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Ostap Slyvynsky: Im fünften Jahrtausend erwachen

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Jan Kuhlbrodt


Die Zukunft der Vergangenheit

zu den Gedichten Ostap Slyvynskys


Weiters die Geschichte über den Fisch, in dessen Magen sich
         Blindgängermunition fand,
         es heißt,
manche Fische werden siebzig Jahre alt.


Es ist einige Jahre her, dass ich mit Ulrike Almut Sandig die Literaturzeitschrift EDIT redaktionell betreute. Damals erhielten wir eine Anfrage bezüglich einer Kooperation mit der Zeitschrift Radar, die viersprachig erscheint, Deutsch, Polnisch, Ukrainisch und Weißrussisch. Gerne erprobten wir eine Zusammenarbeit aus der eine gemeinsame Veranstaltung in Leipzig resultierte, auf der ukrainische und weißrussische Dichterinnen und Dichter präsentiert wurden. Darunter Ostap Slyvynsky.
Ich erinnere mich sehr gut, dass ich vor allem von seinen Texten mehr als angetan war. Nun ist in der edition.fotoTAPETA eine Auswahl seiner Gedichte aus den Jahren 2008 bis 2016 erschienen. Die Texte sind entgegen der Chronologie ihrer Entstehung angeordnet. Man könnte so etwas wie Hoffnung ausmachen, aber diese liegt in der Vergangenheit.


Übersetzt wurden die Texte von Claudia Dathe, deren Engagement für ukrainische Dichtung nicht zu überschätzen ist. (Unter anderem zeichnet sie für ein Dossier im Schreibheft 86 verantwortlich, das einen Einblick in die futuristische Tradition in der Ukraine gewährt.)
Der Band von Slyvinski heißt: Im fünften Jahrtausend erwachen. Und was wie ein Rückgriff auf eine futuristische Tradition klingen mag, hat einen sehr ernsten Hintergrund.
In der Ukraine herrscht seit einigen Jahren ein Krieg, dessen Meldungen schon eine alltägliche Qualität angenommen haben. Fast scheint es, als könne man das Land ohne die ständig wieder aufkeimenden Kämpfe zwischen russischen Separatisten und der Ukrainischen Armee gar nicht mehr denken. Und diese anhaltende Bedrohungslage hat sich auch tief in die Dichtung Slyvinskys eingegraben.


Regen im Schlaf erinnert an das Klirren von Stahl. Wir
         verriegelten die Tür
von innen und legten eine Falle für den, der uns
wecken will.


Seine Gedichte sind erzählend. Sie beschreiben alltägliche Situationen, die man fast profan nennen kann. Ein Liebespaar zum Beispiel fährt gemeinsam auf einem Fahrrad. Sie füttert ihn, derweil er fährt, mit Haselnüssen. Im Verlauf des Textes aber wird klar, dass ihr Ziel der Bahnhof ist, und er mit dem Zug zur Front fahren wird.
Das Erschreckende an diesem Gedicht ist seine überzeitliche Geltung. Es kann aus der Zeit des Bürgerkrieges um 1920 stammen, genauso gut könnte es auch während des Zweiten Weltkrieges entstanden sein, aber es ist aus dem zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, und das, was wir Fortschritt zu nennen gewohnt sind, zerstiebt in den aktuellen Kampfhandlungen.

Die Geschichten wiederholen sich ständig, da schießt eine
         betrunkene Lappländerin
auf ihren Mann, weil sie ihn für einen Bären hält, und so gibt es
für die nächsten zwanzig Jahre Alkoholverbot, da schickt man
         einen Amerikaner und eine
Russin auf die Erdumlaufbahn, um die Befruchtung
in der Schwerelosigkeit zu erforschen, nach einer Rekorddosis
         Kokain spricht Courtney Love mit der Stimme
des verstorbenen W. H. Auden.



Ostap Slyvynsky: Im fünften Jahrtausend erwachen. Gedichte. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Berlin (edition.fotoTAPETA) 2017. 72 Seiten. 10,00 Euro.

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