Ostragehege, Heft 97 (2020)
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Ostragehege,
Zeitschrift für Literatur und Kunst, Heft 97 (2020)
„War ein Sturm in mir
oder war ich still?“

Literarische
Grenzüberschreitungen beginnen oft mit einem Knall, mit dem alle guten
stilistischen Manieren weggesprengt werden. Die amerikanische und europäische
„Underground“-Literatur der 1960er Jahre erhob beispielsweise die Obszönität zur
literarischen Primärtugend. Als eine Virtuosin auf diesem Feld einer Poetik des
Obszönen exponierte sich auch die Prager Autorin Jana Černá alias Honza
Krejcarová, die Tochter von Franz Kafkas Geliebter Milena Jesenská. Bereits
1948/49 schrieb Černá Gedichte mit einem für damalige Verhältnisse drastischen
Programm provokativer sexueller Entgrenzung. Ihre poetische Topik konzentrierte
sich dabei auf eine demonstrative Apologie des sexuellen Begehrens und die
möglichst grelle Ausleuchtung von Intimität. Diese Poetik des Obszönen verband
sich mit einer Entmystifizierung des Schreibakts: „Ich begreife nicht, warum
die Menschen, die sich mit Poesieerzeugung beschäftigen, glauben, dass diese
Poesie für irgendetwas gut sein soll. Warum geraten sie in die absurde Lage,
für Menschen zu schreiben, die sie nichts angehen und denen sie, für das
erhaltene Honorar, nicht einmal einen kleinen Rum kaufen würden.“ Mit dieser
rabiaten Poesie des Körpers hatte sich Černá in der damals auf die Doktrin des
„sozialistischen Realismus“ eingeschworenen Literaturlandschaft der
Tschechoslowakei einen Ruf als Femme fatale erworben. Im Alter von 52 Jahren
starb sie 1981 nach einem Autounfall. In Deutschland ist Černá kaum bekannt,
daran hat auch ein ihr gewidmeter, 1992 produzierter Dokumentarfilm („Sie saß
im Glashaus und warf mit Steinen“) nichts geändert. Nun taucht Jana Černá
wieder auf, und zwar im Kontext eines Dossiers zur tschechischen Poesie, das der
tschechisch-österreichische Autor Ondřej Cikán für
die aktuelle Ausgabe, die No. 97, der Dresdner Literaturzeitschrift Ostragehege
zusammengestellt hat.
Diese
„Zeitschrift für Literatur und Kunst“ wird außerhalb Dresdens noch viel zu
wenig wahrgenommen, was nicht nur auf die branchenübliche Übermüdung von uns
Büchermenschen zurückzuführen ist, sondern auch auf die Weigerung, hier mal
genauer hinzusehen. Seit vielen Jahren beeindruckt Ostragehege nämlich
nicht nur durch sorgfältig zusammengestellte Dossiers europäischer
Nachbarliteraturen (mit einer besonderen Vorliebe für die tschechische
Gegenwartspoesie), sondern auch durch exzellente Porträts zu zeitgenössischen
Bildenden Künstlern. Hinzu kommen die elementare Rubrik „Lagebesprechung“, in
der regelmäßig vielversprechende junge Lyriker*innen vorgestellt werden (in der
No. 97 liefert Paul-Henri Campbell einen schönen Essay zu Lara Rüter) – und
nicht zuletzt durch herausragende Werk-Gespräche mit Schriftstellern. Das ist
vor allem das Verdienst des Ostragehege-Redakteurs Axel Helbig, dessen
Gespräche mit Dichter*innen unterschiedlichster Provenienz sehr lehrreich sind,
da sie auf genauer Textkenntnis beruhen und letztlich als akribische Erkundung
der Werkgeschichte des jeweiligen Autors angelegt sind. In Heft 93 hatte Helbig
mit dem Dichter Hendrik Jackson gesprochen und ihm einige elementare Sätze zu
seinem Gedichtband „Panikraum“ (Kookbooks, 2018) entlockt: „Es gibt etwas, das
das ganze Leben mitstrukturiert, aber kaum angesprochen wird, weil es kaum
auszuhalten ist und deshalb selbst die größten Autoren unausgesprochen lassen:
Das ist die Angst vor dem eigenen Verschwinden. Alles, was mit Panik zu tun
hat. Ich habe mich wie in einem Experimentierraum hingesetzt und mir gesagt:
Ich muss das wissen. … Ich habe dann Panikzustände systematisch herbeigeführt.
Ich habe mich meditativ ins Verschwinden versenkt, um diese Panik zu
erforschen, um zu sehen, was es damit auf sich hat.“
Im
aktuellen Heft 97 sind der Redaktion mit der Vorstellung faszinierender
Dichtergestalten wie Jana
Černá und des Genfer Autors Philippe Rahmy phänomenale (Wieder)Entdeckungen
gelungen. Der Westschweizer Rahmy litt in seinem kurzen Leben (1965-2017) an
der Glasknochenkrankheit, die ihn zeitlebens in den Rollstuhl zwang. In Ostragehege
werden von Rahmy zwei Textstücke von existenzialistischer Wucht präsentiert,
die alle naiven Vorstellungen von personaler und geschlechtlicher Identität
zertrümmern: „Zum Glück bin ich mit Wunden übersät zur Welt gekommen, der
Schädel von der Geburtszange eingedrückt, die Glashände zwischen den Schenkeln
meiner Mutter zerbrochen, so dass niemand daran gedacht hat, mir ein Geschlecht
zuzuweisen.“ Die ganze Existenz, so suggeriert die verstörende Prosa Rahmys,
ist seit der Geburt ein Konstruktionsfehler, das Leben ist nur im Status der
Dysfunktionalität zu führen, eine einzige Tortur. Die Prosa Rahmys ist in Ostragehege
Teil eines Dossiers über Schweizer Gegenwartsliteratur, das der Publizist Beat
Mazenauer komponiert hat. In diesem Dossier wird man auch überrascht und
beglückt von den Wolken-Poemen Martin Bieris, der die Wolken nicht zum
mythologischen Himmelsgewölk auflädt, sondern erstmal als Produkte aus dem
Labor betrachtet. So auch in seinem Gedicht über „die Cloud“: „War ich
tonnenschwer, wie Wolken sind,/oder war ich leicht, wie sie scheinen?// War ein
Sturm in mir oder war ich still,/war ich Masse, Wasser, war ich Eis?// Wie brechendes
Licht durch den Dampf,/ gingen die Algorithmen durch die Daten;// diese Albedo, das bin ich, meine Summe/ die
Zeichen einer numerischen Existenz.“ Bis auf weiteres bleibt das Gedicht und
mit ihm das Ich, das die Reflexionsstrahlung über das Weiße der Wolke
nachvollzieht, in seinem Idealzustand – nämlich in der Schwebe.
Ostragehege,
Zeitschrift für Literatur und Kunst, Heft 97 (III/2020), c/o Aron Koban,
Osterbergstraße 23, 01127 Dresden. www.ostra-gehege.de, 122 Seiten, 4,90 Euro.