Oswald Egger: Welten von A - Z: Kleines Vademecum zum poetischen Tun
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Astrid Nischkauer
Oswald
Egger: Welten
von A - Z: Kleines Vademecum zum poetischen Tun (Münchner Reden zur Poesie, 23).
München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2021. 41
Seiten. 12,00 Euro.
Die oder das Welten Oswald
Eggers
Wer die Zetafunk-tion kennt, kennt die Welt. Und dies ist nahezu wörtlich zu verstehen:
Oswald Egger denkt
in seiner Münchner Rede zur Poesie über seine eigene Poetik nach, indem er über
Mathematik, das Knüpfen von Fischernetzen oder die Spielregeln von Halma oder
Mühle spricht. Er tut das in Form eines Abecedariums das nicht nur in der Art eines
Lexikons mit Pfeilen immer wieder auf andere Einträge im Band verweist, sondern
auch über sich selbst hinausweist, indem auch Worte oder Begriffe mit Pfeil als
nachschlagenswert gekennzeichnet sind, zu denen es aber keinen eigenen Eintrag
in diesem Band gibt. Denn:
Es gibt zahllose andere Welten, und weitere, immer nochumfassendere Dinge.
Mit großem Staunen
werden fremde Welten beschrieben – Wort für Wort – da gerade von der
Fachterminologie ein ungeheurer Zauber ausgeht, ganz einerlei ob es sich um
englische Fachbegriffe für das Knüpfen von Fischernetzen handelt, oder um die
Teile des Magens von Wiederkäuern: (Sprach-)Wunder gibt es allüberall.
Es gibt Gegenstände, von denen gilt, dass esderlei Gegenstände nicht gibt.
Vielleicht ist
gerade die grenzenlose Neugier, die Oswald Egger fremder Materie entgegenbringt,
der Kern seiner Poetik. Und das, was er uns mitgeben möchte wäre damit: allem
und jedem mit ungeheurem Staunen zu begegnen, denn jedes Fachgebiet ist eine
Welt für sich und enthält, vertieft man sich darin, unzählige weitere Welten. Dabei
löst das Neugierigmachen einen Dominoeffekt aus:
Pi. – Die denkbare Zufälligkeit der Abfolge der Dezimalstellen von Pi[…] macht die Leistung des japanischen GedächtnismeistersAkira Haraguchi, der 2006 die ersten hunderttausend Dezimalstellenvon Pi fehlerfrei aus dem Gedächtnis rezitierte, gut sechzehn Stun-den lang, noch außergewöhnlicher. Haraguchi verwendete ein vonihm entwickeltes System, bei dem er Silben den Ziffern zuordnete, sodass Pi als eine Sammlung von Geschichten auswendig gelernt wer-den kann.
Denn lese ich das,
bin ich sofort neugierig auf die sechzehnstündige Pi-Geschichtensammlung, die
sehr gut und sehr spannend gewesen sein muss. Wobei fraglich ist, ob Akira
Haraguchi diese niedergeschrieben hat, oder als Geheimnis verwahrt nur in
seinem Gedächtnis aufbewahrt hat.
Das ABC alleinaufzusagen meint schon ein Wachsein in Sprache – ich gehe wort-wörtlich vor gegen unendlich und höre dort auf, endlich, im LMN derMischung der Elemente, buchstäblich, »zu sein«.
„Welten von A – Z.
Kleines Vademecum zum poetischen Tun“ ist ein schmales Bändchen mit kurzen
überschaubaren Textblöcken, womit es zugleich auch eine Einladung an all jene
ist, die sich bislang noch kaum oder gar nicht mit den Welten oder dem Welten Oswald
Eggers auseinandergesetzt haben. Es ist aber ebenso spannend für all jene, die
schon ein wenig oder auch mehr oder sehr viel von Oswald Egger gelesen haben,
da er ganz nebenbei auf vorhergehende Publikationen verweist, indem er eigene
Buchtitel einstreut („Inkrustation als Triumph der Farbe“), ihnen gleich ganze
Einträge widmet („Val di Non. –“)
oder uns direkt mit Pfeil zum Nachschlagen im jeweiligen Buch auffordert („Buntordnung. → Gnomen und Amben“). Auch werden große Themen
angesprochen, die er bereits in eigenen Bänden verhandelt hat, wie Mathematik
(„Diskrete Stetigkeit. Poesie und Mathematik“), Farben („Triumph der Farben“),
Fließlinien („Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich
träume jetzt.“), und viele mehr.
Ist? Sinn? Form? Ist Unsinn keine? Hat keinen Sinn keine Form?
Mir erscheint
seine Münchner Rede zur Poesie wie das dünne Heftchen einer Spielanleitung und
genauso ist es vielleicht auch zu handhaben. Eine Spielanleitung ist dann
gelungen, wenn man die Regeln verstanden und verinnerlicht hat und damit die
Spielanleitung beiseitelegen und sich ganz auf das Spiel konzentrieren kann.
Mühle. – Viele Spiele (auch der Sprache) erfordern und ermöglicheneine ständige Änderung der Strategie, während das Spiel Zug um Zugfortschreitet.
Die Dynamik des
Spieles hängt dann sehr stark von den jeweils Spielenden ab, auch dieser
Tatsache ist sich Oswald Egger bewusst, wenn er von der Mühlespieltechnik
seiner Großmutter erzählt: „Die Vollendung des Mühlespiels bestehe ja darin,
gegnerische Spieler zugunfähig zu machen ohne einen Stein zuvor zu
eliminieren.“ Bei den Mühlespielen mit meiner Großmutter ging es eher ums
genaue Gegenteil: Die größte Freude bereitete es uns immer, wenn einer von uns
eine „Klipp-Klapp-Mühle“ gelang, also eine Doppelmühle, die zumindest für kurze
Zeit für die eine Seite ungestörte Bewegungsfreiheit bedeutet. Eine
Klipp-Klapp-Mühle zustande zu bringen heißt noch lange nicht, dass man auch gewinnt,
aber uns ging es gar nicht so sehr ums gewinnen, sondern mehr ums schöne Spiel.
Halma. - […] Die Figuren bewegen sich innerhalb des Liniennetzes von Punktzu Punkt, also immer nur schräg vorwärts, schräg rückwärts oderseitwärts.
Über das eigene
Schreiben zu sprechen, indem man über Regeln gängiger Spiele referiert, ist
eigentlich naheliegender, als es zunächst vielleicht erscheinen mag. Denn die
Sprache folgt ebenfalls (grammatikalischen) Regeln und auch literarische
Gattungen stellen ihre eigenen Regeln auf. Besonders augenscheinlich wird die
Parallelität von (Spiel-)Regeln und Literatur von der Gruppe OuLiPo vorgelebt.
Denn das „Schreiben unter Zwängen“ der „Werkstatt für Potenzielle Literatur“
ist nichts anderes als das Aufstellen neuer eigener Regeln vor dem
Schreibprozess und für den Schreibprozess. Man denke nur an den Roman „La Vie. Mode
d’Emploi“ („Das Leben. Gebrauchsanweisung“) von Georges Perec, in dem nach dem
Prinzip des Rösselsprunges erzählend in einem Haus von Zimmer zu Zimmer
gesprungen wird, genauso wie sich der Springer auf einem Schachbrett
fortbewegen kann.
Löcher – Nichtereignisse –, Zeiträume, in denen nichtsgeschieht, nichts eintritt, nichts erfolgt: Ununterbrechungen. In derGeometrie des Raumes sind diese Faltenpunkte bisher meistens un-benannt geblieben.
„Welten von A – Z“ ist ein sehr welthaltiger
Band, der damit seinem Namen durchaus gerecht wird. Die kurzen Einträge zu den
einzelnen Begriffen sind hochkonzentrierte Essenzen. Jeder davon enthält
unzählige Gedankenanstöße und Anregungen zum philosophischen Nachsinnen:
Von Jetzt auf Gleich erstreckt sich »dass«,aber nicht »wie« die ganze Zeit vergeht, dabei: vom »Vom« zum»Zum« ineinander übergehend, ununterdessen unaufhörlich andau-ernd, fast unbenommen pausenlos Woche um Woche, Wort für Wort,Ton in Ton verwoben, stets und doch wechselständig, fortwährend,unentwegt, von Klippe zu Klippe, in einem fort:
Bei all diesen
Überlegungen über scheinbar weit entfernte Themen geht es eigentlich und auch
uneigentlich jedoch immer um Poesie und Sprache.
Grenze. – Terminus, bei den Etruskern der Gott der Grenze, dasWort, welches dieses von jenem abgrenzt, zum Begriff geworden istund, die eine Bedeutung von der anderen trennend, zum beweglichenOrt wird: der Übertragung, der Übersetzung, des Borgens und Ver-bergens.
Oswald Egger gibt
darin Aufschluss über die unzähligen Quellen aus denen sich sein Schreiben speist,
wie beispielsweise mathematischen Überlegungen und Fragestellungen, Etymologie,
griechische Mythologie, Spielanleitungen, Handwerkskunst und Fachterminologie, oder
auch der Lihe Shi-Poesie: „seltsamen, andersartigen Gedichten“ in der Dunhuang-Poesie:
Wortkopplungsgedichte, der Verfertigungs-und Verfahrensweise nach Auftrennungs- und Verschmelzungs-Gebil-de, unversilbt zwischen Wortsatznetzen und Satzworten »unvermas-selt, in Gänze«:
Der Untertitel
lautet „Kleines Vademecum zum poetischen Tun“. Vademecum findet man auf
Wikipedia folgendermaßen erklärt:
Ein Vademecum ist ein Heft oder handliches, kleinformatiges Buch, das als nützlicher Begleiter bei der Berufsausübung, auf Reisen oder in sonstigen Lebenslagen am Körper in einer Tasche mitgeführt werden kann. Im weiteren Sinne versteht man darunter heute auch ein Titelwort für Handbücher, Leitfäden und Ratgeberliteratur aller Art.
Damit ist „Welten
von A – Z“ zweierlei: eine Poetik des Schreibens von Oswald Egger, dank der es
möglich wird, seine Werke umfassender und tiefgreifender zu verstehen. Und ein
Handbuch für eigenes poetisches Tun, das zahlreiche Anregungen und praktische
wie unpraktische Anleitungen, Fortleitungen und Weiterleitungen enthält:
der Makkaronismus bedient sich der Technik, dasser von der einen Sprache die Grammatik (Morphologie und Funkti-onswörter), von der anderen den Wortschatz bezieht:
„Welten von A – Z“
ist eine einzige „Gedankenhäufung“, in der es „ununterdessen im jetztweiligen
Aspekt“ zu „Verwirbelungen im Wortfeld“ kommt, wir „Undlos in
Wegzusammen-hängen“ „runden Vierecken“ begegnen und lernen, „Parallelfältelungen
zu – umpalmen“. Es bereitet damit größtes Lesevergnügen und ist in jeder
Hinsicht empfehlenswert. Lesend hüpft man so von Wort zu Wort – ins Offene: