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Óskar Árni Óskarsson: Wo sind die Hüte?

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Foto © Áslaug Agnarsdóttir
Óskar Árni Óskarsson

(aus: Ljóðbréf Nr. 8 / Poesiebrief Nr. 8, hrsg. v. Dagur Hjartarson und Ragnar Helgi Ólafsson, Tunglið forlag, Reykjavík 2024)

Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer

WO SIND DIE HÜTE?

Ich gehe durch hutlose Straßen. Wo sind die Hüte?
Als ich jung war, trugen die Männer Hüte. Auf dem Heimweg
vom Büro ging ich gewöhnlich zu einem Fischladen.
Vor lauter Hüten konnte man das Gesicht des Fischverkäufers nicht sehen.
Zwei Schellfischfilets, danke! Daraufhin zog ich den Hut und all
die anderen Hüte im Laden bewegten sich ein wenig und die Tür
ging hinter mir zu. Was ist aus all den Hüten geworden? Frau
Elín im Grundarstígur* trug einen Hut. Und Kjarval**
trug einen Hut. Sogar Bjarni, der Straßenkehrer, trug einen Hut.
Guten Abend, sage ich und ziehe den eingebildeten Hut,
als ich die Vitabar betrete.

*Eine Straße im Zentrum von Reykjavík
**Jóhannes Sveinnson Kjarval, isländischer Maler (1885 – 1972)



HVERAGERÐI***

Ich bin allein im Schwimmbecken. Es ist ein Abend im Oktober.
Sanfter Sprühregen und im Hot Pot wird Holländisch gesprochen.
Plötzlich sehe ich im Wasser etwas glänzen. Mir scheint,  
es ist ein Fisch, der da über den Boden schießt.
Jetzt kommt er an die Oberfläche. Und er springt!
Es ist eine Forelle! Keiner sieht dies außer mir. Gemeinsam
schwimmen wir im allmählich zunehmenden Regen.
Vom Schwimmen auf dem Weg nach Hause
gehe ich an der Varmá entlang. In der Tiefe
unter der Brücke steht eine Forelle; der Dampf
steigt auf vom Bach und in der Ferne kann man
ein kleines Flugzeug hören. Das Geräusch des Triebwerks
kommt näher und jetzt kommt das Flugzeug aus dem
Dunkel heraus und für einen Moment erkenne ich undeutlich
das Gesicht des Piloten.
*** Stadtgemeinde im Süden Islands


Óskar Árni Óskarsson wurde am 3. Oktober 1950 in Reykjavík geboren, wo er auch heute noch lebt. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete er als Bibliothekar an der National- und Universitätsbibliothek von Island. Seit seinem ersten Gedichtband, Handklæði í gluggakistunni / Ein Handtuch auf der Fensterbank, erschienen 1986, hat er mehrere weitere Gedichtbände und Kurzprosasammlungen veröffentlicht, sowie Gedichte und Prosa aus anderen Sprachen ins Isländische übersetzt, so z. B. drei Bücher mit Übersetzungen des japanischen Haiku. Auch erschienen Übersetzungen von Büchern der Autoren Raymond Carver, William Saroyan und Carson McCullers. Óskar Árni Óskarsson war Herausgeber und Verleger der Lyrikzeitschrift Ský / Wolken, die in den Jahren 1990-1994 erschienen ist, sowie Mitherausgeber von Þrjár hendur / Drei Hände, einer Reihe von Kurzgeschichten und Gedichtbänden, die seit 2019 erscheinen. Die Lyrik von Óskar Árni Óskarsson ist in zahlreichen Zeitschriften und Sammlungen in Island und im Ausland erschienen. 2012 erschien im Transit Verlag in deutscher Übersetzung sein Familienporträt Das Glitzern der Heringsschuppe in der Stirnlocke.

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