jedoch der Skandal, den er auslöste. Maron, eine 1941
						geborene Berliner Autorin, wurde 1981 mit ihrem ersten Roman Flugasche, der die Umweltzerstörung in
						der DDR thematisierte, auf einen Schlag berühmt. Weil ihrem Verlag S. Fischer die
						Kooperation des „Buchhauses“ mit dem „Antaios“-Verlag und der Neuen Rechten
						nicht passte, beendete er nach 40 Jahren die Kooperation mit Maron, was eine
						große Feuilletondebatte auslöste. Viele Kritiker sprangen der Autorin bei.
						
						       Dabei blieb unbeachtet, dass es sich
						bei ihrem etwa zeitgleich zum Dresdner Band noch bei S. Fischer erschienenen Artur Lanz um einen aufschlussreichen kulturkritischen
						Essay in Romanform handelt. Darin trifft die Ich-Erzählerin Charlotte Winter,
						wie die Autorin eine zu unangepassten Meinungen neigende, alternde Schriftstellerin
						in Berlin, auf einen ‚Mann ohne Eigenschaften‘ namens Artur Lanz. Dieser
						berichtet an einer Stelle, wie er, nachdem er seinen Hund aus einer eher banalen,
						aber gefährlichen Situation gerettet hatte, „ein fast heiliges Gefühl“ verspürte,
						eines, nach dem er sich „immer gesehnt hatte“. Plötzlich wird man als Leser mit
						Erörterungen über zeitgenössisches Heldentum traktiert und ist den suggestiven Meinungen
						der Ich-Erzählerin, zum Beispiel „dass das ganze Gerede vom Postheroismus eine
						Verschleierung unserer Feigheit war“, ausgeliefert. Das liest sich amüsant,
						weil Charlotte Winter überzeugend wirkt, wenn sie mit ihren Freunden Lady und
						Adam über die „Entmachtung“ der Männer oder „Ersatzkatastrophen“ wie die
						Klimakrise herzieht, und weil ihre Kulturkritik – an einer Stelle schmäht sie
						Jogger als „Vorfahren des hybriden Massenmenschen“ – geradezu in der Luft zu
						liegen scheint.
						
						       Auffällig ist, dass die Sympathieträger,
						die sich in Artur Lanz dem Mainstream
						widersetzen, zumeist von Ostdeutschen
						verkörpert werden, denen die Autorin eine gewisse Routine im Umgang mit Diktaturen
						zuschreibt. Im Umkehrschluss erhält dadurch auch die Wirklichkeit im Roman ein
						quasi-diktatorisches Gepräge. Den dramatischen Höhepunkt bildet die Entlassung
						von Lanz’ Kollegen Gerald, nachdem er in einem Post in den sozialen Netzwerken
						die Klimapolitik mit dem NS verglichen hat. Der „Ossi“ Gerald, mit seinem „Gehör
						für falsche Töne und verlogene Parolen“, erscheint als aufrechter Deutscher,
						weil er den Post partout nicht löschen will. Und sein farbloser Kollege Artur,
						der „Wessi“, wird, weil er Gerald verteidigt und mit ihm entlassen wird, zu einem
						zeitgenössischen Helden, der Autonomie
						fordert und – ganz im Sinne von Botho Strauß – Mut zur Sezession beweist, „der schützte und verteidigte, was er
						liebte, auch sich selbst“.
						
						Ist das rechte Literatur? Oder hat
						hier eine erfahrene Schriftstellerin nur zur Sprache gebracht, was ohnehin – für manche – offensichtlich
						ist? Spuren finden sich bei allen drei Autoren – in der vergifteten politischen
						Rhetorik von Bernig, in manchen Anspielungen und der essentialistischen
						Kunstmarkt-Kritik Tellkamps, in den manipulativen gesellschaftskritischen
						Spielereien von Monika Maron. Hakenkreuze sind hier keine zu entdecken, aber
						verräterische Topoi: Verteidigung des eigenen Bodens gegen kulturelle
						Überfremdung, intellektueller Kampf um künstlerische Redlichkeit, Sublimierung
						von Widerständigkeit zu modernem Heldentum. 
						
						       Das Etikett Rechts zu
						verleihen, birgt laut Wolfgang Ullrich die Gefahr, dass es „Parteien wie der AfD“
						in die Hände spielen kann. Diese Partei gewinnt im Bundesdurchschnitt zehn Prozent,
						im Osten Deutschlands, wo durch das DDR-Erbe der klassische politische Rechts-Links-Gegensatz
						viel weniger ausgeprägt ist, sogar ein Viertel der Wählerstimmen und versteht sich
						in Sachsen explizit als bürgerlich. Susanne Dagen sitzt mittlerweile für
						die extrem konservative Partei „Freie Wähler“ im Dresdner Stadtrat.
						
						     „Soll man wegschauen? Oder es als
						neue Normalität anerkennen?“, fragte Ingo Schulze 2020 in einem Zeitungsartikel,
						nachdem die drei hier vorgestellten Bücher erschienen waren. In der Stadt angekommen
						ist die neue Normalität spätestens
						mit den ersten gespenstischen Schweigemärschen der „Patriotischen Europäer gegen
						die Islamisierung des Abendlandes“, kurz PEGIDA, im Spätherbst 2014. Größere
						Beachtung fand auch Uwe Tellkamps Auftritt im März 2018 im Dresdner Kulturpalast,
						als er vor großem Publikum die deutsche Flüchtlingspolitik kritisierte und die Positionen
						der „Charta 2017“ verteidigte und sein ebenfalls aus Dresden stammender Schriftsteller-Kollege
						Durs Grünbein ihm geduldig widersprach. Auch Götz Kubitschek saß im Saal und
						beteiligte sich an der Diskussion. Ein Berliner Kritiker schrieb später über
						dieses Streitgespräch, das unter dem Schlagwort Streitbar! noch bei YouTube zu finden ist, dieser Abend habe
						gezeigt, dass „Meinungsfreiheit“ nicht bedeute, „für jede noch so krude oder zusammenfantasierte
						Meinung gleich Applaus zu bekommen“. Ich kann beim besten Willen kein
						Hakenkreuz entdecken. Leider ist damit längst nicht mehr alles gesagt.
						
						Dresden
						im März 2022
 
						
									Der Essay auf der belgischen Seite von DEM hier - http://deusexmachina.be/
								
							 
 
