Oscar Wilde: Der Verfall der Lüge
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								Oscar Wilde
						
						Der Verfall
						der Lüge.
						
						Ein Dialog.
Übersetzt von Felix Paul Greve
Personen:
						Cyril und Vivian.
						
						Ort: 
Die Bibliothek eines Landsitzes der Grafschaft Nottingham.
Die Bibliothek eines Landsitzes der Grafschaft Nottingham.
Cyril.
						
						( von der Terrasse her durch die offene
						Glastür eintretend).
						
						Aber Vivian, versteck' dich nicht den ganzen Tag
						lang in der Bibliothek! Es ist ein entzückender Nachmittag. Die Luft ist
						wundervoll. Über dem Walde liegt ein Nebel, purpurn wie der duftige Hauch der
						Pflaume. Komm, wir wollen uns ins Gras legen und Zigaretten rauchen und die
						Natur genießen. –
Vivian.
						
						Die Natur genießen? Gott sei Dank! das habe ich
						längst verlernt. Man sagt, die Kunst lehre uns die Natur mehr lieben, als wir
						sie früher liebten, sie offenbare die Geheimnisse der Natur und wir, mit Corot
						und Constable vertraut, sähen Dinge in ihr, die sich unserm Auge entzogen
						hatten. Meine Erfahrung aber ist die: je mehr wir die Kunst studieren, um so
						weniger kümmert uns die Natur. Was uns im Grunde die Kunst von der Natur
						offenbart, das ist ihr Mangel an planvoller Absicht, ihre seltsame Ungeschliffenheit,
						ihre furchtbare Eintönigkeit, das ganz Unfertige ihres
						Zustands. Zweifellos hat die Natur ›den besten Willen‹, aber, wie Aristoteles
						einmal sagt, sie kann ihn nicht ausführen. Wenn ich eine Landschaft betrachte,
						sehe ich auch gleich all ihre Fehler. Freuen wir uns aber, daß die Natur so
						unvollkommen ist, da wir sonst die Kunst nicht hätten. Die Kunst ist ein
						flammender Protest, ein ritterlicher Versuch, die Natur in ihre Schranken
						zurückzuweisen. Das berühmte Gerede von der unendlichen Mannigfaltigkeit in der
						Natur ist nichts als ein Mythus. Sie ist in der Natur selbst gar nicht
						vorhanden. Sie entspringt dem Denken, der Phantasie, der künstlerischen
						Blindheit dessen, der die Natur betrachtet.
						
						Cyril.
						
						Nun! Du brauchst ja die Landschaft nicht
						anzusehen. Du kannst im Grase liegen und rauchen und plaudern.
						
						Vivian.
						
						Aber die Natur ist so ungemütlich. Der Rasen ist
						hart und bucklig und feucht und wimmelt von schrecklichem Ungeziefer. Was
						meinst du? Selbst Morris' schlechtester Arbeiter macht dir ein besseres Lager,
						als die gesamte Natur. Die Natur verblaßt vor den Zimmereinrichtungen jener
						Straße, die von Oxford den Namen entlehnt, um die schreckliche Tirade eines
						Dichters anzuführen, den du so liebst. Ich klage aber nicht.
						Wäre die Natur wohnlich und behaglich, wir Menschen hätten nie die Architektur
						erfunden, und Häuser sind mir lieber als der offene Himmel. In einem Hause
						fühlen wir uns alle im richtigen Größenverhältnis. Alles ist uns untergeordnet,
						alles nach unseren Bedürfnissen eingerichtet. Selbst der Egoismus, der dem
						wahren Gefühl von der Würde des Menschen so notwendig ist, entstammt ganz und
						gar dem Leben im Hause. Draußen im Freien werden wir abstrakt und unpersönlich.
						Und die Natur ist so teilnahmlos. So oft ich hier im Park spaziere, merke ich,
						daß ich ihr nicht mehr bin, als das Vieh, das am Abhang weidet, oder die Dolde,
						die im Graben blüht. Die Natur haßt den Geist; nichts ist klarer. Es gibt
						nichts Ungesunderes als das Denken, und die Menschen gehen daran zugrunde, wie
						an irgendeiner andern Krankheit. Ein Glück noch, daß das Denken nicht
						ansteckend ist, wenigstens nicht in England. Die herrliche Gesundheit unseres
						Volkes verdanken wir lediglich unserer nationalen Borniertheit. Ich hoffe nur,
						daß es gelingen wird, dies große, geschichtliche Bollwerk unseres Glücks noch
						manches Jahr lang zu erhalten. Fast aber fürchte ich, wir stehen in Gefahr, an
						einem Überfluß von Bildung zu erkranken, da jeder sich aufs Lehren verlegt, der
						das Lernen verlernt hat. Das ist das eigentliche Resultat unserer Begeisterung
						für die Bildung. – Inzwischen aber gingst du besser wieder
						hinaus zu deiner langweiligen, unbehaglichen Natur, damit ich unterdes meine
						Korrekturen lesen kann.
						
						Cyril.
						
						Du schreibst einen Artikel? Das ist doch sehr
						wenig konsequent nach dem, was du eben sagtest.
						
						Vivian.
						
						Wer strebt denn nach Konsequenz? Die Philister,
						die Schulmeister, jene langweiligen Leute, die immer und ewig an ihren
						Prinzipien festhalten, selbst dann, wenn die Praxis sie ad absurdum führt. Ich
						wahrlich nicht. Ich setze, wie Emerson, über die Tür meiner Bibliothek das Wort
						›Laune‹. Außerdem ist mein Artikel eine im höchsten Grade heilsame und
						wertvolle Warnung. Wenn sie befolgt wird, kann es eine neue Renaissance der
						Kunst geben.
						
						Cyril.
						
						Wovon handelt er?
						
						Vivian.
						
						Er soll heißen: ›Der Verfall der Lüge.‹ Ein
						Protest.
						
						Cyril.
						
						Der Lüge? Ich dächte, unsere Politiker sorgten
						dafür, daß sie nicht verschwindet. 
						
						Vivian.
						
						Wirklich, Cyril; das tun sie nicht. Sie bringen
						es nie weiter als bis zu einer gewissen Verdrehung der Tatsachen, und sie
						lassen sich sogar noch auf langwierige Beweisführungen, Erörterungen und
						Untersuchungen ein. Wie anders die Gesinnung des echten Lügners mit seinen
						freien, furchtlosen Behauptungen, seiner grandiosen Ablehnung jeder
						Verantwortung, seiner gesunden und natürlichen Abneigung gegen Beweise
						irgendwelcher Art! Worin besteht denn das Wesen der schönen Lüge? Einfach
						darin, daß sie sich selbst beweist. Ist einer so arm an Phantasie, daß er
						seiner Lüge mit Beweisen erst noch zu Hilfe kommt, dann soll er lieber gleich
						die Wahrheit reden. Nein, die Politiker nützen uns nichts. Vielleicht könnte
						man einiges zugunsten der Gerichte sagen. Der Mantel der Sophistik fiel ihren
						Mitgliedern zu. Ihre erheuchelte Leidenschaft und leere Rhetorik ist köstlich.
						Sie können die schlimmere Sache zur besseren machen, als kämen sie direkt aus
						Gorgias Schulen; sie sollen sogar in erfolgreicher Weise von nachgiebigen Geschworenen
						für ihre Klienten die Freisprechung erzwungen haben, selbst wenn die
						Schuldlosigkeit dieser Klienten außer allem Zweifel stand. Doch sind sie durch
						die Prosa ihres Berufes gehindert und scheuen sich nicht, Präzedenzfälle
						herbeizuziehen. Trotz ihrer eifrigen Bemühungen siegt die Wahrheit. Selbst die
						Zeitungen sind entartet und sind jetzt vollkommen
						zuverlässig. Das merkt man, wenn man durch ihre Spalten watet. Immer geschieht
						das, was unlesbar ist. Ich fürchte, es läßt sich nicht viel sagen zugunsten
						weder des Juristen noch des Journalisten. Die Lüge übrigens, für die ich
						spreche, ist die Lüge auf dem Gebiete der Kunst. Soll ich einmal lesen, was ich
						geschrieben habe? Es kann dir vielleicht recht gut tun.
						
						Cyril.
						
						Gewiß, wenn ich eine Zigarette haben kann. Danke
						schön. Für welche Zeitschrift ist übrigens der Artikel bestimmt?
						
						Vivian.
						
						Für die › Retrospective Review‹. Ich
						glaube, ich sagte dir schon, daß die Auserwählten sie wieder ins Leben gerufen
						haben.
						
						Cyril.
						
						Wen meinst du mit den ›Auserwählten‹?
						
						Vivian.
						
						Die › Tired Hedonists‹ natürlich. Sie
						bilden einen Klub, dem ich auch angehöre. Wir tragen welke Rosen im Knopfloch
						und treiben eine Art Kult mit dem Kaiser Domitian. Dich würde man, fürchte ich,
						nicht wählen. Du bist zu harmlos.
						
						Cyril.
						
						Ich würde wohl wegen allzu großer Lebenskraft
						ausgeschlossen. 
						
						Vivian.
						
						Wahrscheinlich. Ausserdem bist du ein wenig zu
						alt. Leute gewöhnlichen Alters nehmen wir nicht.
						
						Cyril.
						
						Nun; ich glaube, ihr langweilt einander aus dem
						Grunde!
						
						Vivian.
						
						Das tun wir; das ist einer der Zwecke des Klubs.
						Doch wenn du versprichst, mich nicht so oft zu unterbrechen, will ich dir
						meinen Artikel vorlesen.
						
						Cyril.
						
						Ich werde ganz Ohr sein.
						
						Vivian.
						
						( mit sehr deutlicher und klangvoller Stimme
						vorlesend).
						
						»›Der Verfall der Lüge. Ein Protest.‹ Eine der
						Hauptursachen, die zur Deutung des sonderbar trivialen Charakters des größten
						Teils unseres heutigen Schrifttums angeführt werden können, besteht zweifellos
						im Verfall der Lüge, als einer Kunst, einer Wissenschaft und einer geselligen
						Unterhaltung. Die Geschichtsschreiber der Alten stellten, was sie so wundervoll
						erdichtet, als geschichtliches Ereignis dar; der moderne Romanschreiber bietet
						uns lang-weilige Tatsachen als Dichtung verkleidet. Der Blaubuch-Stil wird ihm
						immer mehr zum Vorbild für Haltung und Gang seines Werkes. Er sammelt seine ewigen » documents humains«, er sucht sich seinen
						kleinen » coin de la création«, und legt ihn unter sein Mikroskop. Er
						schämt sich nicht, sein Material in der Librairie Nationale oder im
						Britischen Museum zusammenzulesen. Er hat nicht einmal den Mut zu fremden
						Meinungen, sondern meint, er müsse aufs Leben selbst zurückgehen. So kommt er
						schließlich zwischen Lexicis und persönlicher Erfahrung nieder; seine Gestalten
						sind die des Familienkreises oder der wöchentlichen Waschfrau, und niemals kann
						er, nicht einmal in den nachdenklichsten Momenten, seine Last nützlichen
						Wissens abschütteln. Der Schaden, der dem gesamten Schrifttum aus diesem
						falschen Ideal unserer heutigen Zeit erwächst, kann kaum überschätzt werden.
						Man hat sich in seinem Leichtsinn angewöhnt, von einem ›geborenen Lügner‹ wie
						von einem ›geborenen Dichter‹ zu sprechen. Beide Male mit Unrecht. Das Lügen
						sowohl wie das Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato erkannte,
						miteinander verwandt sind, und sie erfordern die größte Gewissenhaftigkeit und
						uneigennützigste Liebe. Und in der Tat haben sie auch, gleich den materielleren
						Künsten der Malerei und Skulptur, ihre eigene Technik, ihre eigenen Geheimnisse
						der Farbe und Form, ihre eigenen Handgriffe, eigene wohlüberlegte,
						künstlerische Methoden. Wie man den Dichter an seiner feinen Melodie erkennt,
						so auch den Lügner am rhythmischen Reichtum seiner Sprache, und bei keinem von
						beiden vermag die zufällige Eingebung des Augenblicks zu
						genügen. Wie überall, so muß auch hier der Vollendung die Übung vorangehn. Wenn
						aber heute das ›Dichten‹ viel zu allgemein geworden ist – man sollte es
						hindern, so viel wie möglich – so ist die Lüge fast in üblen Ruf geraten.
						Mancher junge Mensch tritt ins Leben mit der natürlichen Anlage, zu
						übertreiben, einer Anlage, die man mit Sorgfalt pflegen und an der Hand der
						höchsten Vorbilder züchten sollte, daß etwas Großes und Wunderbares aus ihr
						werde. In der Regel aber bringt ein solcher Mensch es zu nichts. Er gerät
						entweder in den Schlendrian einer peinlichen Genauigkeit – –«
						
						Cyril.
						
						Aber mein Lieber!
						
						Vivian.
						
						Bitte, unterbrich mich nicht mitten im Satz. »Er
						gerät entweder in den Schlendrian einer peinlichen Genauigkeit, oder er sucht
						die Gesellschaft von Bejahrten und Wohlunterrichteten. Beides ist seiner
						Phantasie – und in der Tat der Phantasie eines jeden – verhängnisvoll, und es
						dauert nicht lange, so beginnt er eine krankhafte Vorliebe für die Wahrheit zu
						zeigen; er prüft alles, was in seiner Gegenwart behauptet wird, widerspricht
						rückhaltlos dem, der viel jünger ist, und oft schreibt er schließlich Romane, die
						dem nackten Leben so ähnlich sehen, daß keiner imstande ist,
						an ihre Möglichkeit zu glauben. Wir führen hiermit keinen vereinzelten Fall an.
						Es ist nur einer unter vielen; und wenn nichts geschieht, die heutige
						Vergötterung der Tatsachen auszurotten, zum mindesten einzudämmen, dann wird
						die Kunst welken und die Schönheit von hinnen ziehen.
						
						Selbst Stevenson, jener reizvolle Meister zarter
						und phantastischer Prosa, zeigt die Flecken dieses modernen Lasters – denn wir
						wissen es wahrlich nicht anders zu nennen. So seltsam es auch klingen mag, aber
						man kann eine Geschichte unwahrscheinlich machen, wenn man versucht, sie zu
						wahr zu machen; so ist denn der › Black Arrow‹ so unkünstlerisch, daß er
						sich nicht eines einzigen Anachronismus rühmen kann, während die Verwandlung
						Dr. Jekylls sich gefährlich nach einem Experiment aus dem Lancet anhört.
						Rider Haggard, der wirklich Anlage hat, oder doch hatte, ein grandioser Lügner
						zu werden, fürchtet jetzt so sehr, man könne meinen, er sei ein Genie, daß er
						es für nötig hält, eine persönliche Reminiscenz zu erfinden, um sie in einer
						Anmerkung als feige Bestätigung des Erzählten anzubringen. Aber die anderen
						sind auch nicht viel besser. Mr. Henry James schreibt Romane, als sei es eine
						peinliche Pflicht, und verschwendet seinen hübschen, gelehrten Stil, seine
						treffenden Wendungen, seine behende und beißende Satire an niedrige Motive und
						unerfindliche ›Gesichtspunkte‹. Mr. Hall Caine strebt zweifellos
						nach Grandiosität, nur überschreit er sich. Er ist so geräuschvoll, daß man
						nicht hört, was er sagt. Mr. James Payn ist ein Virtuose in der Kunst, alles zu
						verhüllen, was nicht einmal verdient, gefunden zu werden. Er spürt mit dem
						Eifer eines kurzsichtigen Geheimpolizisten Dinge auf, die niemand nicht sieht.
						Je länger man liest, um so unerträglicher wird die Spannung des Verfassers.
						
						Den Sonnenrossen William Blacks fehlt die Kraft,
						zur Sonne emporzusteigen. Sie versetzen den Abendhimmel nur in farbenwilden
						Schrecken. Sobald sie nahen, retten die Bauern sich in den Dialekt. Mrs.
						Oliphant weiß in gefälliger Weise von Geistlichen, Tennisgesellschaften,
						häuslichen Angelegenheiten und anderen langweiligen Dingen zu plaudern. Marion
						Crawford hat sich auf dem Altar der Lokalfarbe geopfert. Er gleicht der Dame
						des französischen Lustspiels, die immer nur von dem › beau ciel d'Italie‹
						spricht. Außerdem hat er die schlimme Angewohnheit, sich in moralischen
						Platitüden zu ergehen. Er versichert uns immer, das Gute sei gut und das Böse
						schlecht. Zuweilen ist er beinahe erbaulich. Robert Elsmere ist natürlich ein
						Meisterwerk, ein Meisterwerk des ›genre ennuyeux‹, der einzigen Form des
						Schrifttums, die die Engländer wirklich zu genießen scheinen. Ein denkender
						junger Freund von uns bemerkte einmal, ihn erinnere das Buch an eine Art
						ernster Unterhaltung, wie sie in dem Hause einer nonkonformistischen Familie beim Nachmittags-Tee geführt werde, und wir können uns
						denken, daß er sehr recht hat. In der Tat, solche Bücher sind nur in England
						möglich. England ist die Stätte der Geistlosigkeit. Von der übrigen großen und
						täglich noch wachsenden Zahl der Romanschreiber, denen die Sonne nur im › East-End‹
						aufgeht, läßt sich nur eins sagen: sie verwandeln die Ungeschliffenheit des
						Lebens in brutale Roheit.
						
						In Frankreich steht es auch nicht viel besser,
						obgleich dort nichts so ausgesprochen Langweiliges entstanden ist, wie Robert
						Elsmere. Guy de Maupassant weiß mit seiner beißenden, bitteren Ironie und
						seinem harten, farbenreichen Stil das Leben seiner letzten, armseligen Lumpen
						zu berauben, um uns zehrendes Geschwür und brandige Wunden zu zeigen. Er
						schreibt kleine, gespenstische Tragödien, in denen jedermann lächerlich ist,
						oder bittere Komödien, über die man vor Tränen nicht lachen kann. Zola, seiner
						hochtrabenden Lehre getreu: L'homme de génie n'a jamais d'esprit, ist
						entschlossen, uns zu überzeugen, daß er, ohne Genie zu besitzen, wenigstens
						langweilen kann. Und wie gut ihm das gelingt! Doch ist er nicht ohne Kraft der
						Schilderung. Ja, zuweilen, wie im Germinal, zeigt er fast epische Größe. In
						allem aber ist er auf grundfalscher Fährte, nicht als Moralist, aber als
						Künstler. Vom Standpunkte der Moral ist er unantastbar. Er redet stets die Wahrheit und seine Beschreibungen stimmen vollständig mit dem
						Leben überein. Was kann man mehr verlangen? Wir haben durchaus kein Verständnis
						für die moralische Entrüstung, die sich heutzutage gegen Zola geltend macht.
						Sie ist die moralische Entrüstung des entlarvten Tartuffe. Was hingegen läßt
						sich vom Standpunkt der Kunst zu seinen Gunsten sagen, zugunsten des Verfassers
						von L'Assommoir, Nana und Pot-Bouille? Nichts. Ruskin vergleicht einmal die
						Charaktere der Eliotschen Romane mit dem Abschaum eines Pentonviller Omnibus;
						aber Zolas Charaktere sind weit schlimmer. Sie langweilen uns mit ihren Lastern
						und mehr noch mit ihren Tugenden. Ihr Leben hat auch nicht das geringste
						Interesse. Wer nimmt an ihrem Schicksal teil? Die Literatur verlangt
						Vornehmheit, Zauber, Schönheit und schöpferische Kraft. Wir wollen nicht
						belästigt und angeekelt sein von Dingen, die sich in den unteren Volksschichten
						abspielen. Besser steht es mit Daudet. Er hat Witz, einen zarten Anschlag und
						amüsanten Stil. Er hat aber kürzlich literarischen Selbstmord begangen. Wer
						findet noch Gefallen an dem › lutter pour l'art‹ Delobelles, dem immer
						wiederkehrenden Nachtigallen-Refrain Valmajours, den › mots cruels‹ des
						Dichters im Jack, nachdem man nun aus Vingt Ans de ma Vie littéraire
						erfahren hat, daß diese Charaktere dem Leben entnommen sind? Für uns haben sie
						plötzlich alle Lebendigkeit verloren, all die wenigen guten
						Eigenschaften, die sie je besaßen.
						
						Wirkliche Menschen sind nur solche, die nie
						gelebt haben; und wenn ein Romanschreiber so tief steht, daß er sich um seine
						Charaktere unmittelbar ans Leben wendet, so soll er ihnen wenigstens den
						Anschein geben, als seien sie Dichtungen, und nicht sich ihrer als Kopien
						rühmen. Die Berechtigung eines Charakters in einem Roman besteht nicht in der
						Wahrheitstreue anderer, sondern in der Persönlichkeit des Verfassers. Sonst ist
						der Roman kein Kunstwerk.
						
						Was Paul Bourget betrifft, den Meister des » roman
						psychologique«, so ist er in dem Wahn befangen, es liessen sich moderne
						Männer und Frauen unzählige Kapitel hindurch bis ins kleinste hinein
						analysieren. Was wirklich interessant ist an Menschen der guten Gesellschaft –
						und höchst selten verläßt Herr Bourget den Faubourg-St. Germain, es sei denn,
						daß er nach London kommt – das ist die Maske, die jeder trägt, nicht aber die
						Wirklichkeit, die hinter der Maske liegt. Es ist ein demütigendes Geständnis,
						aber wir sind alle aus demselben Stoff. Falstaff hat etwas von Hamlet, Hamlet
						gar manches vom Falstaff. Der feiste Ritter hat seine Anfälle von Melancholie,
						der junge Prinz seine Augenblicke derben Humors. Die Merkmale aber, die uns
						voneinander abheben, bestehen nur in Nebendingen: in Kleidung, Manieren, Klang
						der Stimme, religiösen Meinungen, äußerer Erscheinung,
						Angewohnheiten und dergleichen. Je mehr man die Menschen analysiert, um so mehr
						verschwinden alle Gründe, sie zu analysieren. Endlich stößt man doch auf das
						allumfassende Ungeheuer, das sich die menschliche Natur nennt. Es ist wahrlich
						kein leerer Dichtertraum, daß alle Menschen Brüder sind, sondern demütigende,
						deprimierende Wahrheit. Das wissen diejenigen nur zu gut, die je unter Armen
						gearbeitet haben. Und will ein Schriftsteller denn durchaus die Menschen der
						oberen Gesellschaftsklassen analysieren, so könnte er lieber gleich von
						Obstfrauen und Straßenverkäufern reden.« Indes, ich will dich gerade hier nicht
						länger aufhalten, Cyril. Ich gebe zu, daß moderne Romane auch ihre guten Seiten
						haben. Nur sage ich, daß sie als Gesamtheit einfach nicht zu lesen sind.
						
						Cyril.
						
						Das ist freilich eine nachdenkliche Abschätzung.
						Doch finde ich auch manches ungerecht in deiner Kritik. Ich liebe › The
						Deemster‹ und › The Daughter of Heth‹ und › Le Disciple‹ und Mr.
						Isaacs; und Robert Elsmere verehre ich geradezu. Nicht, daß ich ihn ernst
						nehmen könnte. Die Darlegung von Problemen für denkende Christen ist
						abgeschmackt und veraltet, ist Arnolds › Literature and Dogma‹ ohne die
						Literatur. Sie bleibt ebensoweit hinter der Zeit zurück, wie die ›Evidences‹
						von Paley oder die Colensosche Methode der Bibelexegese.
						Auch spielt der unglückselige Held die kläglichste Rolle, wenn er feierlich
						eine Morgenröte verkündet, die längst schon aufging, und von der Bedeutung
						derselben so wenig weiß, daß er bereit ist, die veralteten Verhältnisse
						bestehen zu lassen und ihnen nur einen neuen Namen zu geben. Andererseits aber
						enthält der Roman einige geschickte Karikaturen und eine Fülle hübscher Zitate,
						und die Philosophie Greens versüßt in höchst angenehmer Weise die etwas bittere
						Pille der eigentlichen Dichtung. Sodann muß ich mich sehr darüber wundern, daß
						du jene beiden nicht erwähntest, die du beständig liest, Balzac und George
						Meredith. Das sind doch Realisten, beide?
						
						Vivian.
						
						Ah! Meredith! Wer will ihn beschreiben? Sein Stil
						ist Chaos, das von zuckenden Blitzen leuchtet. Als Schriftsteller beherrscht er
						alles, nur nicht die Sprache; als Romanschreiber kann er alles, nur nicht
						erzählen; als Künstler ist er alles, nur nicht klar. Irgendeiner bei
						Shakespeare – ich glaube Touchstone – spricht von einem Mann, der sich an
						seinem eigenen Witz beständig die Glieder zerschlägt, und wie mir scheint,
						könnte man mit diesem Wort Merediths Art und Weise abtun. Was er aber auch sein
						mag, Realist ist er nicht. Oder doch vielleicht ein Sohn des Realismus, aber
						einer der sich mit seinem Vater nicht steht. Durch eigene,
						freie Wahl ist er zum Romantiker geworden. Er verschmähte es, vor Baal das Knie
						zu beugen, und wenn sich auch des Mannes herrlicher Geist nicht empörte gegen
						die lärmenden Anmaßungen des Realismus, es genügte sein bloßer Stil, um das
						Leben in angemessener Entfernung zu halten. Mit diesem Stil hat er eine Hecke
						um seinen Garten gezogen, eine Hecke von Dornen und roter Rosenpracht. Balzac
						vereinigt in eigentümlicher Weise das artistische Temperament und den
						wissenschaftlichen Geist. Diesen vermachte er an seine Schüler; jenes blieb
						ganz sein eigen. Der Unterschied zwischen einem › Assommoir‹ Zolas und
						Balzacs › Illusions Perdues‹ ist der Unterschied zwischen
						unschöpferischem Realismus und schöpferischer Realität. »Alle Charaktere
						Balzacs«, sagte Baudelaire, »durchströmt dieselbe Lebensglut, die ihn beseelte.
						Der geheimnisvolle Farbengehalt seiner Dichtung ist der der Träume. Jede
						einzelne Gestalt ist eine Kanone geladen mit Willen. Selbst die Küchenjungen
						haben Genie.« Ein fortgesetztes Studium Balzacs verwandelt unsere Freunde in
						Schattenbilder und unsere Bekannten in Schatten von Schattenbildern. Seine
						Gestalten sind gleichsam glühende, feuerfarbene Wesen. Sie lassen uns nicht los
						und vernichten jeden Zweifel. Eine der größten Tragödien meines Lebens ist der
						Tod des Lucien de Rubempré. Von seinem Wehe habe ich mich niemals völlig
						befreien können. Er verfolgt mich in meiner Freude. Ich muß
						an ihn denken, wenn ich lache. Aber ein Realist ist Balzac so wenig wie
						Holbein. Sein Werk war Schöpfung, nicht Nachbildung. Doch gebe ich zu, daß er
						viel zu hohen Wert legte auf die Modernität der Form, und daß infolgedessen
						kein Buch von ihm vorhanden ist, das als ein Meisterwerk der Kunst bestehen
						könnte neben » Salammbô« oder » Esmond«, » The Cloister and
						the Hearth« oder dem » Vicomte de Bragelonne«.
						
						Cyril.
						
						Du bist also ein Gegner der Modernität der Form?
						
						Vivian.
						
						Ja. Sie bedeutet ein allzu großes Opfer. Reine
						Modernität der Form hat stets etwas Verhäßlichendes; und das mit Notwendigkeit.
						Die Leute glauben, weil sie selbst an den Vorgängen ihrer nächsten Umgebung
						teilnehmen, es müsse auch die Kunst an ihnen teilnehmen und sie zu ihrem
						Gegenstande wählen. Aber schon die Tatsache, daß sie an diesen Dingen
						teilnehmen, genügt, sie für die Kunst unbrauchbar zu machen. Die einzigen
						wirklich schönen Dinge, sagte einmal jemand, sind die Dinge, die uns nichts
						angehen. Solange uns ein Ding nützlich oder notwendig erscheint, oder uns mit
						Schmerz oder Freude, Liebe oder Haß erfüllt, oder einen wesentlichen
						Bestandteil unserer nächsten Umgebung bildet, liegt es außerhalb
						des eigentlichen Kunstgebietes. Die Gegenstände der Kunst müssen uns mehr oder
						weniger gleichgültig sein. Auf alle Fälle sollten wir uns fern halten von
						Vorliebe, Vorurteilen und eigennützigen Interessen irgendwelcher Art. Gerade,
						weil uns Hecuba nichts angeht, bilden ihre Leiden ein so herrliches Motiv der
						tragischen Kunst. Ich kenne in der gesamten Literaturgeschichte nichts
						Beklagenswerteres, als die künstlerische Laufbahn Charles Reades. Er schrieb
						ein einziges wunderschönes Buch, » The Cloister and the Hearth«, ein
						Buch, das ebensosehr über Romola, wie Romola über Daniel Doronda steht; und er
						verschwendete den Rest seines Lebens auf den unsinnigen Versuch, modern zu
						sein, die Öffentlichkeit auf den Zustand unserer Gefängnisse und die Leitung
						unserer Irrenhäuser aufmerksam zu machen. Es war schon in jeder Beziehung
						entmutigend, daß ein Charles Dickens versuchte, für die Opfer des Armengesetzes
						unser Mitleid zu erregen, aber ein Künstler, ein Gelehrter, ein Mann von wahrem
						Schönheitssinn – ein Charles Reade, der gegen die Übelstände heutiger
						Lebensverhältnisse wettert und wütet wie ein gemeiner Zeitungs- und
						Flugblattschreiber, ist wahrlich ein Anblick zum Erbarmen. Glaube mir, Cyril,
						Modernität der Form und Modernität des Gegenstandes zu fordern, ist von Grund
						aus verkehrt. Wir haben das Gewand der Musen in moderner Alltagstracht erblickt
						und verbringen unsere Tage in den schmutzigen Straßen und
						häßlichen Vororten unserer scheußlichen Großstädte, während wir am Bergeshange
						mit Apoll verweilen sollten. Wahrlich, unser Geschlecht ist entartet, und wir
						haben unsere Erstgeburt verkauft für ein Gericht von Tatsachen.
						
						Cyril.
						
						Es liegt etwas Wahres in deinen Worten, und was
						uns immer reizen mag, einen modernen Roman zu lesen, wir werden selten am
						Wiederlesen einen künstlerischen Genuß haben. Und das ist vielleicht der beste
						Prüfstein, ob etwas zur eigentlichen Literatur gehört oder nicht. Wenn ein Buch
						nicht verträgt, immer wieder und wieder gelesen zu werden, hat es keinen Wert,
						es überhaupt zu lesen. Aber was hältst du von der Rückkehr zum Leben und zur
						Natur? Das ist das Universal-Heilmittel, das uns immer wieder empfohlen wird.
						
						Vivian.
						
						Ich will einmal vorlesen, was ich darüber sage.
						Die Stelle kommt zwar etwas später, aber ich kann sie dir schon jetzt geben: –
						
						»Es heißt heute allgemein: ›Laßt uns zum Leben
						und zur Natur zurückkehren; sie werden uns die Kunst wieder neu erschaffen und
						dem Blute ihrer Adern neues Leben geben; sie werden ihren Fuß beschwingen und
						ihrer Hand Macht verleihen. – ‹ Aber ach! wir sind auf
						verkehrtem Wege mit unsern gutgemeinten und ehrlichen Bestrebungen. Die Natur
						ist immer hinter der Zeit zurück. Und das Leben – es ist das Zerstörungsmittel
						der Kunst, der schlimme Feind, der ihr Gebäude verwüstet.«
						
						Cyril.
						
						Was heißt das, die Natur ist immer hinter der
						Zeit zurück?
						
						Vivian.
						
						Nun; das ist vielleicht etwas dunkel. Ich
						verstehe darunter folgendes: Wenn wir in der Natur nur den gemeinen,
						natürlichen, kindlichen Instinkt sehen, im Gegensatz zu selbstbewußter Kultur,
						so ist alles, was unter diesem Einflusse geschaffen wird, altmodisch und
						veraltet. Ein wenig Natur macht die ganze Welt verwandt, aber ein wenig zu viel
						Natur muß jedes Kunstwerk verderben. Wenn wir andererseits die Natur als Summe
						aller Erscheinungen der Außenwelt auffassen, so entdecken wir in ihr nur das,
						was wir in sie hineinlegen. Sie suggeriert nichts Eigenes. Wordsworth ging an
						die Seen, aber nie lernte er, sie besingen. Er fand im Gestein nur die
						Predigten, die er selbst dort verborgen hatte. Moralpredigend zog er im Lande
						umher, aber nur dann schuf er wahrhaft Wertvolles, wenn er zurückkehrte nicht
						zur Natur, sondern zur Poesie. Die Poesie schenkte ihm » Laodamia«, und
						die herrlichen Sonette, und die » Great Ode« in ihrer ganzen Schönheit. Die Natur schenkte ihm » Martha Ray« und » Peter
						Bell« und die Ansprache an Mr. Wilkingsons Spaten.
						
						Cyril.
						
						Ich glaube, es ließe sich darüber streiten. Ich
						bin geneigt, an die inspirierende Wirkung eines Frühlingswaldes zu glauben,
						obgleich, wie sich von selbst versteht, der künstlerische Wert einer solchen
						Eingebung einzig und allein abhängig ist von der Beschaffenheit der
						empfangenden Seele, so daß die Rückkehr zur Natur das Heranwachsen zu einer
						großen Persönlichkeit bedeutete. Damit würdest du wohl übereinstimmen. Indes,
						fahre in deinem Artikel fort.
						
						Vivian.
						
						( vorlesend).
						
						»Die Kunst beginnt mit übersinnlicher Dekoration,
						mit rein erdichtender und erfindungs-fröhlicher Arbeit, sich nur mit dem
						befassend, was unwahr und unwirklich ist. Das ist die erste Phase. Sodann
						verliebt sich das Leben in dieses neue Zauberwesen und bittet um Einlaß in den
						verzückten Kreis. Die Kunst verwendet das Leben als einen Teil ihres rohen
						Materials, schafft es um und gibt ihm neue Gestalt, erfindet, erdichtet, träumt
						und errichtet zwischen sich und der Wirklichkeit die unverletzliche Schranke des
						schönen Stils, der dekorativen und idealen Behandlungsweise. Die dritte Phase
						ist die, in der das Leben die Oberhand gewinnt und die Kunst
						in die Wildnis hinaustreibt. Dies ist die eigentliche Decadence, und sie ist
						es, unter der wir heute leiden. Nehmen wir zum Beispiel das englische Drama.
						Zunächst, in den Händen der Mönche, war die dramatische Kunst übersinnlich,
						dekorativ, mythologisch. Dann nahm sie das Leben in ihren Dienst, und gewisse
						äußere Formen des Lebens benutzend, schuf sie eine völlig neue Art von Wesen,
						deren Leiden furchtbarer waren, als je die Leiden eines Menschen, deren Freuden
						größer waren, als alles Glück der Liebenden, die die Leidenschaft der Titanen
						besaßen und die Ruhe der Götter, denen große und grandiose Sünden zu eigen
						waren und große und grandiose Tugenden. Ihnen wurde eine Sprache verliehen,
						verschieden von der des Alltags, eine Sprache, reich an klingender Melodie und
						zierlichen Rhythmen. Ernster Tonfall gab ihr Pracht und bunte Reime
						Lieblichkeit. Herrliche Worte schmückten sie wie mit Edelsteinen, erhabenes
						Pathos gab ihr den Reichtum. Die Kunst kleidete ihre Kinder in wunderliche
						Tracht und gab ihnen Masken, und auf ihr Geheiß erhob sich die antike Welt aus
						marmornem Grabe. Ein neuer Caesar stolzierte durch die Straßen des erstandenen
						Rom, und mit purpurnem Segel und flötenbezaubertem Ruder glitt der Nachen einer
						neuen Cleopatra zu Antiochus. Alte Mythen und Legenden, alter Zauber gewannen
						Gestalt und Wirklichkeit. Das Buch der Geschichte wurde
						umgeschrieben, und es gab fast keinen Dramendichter, der nicht anerkannte, daß
						das Ziel der Kunst nicht einfache Wahrheit, sondern mannigfache Schönheit sei.
						Und hierin hatten sie vollkommen recht. Die Kunst ist in Wirklichkeit eine Form
						der Übertreibung; und die feine Auswahl, in der die eigentliche Seele der Kunst
						besteht, ist nichts als der höchste Grad der Unterstreichung.
						
						In kurzer Zeit aber hatte das Leben die
						Vollkommenheit der Form zerstört. Schon bei Shakespeare sehen wir den Anfang
						vom Ende. Er verriet sich in dem allmählichen Zerfallen des Blankverses der
						späteren Dramen, dem Vorwiegen der Prosa, und der übergroßen Sorgfalt, die auf
						die Charakterzeichnung verwandt ist. An jenen Stellen Shakespeares – und es
						gibt deren viele – in denen die Sprache roh, vulgär, überladen, verzerrt, sogar
						obscön ist, trägt nur das Leben die Schuld, das Leben, das nach einem Echo
						seiner eigenen Stimme ruft und den Einspruch des schönen Stils zurückweist, der
						ihm zum alleinigen Ausdruck dienen sollte. Shakespeare ist als Künstler
						durchaus nicht unantastbar. Er liebt es zu sehr, aufs Leben selbst
						zurückzugehen und sich des Lebens Naturstimme zu leihen. Er vergißt, daß die
						Kunst alles aufgibt, wenn sie das Ausdrucksmittel ihrer Phantasie aufgibt.
						Goethe sagt einmal: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Diese
						Beschränkung aber, die eigentliche Bedingung jeder Kunst,
						ist der Stil. Indes, wir brauchen nicht länger bei dem Realismus Shakespeares
						zu verweilen; der ›Sturm‹ ist die vollkommenste aller Palinodien. Wir wollten
						nur darauf hingewiesen haben, daß die herrliche Kunst des Zeitalters der
						Elisabeth und des Jakob schon den Keim der eigenen Auflösung in sich trug, und
						wenn Shakespeare einen Teil seiner Macht dadurch erhielt, daß er das Leben als
						rohes Material benutzte, so liegt die Schwäche der übrigen Künstler dieser Zeit
						darin, daß sie die Form des Lebens als künstlerische Form anwandten. Die
						unvermeidliche Folge dieser Substitution eines rein nachahmenden für ein
						schöpferisches Mittel, dieses Aufgebens der phantasievollen Form, erleben wir
						im modernen englischen Melodrama. Die Charaktere dieser Dramen reden auf der
						Bühne, wie sie im gewöhnlichen Leben reden würden; sie sind unmittelbar dem
						Leben entnommen und entfalten seine ganze Gemeinheit bis in die kleinste
						Kleinigkeit; sie geben den Gang, das Wesen, die Kleidung und die Sprache
						wirklicher Menschen; sie könnten dritter Klasse fahren, ohne auch nur im
						geringsten aufzufallen. Aber wie langweilig sind diese Dramen, trotz alledem!
						Es gelingt ihnen nicht einmal, jenen Eindruck der Wirklichkeit hervorzurufen,
						den sie beabsichtigen und um dessentwillen sie allein bestehen. Der Naturalismus
						als Methode künstlerischen Sehens ist nichts als ein Fehlgriff. 
						
						Was vom Drama und vom Roman gilt, gilt nicht
						minder von denjenigen Künsten, die wir die schmückenden Künste nennen. Die
						Geschichte dieser Künste in Europa ist die Geschichte des Kampfes zwischen dem
						Orientalismus und unserem eigenen Trieb zum Nachahmen. Der Orientalismus weist
						jede bloße Nachahmung von sich, er liebt eine konventionelle Zeichensprache und
						haßt die wirkliche Darstellung von Naturobjekten. Überall, wo der Orientalismus
						die Oberhand behalten hat, sei es durch unmittelbare Berührung wie in Byzanz,
						Sizilien und Spanien, oder wie im übrigen Europa durch den Einfluß der
						Kreuzzüge, sind herrliche Werke des Schöpfergeistes entstanden, in denen die
						sichtbaren Dinge des Lebens künstlerisch umgewandelt, und solche, die das Leben
						nicht kennt, zu seiner Lust erschaffen wurden. Überall aber, wo wir zu dem
						Leben und der Natur zurückkehrten, ist unser Schaffen vulgär, gemein und
						uninteressant. Die übertriebene Perspektivwirkung, die weiten Flächen
						überflüssigen Himmels, der bis ins kleinste gehende Naturalismus moderner
						Tapeten ist ohne jede Schönheit. Die Glasmalerei der Deutschen ist einfach
						abscheulich. Unsere englischen Teppiche fangen an erträglich zu werden, aber
						nur, weil wir zu der Methode und dem Geist des Orients zurückgekehrt sind.
						Durch die ernsten, niederdrückenden Wahrheiten, die sinnlose Naturanbetung, die
						schmutzige Wiedergabe sichtbarer Dinge sind unsere Decken und Teppiche
						der siebziger Jahre selbst dem Philister ein Gegenstand des Gelächters
						geworden. Ein feingebildeter Mohamedaner sagte mir einmal: ›Ihr Christen seid
						so sehr beschäftigt, das vierte Gebot zu mißdeuten, daß ihr noch nie daran
						dachtet, eine künstlerische Anwendung des zweiten zu machen.‹ Er hatte ganz
						recht, und der Kern der Sache ist der: Die wahre Lehrmeisterin der Kunst ist
						nicht das Leben, sondern die Kunst.«
						
						Und nun möchte ich dir eine Stelle vorlesen, die
						mir die Sache in sehr vollkommener Weise zum Abschluß zu bringen scheint:
						
						»Es war nicht immer so. Wir brauchen nicht erst
						von den Dichtern zu reden, denn diese sind mit der unglücklichen Ausnahme
						Wordsworths ihrem hohen Berufe wirklich treu geblieben und genießen bei allen
						den Ruf der vollkommenen Unzuverlässigkeit. Aber in den Werken des Herodot, den
						man trotz der ohnmächtigen und unvornehmen Versuche moderner Halbwisser, die
						Geschichtsaufzeichnungen dieses Mannes mit der Wahrheit in Einklang zu bringen,
						den ›Vater der Lüge‹ nennen könnte; in den niedergeschriebenen Reden Ciceros
						und den Lebensbeschreibungen des Sueton; bei Tacitus, wo er am größten ist; in
						der Naturgeschichte des Plinius; in Hannos Periplous; in allen alten Chroniken;
						in den Lebensbeschreibungen der Heiligen; bei Froissart und Sir Thomas Mallory;
						in den Reisebeschreibungen des Marco Polo; bei Olaus Magnus und Aldrovandus und
						in dem herrlichen ›Prodigiorum und Ostentorum Chronikon‹ des
						Conrad Lycosthenes; in der Selbstbiographie des Benvenuto Cellini; in den
						Memoiren des Casanuova; in Defoes › History of the Plague‹; in Boswells
						› Life of Johnson‹; in den Depeschen Napoleons und in den Werken unseres
						eigenen Carlyle, dessen › French Revolution‹ der fesselndste
						geschichtliche Roman ist, den es gibt – wird entweder den Tatsachen die ihnen
						gebührende untergeordnete Stellung angewiesen, oder aber sie werden allgemeinen
						Stumpfsinns halber verworfen. Heute hat sich alles verändert. Die Tatsachen fassen
						nicht nur in der Geschichtsschreibung festen Fuß, sie brechen auch in das
						Gebiet der Phantasie ein und halten Einzug in dem Königreich der Dichtung. Ihr
						eisiger Hauch legt sich auf alles. Sie vulgarisieren die Menschheit.
						
						Der rohe Kaufmannssinn der Amerikaner, ihr
						materialistischer Geist, ihre Gleichgültigkeit gegen alles, was poetisch ist,
						und ihr Mangel an geistreicher Phantasie und das Fehlen hoher, unerreichbarer
						Ideale ist lediglich eine Folge davon, daß sie einen Mann zu ihrem nationalen
						Helden erhoben, der nach eigener Aussage unfähig war, zu lügen, und es ist
						nicht übertrieben, wenn wir behaupten, die Erzählung von George Washington und
						dem Kirschbaum habe mehr Unheil angerichtet, und dazu in kürzerer Zeit, als irgendeine
						andere Moralgeschichte der Weltliteratur.« 
						
						Cyril.
						
						Aber mein Lieber!
						
						Vivian.
						
						Wirklich, es ist so, und was das Köstlichste an
						der Sache ist: die Erzählung von dem Kirschbaum ist nichts als ein Märchen. Du
						darfst jedoch nicht denken, daß ich für die künstlerische Zukunft Amerikas oder
						unseres eigenen Landes alle Hoffnung aufgegeben habe. Höre weiter zu: –
						
						»Daß irgendeine Umwälzung eintreten wird, noch
						ehe dies Jahrhundert geendet hat, darüber besteht nicht der geringste Zweifel.
						Gelangweilt durch die ermüdende und dozierende Unterhaltung derer, die weder
						die Fähigkeit haben, zu übertreiben, noch den Geist, zu dichten, jener klugen
						Leute überdrüssig, deren Reminiszenzen stets auf dem Gedächtnis beruhen, deren
						Aussagen ewig gehindert sind, da sie der Wahrheit entsprechen sollen, und denen
						zu jeder Zeit irgend ein Philister zu Gebote steht, der alles bereitwillig
						bestätigt, wird die Gesellschaft über kurz oder lang zu ihrem verlassenen
						Führer zurückkehren müssen, dem feingebildeten und fesselnden Lügner. Wer der
						erste war, der, ohne jemals auf wilder Jagd gewesen zu sein, den staunenden
						Höhlenmenschen bei untergehender Sonne erzählte, wie er das Megatherium aus der
						purpurnen Finsternis seiner Jaspis-Höhle geschleppt, oder das Mammut im
						Einzelkampf erlegt und das goldene Elfenbein heimgetragen
						habe, das wissen wir nicht zu sagen, und das hat auch nicht einer unserer
						modernen Anthropologen zu sagen, trotz all ihres prahlerischen Wissens, den Mut
						gehabt. Wes Namens und Geschlechts er auch war, sicherlich war er der rechte
						Gründer des gesellschaftlichen Verkehrs. Denn das Ziel des Lügners ist, zu
						bezaubern, zu entzücken und zu erfreuen. Er ist der eigentliche Schöpfer der
						zivilisierten Gesellschaft und ohne ihn ist ein Diner, selbst in den Palästen
						der Großen, so stumpfsinnig, wie eine Vorlesung in der Royal Society
						oder ein possenhaftes Lustspiel von Burnand.
						
						Auch wird ihn nicht allein die Gesellschaft
						willkommen heißen. Aus dem Kerker des Realismus hervorbrechend, wird ihm die
						Kunst entgegeneilen und ihn begrüßen und ihm die falschen schönen Lippen
						küssen, denn sie weiß, daß er allein das große Geheimnis aller ihrer
						Offenbarungen birgt, das Geheimnis, daß die Wahrheit einzig und allein eine
						Sache der Form ist. Das Leben aber – das arme, wahrscheinliche, dürftige
						menschliche Leben – Herbert Spencers, aller Geschichtsforscher und emsigen
						Statistiker überdrüssig, zu deren Gunsten es sich immer wiederholen soll, wird
						ihm schweigend nachgehen und in seiner schlichten und unverdorbenen Weise
						einige von den Wunderdingen nachzubilden suchen, von denen er redet.
						
						Zweifellos wird es immer Kritiker geben, die den
						Märchenerzähler wegen seiner lückenhaften Naturgeschichtskenntnisse
						mit ernster Miene tadeln, die die Werke der Phantasie nach ihrem eigenen Mangel
						an Phantasie beurteilen, die entsetzt die tintenbefleckten Hände in die Höhe
						heben, wenn ein ehrbarer Mann, der nie über die Eibenbäume seines Gartens
						hinauskam, ein fesselndes Buch Reiseerinnerungen schreibt, wie Sir John
						Mandeville, oder wie der große Raleigh eine ganze Weltgeschichte geschrieben
						hat, ohne das Geringste von der Vergangenheit zu wissen. Um sich zu
						rechtfertigen, werden sie hinter dem Schilde des Mannes Deckung suchen, der
						Prospero den Magiker schuf und ihm Caliban und Ariel zu Dienern gab, der an den
						Korallenriffen der Seligkeitsinsel dem Hörnerschall der Tritonen lauschte und
						in einem Haine bei Athen dem Wechselgesang der Elfen, der in bleichem Zuge die
						Geisterkönige über die neblige Heide Schottlands führte, der mit den
						Schicksalsschwestern Hekate in der Höhle verbarg. Sie werden sich auf Shakespeare
						berufen – das tun sie immer – und werden jene abgedroschene Stelle zitieren, in
						der die Kunst der Natur den Spiegel vorhält, indem sie vergessen, daß Hamlet
						diese unglückseligen Worte äußert, um die Anwesenden von seiner vollkommenen
						Unwissenheit in allen Dingen der Kunst absichtlich zu überzeugen.«
						
						Cyril.
						
						Ahem! Noch eine Zigarette, bitte. 
						
						Vivian.
						
						Du magst einwenden, was du willst, mein Lieber,
						die Äusserung ist eine rein dramatische und vertritt Shakespeares wirkliche
						Ansichten über die Kunst ebensowenig, wie die Reden des Jago seine wirklichen
						Ansichten über die Moral vertreten. Aber laß mich mit dem Abschnitt zu Ende
						kommen: –
						
						»Die Kunst kann nur durch sich vollkommen werden.
						Die Ähnlichkeit mit der sichtbaren Welt ist für die Beurteilung vollständig
						gleichgültig. Sie ist eher ein Schleier als ein Spiegel. Sie hat Blumen, die
						nie ein Forst gekannt, Vögel, von denen keine Wälder wissen. Sie baut Welten
						auf und vernichtet sie wieder und kann den Mond mit einem Scharlach-Faden vom
						Himmel ziehen. Ihr sind Formen zu eigen, die wirklicher sind als das Leben, und
						auch die hohen Urbilder, von denen alle wirklichen Dinge nur unvollendete Abbilder
						sind. Die Natur hat in ihren Augen keine Gesetze, keine Gleichförmigkeit. Je
						nach ihrem Willen verrichtet sie Wunderwerke, und wenn sie Schreckgestalten aus
						der Tiefe ruft, dann kommen sie. Sie kann den Mandelbaum im Winter blühen
						heißen und den Schnee über die reifen Kornfelder treiben. Auf ihr Gebot legt
						der Frost dem Sommer die silbernen Finger auf den heißen Mund, und schleichen
						Flügellöwen aus den Gebirgsschluchten Lydiens. Die Dryaden blicken neugierig
						aus dem Dickicht, wenn sie vorübergeht, und die braunen Faune lächeln
						seltsam, wenn sie ihnen naht. Falkenköpfige Götter beten sie an und Kentauren
						galoppieren an ihrer Seite.«
						
						Cyril.
						
						Das gefällt mir. Ich sehe, was du meinst. Ist das
						das Ende?
						
						Vivian.
						
						Nein. Es folgt noch ein Abschnitt, aber nur
						praktischen Inhaltes. Er bringt einige Methoden zum Vorschlag, mit deren Hilfe
						wir die verlorene Kunst zu lügen wiedergewännen.
						
						Cyril.
						
						Schön. Bevor du ihn liest, möchte ich eine Frage
						stellen. Was meinst du, wenn du sagst, das Leben – das arme, wahrscheinliche,
						dürftige menschliche Leben – werde die Wunderdinge der Kunst nachzubilden
						suchen? Ich kann es sehr wohl begreifen, daß du dich sträubst, wenn man die
						Kunst als einen Spiegel betrachtet. Du meinst, das würde das Genie auf die
						Stufe eines gesprungenen Spiegels stellen. Aber du glaubst doch nicht im Ernst,
						daß das Leben die Kunst nachahmt, daß gar das Leben der Spiegel und die Kunst
						die Wirklichkeit ist?
						
						Vivian.
						
						Gewiß glaube ich das. Paradox, wie es scheinen
						mag – und Paradoxien sind immer gefährliche Dinge – es ist darum nicht weniger wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst
						das Leben. Wir alle haben es in England erlebt, wie ein seltsamer und
						bezaubernder Schönheitstypus, der von zwei wirklich schöpferischen Malern
						erfunden und ausgebildet wurde, das Leben derartig beeinflußte, daß, so oft wir
						in eine Gesellschaft oder einen Kunstsalon gehen, wir hier die
						geheimnisvollen Augen sehen, von denen Rossetti träumte, den langen
						elfenbeinernen Hals, das seltsame breitgeschnittene Kinn, das lose schattige
						Haar, das er so glühend liebte, dort die süsse Jungfräulichkeit des
						›Golden Stair‹, den Blütenmund und die müde Schönheit der ›Laus Amoris‹, das
						leidensbleiche Antlitz der Andromeda, die schmalen Hände und die liebliche
						Grazie des Vivian in › Merlins Dream‹. Und es ist von jeher so gewesen.
						Ein großer Künstler erfindet einen Typus und das Leben sucht ihn nachzubilden,
						ihn nach Art eines unternehmenden Herausgebers in gemeinfaßlicher Form
						wiederzugeben. Weder Holbein noch Van Dyck fanden in England vor, was sie uns
						gaben. Sie brachten ihre Typen mit, und das bereitwillig nachahmende Leben
						verschaffte dem Meister die Modelle. Die Griechen wußten das vermöge ihres
						feinen, künstlerischen Instinktes. Sie stellten eine Statue des Hermes oder des
						Apollo in das Gemach der Braut, daß diese in ihrer Lust und ihrem Schmerz
						solcher Kunstwerke ansichtig würde und Kinder gebäre von der gleichen
						Schönheit. Sie wußten, daß das Leben nicht nur Geistigkeit,
						Gedanken- und Gefühlstiefe, Seelenqual oder Seelenfrieden der Kunst entnimmt,
						sondern daß es sich auch in Linie und Farbe nach ihr richten kann und die
						Hoheit eines Phidias wie die Grazie eines Praxiteles wiederzugeben vermag. So
						erklärt sich ihre Abneigung gegen den Realismus. Sie haßten ihn aus rein
						gesellschaftlichen Rücksichten. Sie fühlten, daß er den Menschen notwendig
						verhäßlicht; und sie hatten vollkommen recht. Wir suchen die Lage eines Volkes
						zu bessern, indem wir für gute Luft, freies Sonnenlicht, gesundes Wasser sorgen
						und häßliche, kahle Baracken bauen für die Wohlfahrt der unteren Stände. Aber
						diese Dinge machen nur gesund, sie machen nicht schön. Hierzu ist die Kunst
						nötig, und die wahren Schüler des großen Künstlers sind nicht seine
						Atelier-Nachahmer, sondern diejenigen, die wirklich werden wie seine
						Kunstwerke, mögen sie der Plastik angehören, wie in den Tagen der Griechen,
						oder, wie in unserer Zeit, der Malerei. Kurz: das Leben ist der Kunst bester,
						der Kunst einziger Schüler.
						
						So wie mit den bildenden Künsten, steht es auch
						mit dem Schrifttum. Das schlagendste und zugleich gröbste Beispiel gibt das
						Benehmen jener dummen Jungen, die die Abenteuer des Jack Sheppard und Dick
						Turpin lesen, um hinterher die Buden unglückseliger Obstfrauen zu plündern, des
						Nachts in Konfekt-Läden einzubrechen und alte Herren, die aus der Stadt heimkehren, auf Vorstadt-Straßen mit schwarzen Masken und
						blinden Revolverschüssen zu überfallen. Diese interessante Erscheinung, die
						jedesmal auftritt, wenn eines jener beiden Bücher neu aufgelegt ist, wird
						gewöhnlich dem Einflusse der Literatur auf die Phantasie zugeschrieben. Das ist
						aber verkehrt. Die Phantasie ist wesentlich schöpferisch und sucht immer nach neuen
						Ausdrucksmitteln. Jene Bubenstreiche entspringen einfach dem nachahmenden
						Triebe des Lebens. Sie sind Äusserungen des Lebens, das bemüht ist, der
						Dichtung Gestalt zu geben, und was uns in ihnen entgegentritt, wiederholt sich
						nur in umfassender Weise während unseres ganzen Lebens. Schopenhauer hat den
						Pessimismus analysiert, der die moderne Denkweise beherrscht, aber Hamlet
						erfand ihn. Der Typus des Nihilisten, jenes wunderlichen Märtyrers ohne
						Glauben, der an den Pfahl geht ohne Inbrunst und für etwas stirbt, woran er
						nicht glaubt, ist lediglich ein Produkt des Schrifttums. Er wurde von
						Turgenjeff erfunden und von Dostojewski vollendet. Die Dichtung greift dem
						Leben immer vor. Sie gibt uns kein Abbild desselben, sondern gestaltet nach
						eigenem Ermessen. Das neunzehnte Jahrhundert, so wie wir es kennen, ist zum
						großen Teil eine Erfindung Balzacs. Unsere Luciens de Rubempré, unsere
						Rastignacs und de Marsays erschienen zuerst auf der Bühne der Comédie
						Humaine. Wir füllen nur mit Randbemerkungen und unnötiger Zutat die Laune oder Phantasie oder schöpferische Vision eines großen
						Romanschreibers aus. Ich fragte einst eine intime Freundin Thackerays, ob
						dieser die Becky Sharp nach irgendeinem Modell gezeichnet habe. Sie sagte mir,
						daß Becky eine Erfindung sei, daß ihm aber die Idee des Charakters eine
						Gouvernante eingegeben habe, die in der Nähe von Kensington Square wohnte und
						bei einer sehr egoistischen und reichen alten Dame Gesellschafterin war. Ich
						erkundigte mich nach dem Schicksal der Gouvernante, worauf sie mir sagte, sie
						wäre merkwürdigerweise einige Jahre nach dem Erscheinen von » Vanity Fair«
						mit dem Neffen der Dame, bei der sie wohnte, davongelaufen und habe kurze Zeit
						in der Gesellschaft großes Aufsehen erregt, ganz im Stile der Mrs. Rawdon
						Crawley und mit allen ihren Eigenarten. Schließlich litt sie Schiffbruch,
						verschwand nach dem Kontinent und verkehrte in Monte Carlo und anderen
						Spielhöllen. Jener edle Mann, nach dem derselbe große empfindsame Autor seinen
						Oberst Newcome zeichnete, starb wenige Monate, nachdem die » Newcomes«
						die vierte Auflage erreicht hatten, und sein letztes Wort war ›Adsum‹.
						
						Bald nachdem Mr. Stevenson seine merkwürdige
						psychologische Verwandlungsgeschichte veröffentlicht hatte, war ein Freund von
						mir, Mr. Hyde, im Norden Londons, und da er schnell auf einen Bahnhof wollte,
						schlug er einen vermeintlich abkürzenden Weg ein, verlor die
						Richtung und sah sich bald in einem Netzwerk gemeiner, übelaussehender Straßen.
						Da er ziemlich nervös wurde, begann er sehr schnell zu gehen, als ihm plötzlich
						aus einem Torweg ein Kind zwischen die Beine lief. Es fiel aufs Pflaster, er
						wollte drüber wegsteigen und trat darauf. Da es natürlich sehr erschreckt und
						ein wenig verletzt war, begann es zu schreien, und nach wenigen Sekunden stand
						die ganze Straße voll groben Volks, das wie Ameisen aus den Häusern strömte.
						Man umringte ihn und verlangte seinen Namen. Er wollte ihn gerade nennen, als
						ihm plötzlich die Eröffnungsszene in Mr. Stevensons Buch einfiel. Ihn packte
						solches Grauen, weil er in eigener Person jene furchtbare und gutgeschriebene
						Szene zur Wirklichkeit gemacht und, was der Mr. Hyde der Dichtung mit
						überlegter Absicht tat, zwar nur zufällig, aber doch getan hatte – daß er so
						scharf wie möglich davonlief. Er wurde jedoch eng verfolgt, und schließlich
						flüchtete er sich in ein Laboratorium, dessen Tür gerade offen war. Dort
						erklärte er einem anwesenden Gehilfen, was geschehen war. Der humanitäre Pöbel
						ließ sich bewegen, abzuziehen, als er ihnen eine kleine Summe Geldes gab, und
						sobald die Küste klar war, ging er weiter. Beim Austritt fiel ihm der Name auf
						dem Messingschild auf. Er lautete »Jekyll«. Wenigstens hätte er so lauten
						müssen.
						
						Hier war die ganze Nachahmung natürlich Zufall.
						Im folgenden Fall war sie bewußt. 
						
						Im Jahre 1879 – ich hatte gerade die Oxforder
						Universität verlassen – lernte ich in dem Hause eines auswärtigen Ministers
						eine Frau von ganz seltener exotischer Schönheit kennen. Wir wurden Freunde und
						verkehrten beständig. Und doch war es nicht ihre Schönheit, die mich am meisten
						fesselte, sondern ihr Charakter, das gänzlich Unfaßbare ihres Charakters. Sie
						schien gar keine Persönlichkeit zu sein, sondern nur das Talent zu besitzen,
						sich viele Charaktertypen anzueignen. Zuweilen widmete sie sich ganz der Kunst,
						verwandelte ihr Wohnzimmer in ein Atelier und brachte wöchentlich zwei bis drei
						Tage in Bildergalerien oder Museen zu. Dann plötzlich besuchte sie
						Pferderennen, zog sich so sportsmäßig an wie nur möglich und sprach über
						nichts, als über die Kunst des Wettens. Sie gab die Religion auf zugunsten des
						Mesmerismus, den Mesmerismus zugunsten der Politik, die Politik zugunsten der
						melodramatischen Freuden der Menschenliebe. Kurz, sie war eine Proteusnatur und
						in allen ihren Verwandlungen nicht minder fehlerhaft, als jener wunderliche
						Meergott, den Odysseus überraschte. Eines Tages erschien in einer französischen
						Zeitschrift eine Erzählung in Fortsetzungen. Damals pflegte ich derartige
						Erzählungen zu lesen, und ich erinnere mich deutlich, wie verblüfft ich war,
						als ich an die Beschreibung der Heldin gelangte. Diese glich meiner Freundin so
						sehr, daß ich ihr die Zeitschrift brachte. Sofort erkannte sie sich
						selbst und schien durch die Ähnlichkeit gefesselt. Ich muß dir übrigens sagen,
						daß die Erzählung aus irgendeinem verstorbenen russischen Autoren übersetzt
						war, so daß der Verfasser nicht nach meiner Freundin gezeichnet haben konnte.
						Um mich nun kurz zu fassen, war ich einige Monate darauf in Venedig und fand
						die Zeitschrift im Lesezimmer des Hôtels. Es war eine herzzerreißende
						Geschichte, denn das Mädchen war schließlich mit einem Manne davongelaufen, der
						nicht bloß in sozialer Hinsicht viel tiefer stand als sie, sondern auch geistig
						und moralisch. An jenem Abend schrieb ich meiner Freundin meine Ansichten über G.
						Bellini, über das köstliche Eis im Café Florio und über den künstlerischen Wert
						der Gondeln, fügte aber die Bemerkung hinzu, daß ihr Ebenbild in der Erzählung
						sehr töricht gehandelt habe. Ich erinnere nicht mehr, weshalb ich die Bemerkung
						machte, aber ich weiß noch, wie mich ein Grauen faßte, sie möchte das Gleiche
						tun. Noch ehe mein Brief sie erreichte, war sie mit einem Manne davongelaufen,
						der sie schon nach sechs Monaten im Stich ließ. Ich sah sie dann im Jahre 1884
						in Paris, wo sie mit ihrer Mutter lebte, und fragte sie, ob vielleicht jene
						Erzählung an ihrem Handeln Schuld gewesen sei. Sie sagte mir, sie habe einen
						unwiderstehlichen Drang gefühlt, der Heldin auf ihrem seltsamen und
						verhängnisvollen Wege Schritt für Schritt zu folgen, und die Aussicht auf die letzten Kapitel habe sie mit geradezu fieberhafter Angst
						erfüllt. Als sie erschienen, war es ihr, als müsse sie sie
						verwirklichen, und sie tat es auch. Es war dies ein höchst einleuchtendes
						Beispiel jenes rein nachahmenden Instinktes, von dem ich vorhin sprach:
						freilich auch ein außerordentlich tragisches. Indes, ich will nicht länger bei
						einzelnen Fällen verweilen. Persönliche Erfahrungen sind äußerst beschränkt und
						verführerisch. Meine Absicht war, nur auf die allgemeine Regel hinzuweisen, daß
						das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben, und ich bin
						überzeugt, daß du das zugeben wirst, wenn du einmal ernstlich darüber
						nachdenkst. Das Leben tritt mit dem Spiegel vor die Kunst und bildet den
						seltsamen Typus eines Malers oder Bildhauers nach, oder verwirklicht durch
						Taten den Traum eines Dichters. Philosophisch ausgedrückt ist die Grundlage des
						Lebens – die Energie des Lebens, wie Aristoteles sagen würde – einfach das
						Ringen nach Ausdruck, und die Kunst schafft immerwährend die verschiedensten
						Formen, durch die es sich ausdrücken kann. Das Leben greift sie auf und
						verwertet sie, und wenn es dabei selber zugrunde geht. Junge Männer haben
						Selbstmord begangen, weil Rolla ihn beging, haben sich das Leben genommen, weil
						Werther sich das Leben nahm. Bedenke, was wir der Nachahmung Christi, der
						Nachahmung Caesars verdanken. 
						
						Cyril.
						
						Das ist fürwahr eine höchst merkwürdige Lehre,
						aber um sie zu vervollständigen, mußt du dartun, daß auch die Natur, so gut wie
						das Leben, ein Abbild der Kunst ist. Bist du bereit, das zu beweisen?
						
						Vivian.
						
						Ich bin bereit, alles zu beweisen, mein Lieber.
						
						Cyril.
						
						Die Natur richtet sich also nach dem Landschaftsmaler
						und erhält ihre Wirkungen von ihm?
						
						Vivian.
						
						Gewiß. Woher stammen jene wundervollen braunen
						Nebel, die durch unsere Straßen schleichen und die Lampen-Lichter verwischen
						und die Häuser in gestaltlose Schatten verwandeln, wenn nicht von den
						Impressionisten? Wem verdanken wir die prachtvollen Silbernebel, die auf
						unseren Flüssen lagern und in denen die geschwungene Brücke und die wiegende
						Barke in schwindelnde Linien zarter Grazie zerfließen, wenn nicht ihnen und
						ihrem Meister? Der ungeheure Umschwung, der während der letzten zehn Jahre in
						den klimatischen Verhältnissen Londons stattfand, ist einzig und allein dieser
						besonderen Kunstschule zuzuschreiben. Du lächelst. Betrachte die Sache einmal
						vom wissenschaftlichen oder metaphysischen Standpunkte, und
						du wirst sehen, daß ich recht habe. Denn was ist die Natur? Die Natur ist keine
						Urmutter, aus der wir alle geboren sind. Sie ist unser Erzeugnis. In unserem
						Gehirn nur erhält sie Leben. Die Dinge sind, weil wir sie sehen, und was
						wir sehen und wie wir sehen, ist von den Künsten abhängig, die uns
						beeinflussen. Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Ding ansieht, oder ob
						man es sieht. Man hat von einem Dinge noch nichts gesehen, ehe man nicht seine
						Schönheit sieht. Erst dann und nur dann tritt es ins Dasein. Heutzutage sehen
						die Menschen die Nebel, aber nicht, weil es Nebel gibt, sondern weil die
						Dichter und Maler ihnen die geheimnisvolle Schönheit solcher Erscheinungen
						offenbarten. Es hat wahrscheinlich ganze Jahrhunderte hindurch in London Nebel
						gegeben. Das glaube ich sogar ganz sicher. Aber niemand hat sie gesehen, und
						daher wissen wir nichts von ihnen. Sie traten nicht eher ins Dasein, als bis
						die Kunst sie erfunden hatte. Heute, muß man zugeben, sind Nebel eine wahre
						Plage geworden. Sie bilden die Manieriertheit einer Clique, und ihre
						übertrieben realistische Darstellung verursacht bei den Armen im Geiste
						Bronchitis. Wo sich die fein Gebildeten eine schöne Wirkung verschaffen, holen
						sich die Ungebildeten eine Erkältung. Seien wir daher human und lassen wir das
						wunderschöne Antlitz der Kunst sich anderen Dingen zukehren. Und in der Tat, es
						ist schon geschehen. Jenes weiße, webende Sonnenlicht, das
						wir jetzt bei den Franzosen sehen, von seltsamen, malvenfarbigen Flecken und
						ruhelosen, violetten Schatten unterbrochen, ist die neueste Phantasie der
						Kunst, und im Ganzen gibt die Natur sie in höchst bewunderungswürdiger Weise
						wieder. Während sie früher die Werke eines Corot und Daubigny nachahmte, bietet
						sie uns jetzt prachtvolle Monets und bezaubernde Pisaros. Ja, es gibt
						Augenblicke – sie sind zwar selten, aber sie sind – in denen die Natur ganz
						modern wird. Natürlicherweise ist sie nicht immer zuverlässig, zumal sie sich
						in folgender schlimmen Lage befindet. Die Kunst schafft eine völlig neue und
						einzig dastehende Stimmung und geht dann zu anderen Dingen über. Die Natur
						hingegen, indem sie vergißt, daß in der Nachahmung auch eine offene Beleidigung
						liegen kann, wiederholt diese Stimmung immer wieder, bis wir alle ihrer endlich
						überdrüssig werden. Kein wirklich gebildeter Moderner redet zum Beispiel von
						der Schönheit eines Sonnenunterganges. Sonnenuntergänge sind ganz aus der Mode.
						Sie gehören einer Zeit an, da Turner noch tonangebend war. Sie bewundern, heißt
						›aus der Provinz‹ sein. Andererseits aber bestehen sie fort. Gestern abend
						wollte Mrs. Arundel durchaus, daß ich ans Fenster träte, um den, wie sie
						meinte, ›wundervollen Abendhimmel‹ zu betrachten. Natürlich mußte ich es tun.
						Sie ist eine jener etwas beschränkten aber hübschen Frauen,
						denen man nichts verweigern kann. Und was war es? Nichts weiter, als ein minderwertiger
						Turner, ein Turner aus seiner schlechten Zeit, wobei noch die schlimmsten
						Fehler des Malers ganz besonders zur Geltung kamen. Natürlich gebe ich gern zu,
						daß auch das Leben diesen Irrtum begeht. Es erzeugt schlechte Renés und unechte
						Vautrins, so gut wie die Natur bald einen zweifelhaften Kuyp, bald einen mehr
						als fragwürdigen Rousseau hervorbringt. Und doch, wenn es die Natur tut, stört
						es uns mehr. Es scheint von ihr so dumm, so selbstverständlich, so unnötig. Ein
						unechter Vautrin kann uns immerhin ergötzen; ein zweifelhafter Kuyp ist
						unerträglich. Doch will ich gegen die Natur nicht allzu scharf sein. Ich
						wünschte nur, der Kanal, besonders bei Hastings, gliche nicht ganz so oft einem
						Henry Moore, einer grauen Perle mit gelben Lichtflecken. Aber wenn die Kunst
						vielseitiger wird, so wird auch zweifellos die Natur vielseitiger werden. Daß
						sie die Kunst nachahmt, werden wohl heute nicht einmal ihre Feinde in Abrede
						stellen. Gerade in dieser Eigenschaft, und nur in dieser, behält sie mit dem Kulturmenschen
						Fühlung. Aber habe ich meine Lehre zu deiner Zufriedenheit bewiesen?
						
						Cyril.
						
						Du hast sie zu meiner Unzufriedenheit bewiesen,
						und das ist noch besser. Aber selbst wenn man zugibt, daß das Leben und die Natur diesen seltsamen Trieb der Nachahmung besitzen, wirst du
						doch sicherlich anerkennen, daß die Kunst sowohl die Gefühls- und
						Geschmacksrichtung ihres Zeitalters, wie auch die Beschaffenheit der Moral und
						der Sitte darstellt, in deren Mitte und unter deren Einfluß sie entstanden ist.
						
						Vivian.
						
						Durchaus nicht! Die Kunst stellt nichts dar außer
						sich selbst. Das ist die Grundlehre meiner neuen Ästhetik; und das macht es –
						mehr noch als jener innere Zusammenhang zwischen Form und Stoff, von dem Pater
						spricht – daß die Tonkunst der Typus aller Künste ist. Freilich sind die
						Völker, wie jeder einzelne Mensch, in dem Wahn befangen, daß sie
						diejenigen sind, von denen die Musen reden, und das erklärt sich aus der
						gesunden, natürlichen Eitelkeit, die das Geheimnis des Lebens ist. Sie suchen
						beständig in der stillen Hoheit geistigster Kunst irgendein Abbild ihrer
						eigenen Rasereien und vergessen immer, daß nicht Apollo, sondern Marsyas das
						Leben besingt. Der Wirklichkeit entrückt und das Antlitz den Schatten der Höhle
						abgewandt, offenbart die Kunst ihre eigene Vollendung, und wenn die staunende
						Menge der wunderreichen, tausendblättrigen Rose zusieht, wie sie sich
						erschließt, so glaubt sie ihre eigenen Schicksale und ihre eigenen Gedanken in
						neuer Verkleidung zu sehen. Aber sie sind blind. Die Kunst entäußert sich alles
						Menschlichen und gewinnt weit mehr durch neue Mittel und
						neue Stoffe, als durch irgendeine Begeisterung für die Kunst, oder irgendeine
						hohe Leidenschaft, oder irgendein großes Erwachen des menschlichen Bewußtseins.
						Sie entwickelt sich rein organisch. Sie ist nie ein Symbol des Zeitalters; die
						Zeitalter sind ihre Symbole.
						
						Selbst diejenigen, die der Ansicht sind, daß uns
						die Kunst über Land und Leute Auskunft gibt, können nicht in Abrede stellen,
						daß die Kunst, je mehr sie zur Nachahmung neigt, um so weniger den Zeitgeist
						vertritt. Wenn uns die teuflischen Gesichter der Römischen Caesaren anschauen
						aus verwittertem Porphyr und geflecktem Jaspis heraus, dem Lieblingsmaterial
						der naturalistischen Künstler jener Zeit, so scheint es uns, als sähen wir in
						diesen grausamen Lippen und diesen schweren, sinnlichen Kinnbacken den geheimen
						Grund für den Untergang des Kaiserreichs. Das ist aber falsch. Die Laster des
						Tiberius vermochten ebensowenig jene höchste Kultur zu zerstören, wie die
						Tugenden der Antonier vermochten, sie zu stützen. Andere, viel unscheinbarere
						Dinge richteten sie zugrunde. Die Sibyllen und Propheten der Sistina mögen in
						der Tat einigen zur Deutung der Wiedergeburt des freien Geistes dienen, die wir
						die Renaissance nennen; was aber erfahren wir in den Trunkenbolden und
						brüllenden Bauern der Holländischen Kunst von der großen Seele ihrer Heimat? Je
						abstrakter und ideeller eine Kunst ist, um so besser vermag sie das innere
						Wesen ihres Zeitalters zu offenbaren. Wenn wir durch
						Vermittelung der Kunst begreifen wollen, wie ein Volk gedacht und gefühlt hat,
						müssen wir uns an die Architektur und die Musik wenden.
						
						Cyril.
						
						Das leuchtet mir auch ein. Der Geist eines Volkes
						wird am besten in den abstrakten und ideellen Künsten wiedergegeben, denn der
						Geist selbst ist abstrakt und ideell. Wollen wir hingegen den äußeren Anblick,
						die Physiognomie des Zeitalters kennen lernen, so müssen wir uns
						selbstverständlich an die nachahmenden Künste halten.
						
						Vivian.
						
						Ich bin nicht der Ansicht. Denn was bieten uns im
						Grunde die nachahmenden Künste? Doch nur eine Auswahl verschiedener Stilarten,
						die von bestimmten Künstlern erfunden und in gewissen Kunstschulen ausgebildet
						wurden. Du glaubst doch nicht etwa, daß die Menschen des Mittelalters auch nur
						im entferntesten jenen Figuren ähnlich waren, die uns in der mittelalterlichen
						Glasmalerei und Holzschnitzerei oder in der mittelalterlichen Skulptur und
						Metallarbeit, in der Teppichwirkerei oder in den bunt bemalten Handschriften
						begegnen? Es waren vermutlich ganz gewöhnliche Menschen, die durchaus nichts
						Groteskes oder Phantastisches oder irgend etwas Auffallendes an sich hatten.
						Das Mittelalter, wie wir es aus Kunstwerken kennen, ist nichts, als ein in sich abgeschlossener Stil, und es liegt kein Grund vor,
						weshalb nicht auch das neunzehnte Jahrhundert einen Künstler desselben Stils
						hervorbringen sollte. Kein großer Künstler sieht die Dinge, wie sie wirklich
						sind. Er würde aufhören, Künstler zu sein. Nehmen wir ein ganz modernes
						Beispiel. Ich weiß, du liebst japanische Kunstgegenstände. Solltest du
						ernstlich glauben, daß die Japaner, wie sie in der Kunst dargestellt werden,
						wirklich leben? Dann hättest du nämlich gar nichts von der japanischen Kunst
						begriffen. Die Japaner sind die eigenmächtige Schöpfung einzelner Künstler.
						Wenn du die Männer und Frauen eines Hokusai, oder Hokkei, oder irgendeines
						eingeborenen Malers mit wirklichen Japanern oder Japanerinnen vergleichst, so
						wirst du sehen, daß auch nicht die geringste Ähnlichkeit besteht. Die Menschen,
						die in Japan leben, gleichen dem Durchschnitt des Engländers, was so viel
						heißt, daß sie äußerst trivial sind und nichts Bemerkenswertes oder
						Außergewöhnliches an sich haben. Eigentlich ist das ganze Japan eine reine
						Erfindung. Es gibt kein solches Land, keine solchen Menschen. Einer unserer
						liebenswürdigsten Maler ging vor kurzem nach dem Land der Chrysanthemen, in der
						törichten Hoffnung, er werde die Japaner sehen. Alles, was er sah, und alles,
						was er malen konnte, waren Lampions und Fächer. Es war ihm unmöglich, die
						Einwohner zu entdecken, wie seine reizende Ausstellung in der Dowdeswell-Galerie
						nur zu deutlich zeigt. Er wußte nicht, daß die Japaner, wie ich eben sagte,
						einfach eine besondere Stilart, eine prachtvolle Phantasie der Kunst sind. Und
						deshalb, wenn du etwas Japanisches zu sehen wünschst, wirst du nicht wie ein
						törichter Reisender nach Tokio gehen. Im Gegenteil, du wirst zu Hause bleiben,
						dich in die Arbeit bestimmter japanischer Künstler vertiefen und, von der
						Eigenart ihres Stils und der schöpferischen Kraft ihrer Phantasie ganz
						durchdrungen, wirst du dich eines Nachmittags in den Park setzen oder durch
						Piccadilly schweifen, und wenn du dort nicht ein echt japanisches Stimmungsbild
						siehst, wirst du es nirgends sehen. Aber kehren wir wieder in die Vergangenheit
						zurück. Nehmen wir als ein zweites Beispiel die alten Griechen.
						
						Meinst du, daß wir durch die griechische Kunst
						erfahren, wie die Griechen ausgesehen haben? Glaubst du, die Frauen Athens
						hatten Ähnlichkeit mit den stattlichen, hoheitsvollen Gestalten des
						Parthenonfrieses oder mit jenen wunderbaren Göttinnen, die in den Giebelfeldern
						dieses Tempels thronten? Wenn du nach den Kunstwerken urteilst, wirst du es
						annehmen müssen. Aber lies eine Autorität, wie zum Beispiel den Aristophanes.
						Du wirst dich überzeugen, daß die Damen Athens sich schnürten und Schuhe trugen
						mit hohen Absätzen, daß sie ihr Haar gelb färbten und sich schminkten, genau
						wie die törichten Damen der Mode- und Halbwelt von heute.
						Wir blicken durch den Schleier der Kunst auf die Zeitalter zurück, und die
						Kunst hat glücklicherweise noch immer gewußt, die Wahrheit zu verbergen.
						
						Cyril.
						
						Aber die Porträtbilder der modernen englischen
						Maler, wie steht es mit ihnen? Die sehen doch sicherlich den Menschen ähnlich,
						die sie vorstellen.
						
						Vivian.
						
						Ja eben. Sie sehen ihnen so ähnlich, daß nach
						hundert Jahren keiner mehr an ihre Echtheit glaubt. Die einzigen Porträts, an
						deren Echtheit man glaubt, sind solche, in denen das Model die Nebenrolle und
						die Persönlichkeit des Malers die Hauptrolle spielt. Holbeins Zeichnungen von
						Männern und Frauen wirken durch ihre unmittelbare Lebendigkeit. Das liegt aber
						daran, daß Holbein das Leben zwang, seine Bedingungen anzunehmen, die Grenzen,
						die er ihm setzte, zu wahren, den Typus, den er schuf, nachzubilden und nur in
						der Gestalt in die Erscheinung zu treten, in der er es wünschte. Es ist der
						Stil, der unser Zutrauen erweckt – und nur der Stil. Die meisten unserer
						modernen Porträtmaler werden notwendig in vollkommene Vergessenheit geraten.
						Sie malen niemals, was sie sehen. Sie malen, was das Publikum sieht, und
						das Publikum sieht gar nichts. 
						
						Cyril.
						
						Nun endlich möchte ich den Schluß deines Artikels
						hören.
						
						Vivian.
						
						Sehr gerne. Ob er von irgendwelchem Nutzen sein
						wird, weiß ich wirklich nicht zu sagen. Nur so viel weiß ich, daß unser
						Jahrhundert das geistloseste und nüchternste ist, das man sich denken kann. Was
						meinst du, selbst der Gott des Schlafes hat uns betrogen und hat die Tore aus
						Elfenbein geschlossen, und die Tore aus Horn geöffnet. Nichts hat mich je so
						entmutigt, wie die beiden dicken Bände van Myers und die Verhandlungen der
						Physical Society über die Träume unserer mittleren Volksschichten. Sie enthalten
						nicht einmal eine schöne Alpvorstellung. Sie sind trivial, schmutzig und
						langweilig. Was die Kirche angeht, so gibt es nach meinem Dafürhalten nichts
						Günstigeres für die Kultur eines Landes, als Menschen, die es für ihre Pflicht
						halten, an das Übernatürliche zu glauben und täglich Wunderwerke zu verrichten,
						denn dadurch nähren sie jenen mythenbildenden Geist, der die Seele der
						Phantasie ist. Unter englischen Theologen aber gelangt immer der zu Ehren, der
						fähig ist, zu zweifeln, nicht der, der fähig ist, zu glauben. In unserer, und
						nur in unserer Kirche steht der Skeptiker am Altar und wird der heilige Thomas
						als der ideale Apostel hingestellt. Mancher ehrwürdige Pfarrer, der
						sein Leben lang bewunderungswürdige Taten der Menschenliebe verübte, lebt und
						stirbt, ohne jemals bemerkt und bekannt zu werden; aber es genügt schon, daß
						irgendein seichter, ungebildeter Kandidat, der mit Ach und Krach sein Examen
						bestand, auf die Kanzel tritt und sich über die Arche Noahs oder den Esel
						Balaams oder den Walfisch des Jonas skeptisch äußert, und halb London eilt
						herbei, um ihn zu hören und mit aufgerissenem Munde dazusitzen, ganz in
						Bewunderung seines unerhörten Scharfsinns verloren. Das Überhandnehmen des › common
						sense‹ in Dingen der Religion ist etwas, was in England nicht genug
						bedauert werden kann. Es bedeutet das eine höchst törichte und degradierende
						Einwilligung in eine tiefstehende Art des Naturalismus. Es entspringt einer
						vollkommenen psychologischen Unkenntnis. Die Menschheit kann an Dinge glauben,
						die unmöglich sind; sie wird nie an Dinge glauben, die unwahrscheinlich sind.
						Aber ich will meinen Artikel zu Ende lesen:
						
						»Es ist auf alle Fälle unsere Pflicht, diese alte
						Kunst des Lügens aufs neue zu beleben. Schon im Familienkreise, auf
						Gesellschaften und literarischen Zusammenkünften kann man auf diese Erziehung
						des Publikums hinwirken, obgleich dies nur die lustige und anmutige Seite des
						Lügens ist, wie sie wohl auf den Diners der alten Kreter gehandhabt wurde. Es
						gibt aber noch viele andere Arten. Das Lügen, durch das man
						sich einen unmittelbaren persönlichen Vorteil verschafft – das Lügen mit
						moralischer Absicht, wie man zu sagen pflegt – gilt bei uns für unmoralisch,
						galt aber bei den Alten für durchaus berechtigt. Athene lacht, als sie die
						ränkevollen Worte des Odysseus vernimmt, und die Pracht der Lüge schmückt die
						bleiche Stirn der makellosen Helden Euripideischer Tragödien und stellt die
						junge Braut einer der herrlichsten Oden des Horaz unter die edelsten Frauen der
						Vergangenheit. Was zunächst nur ein natürlicher Instinkt war, wurde späterhin
						der Gegenstand zielbewußter Pflege. Daraus entwickelte sich eine ganze Lehre,
						um die Menschheit zu leiten, und entstand eine wichtige Schule des Schrifttums.
						In der Tat, wenn man sich erinnert, wie prachtvoll Sanchez diese Frage
						philosophisch behandelt, kann man nur bedauern, daß noch niemand auf den
						Gedanken kam, eine treffende Auswahl der Werke dieses großen Kasuisten in einer
						billigen Ausgabe zu veröffentlichen. Eine elegante und nicht zu teuere Ausgabe
						einer kurzgefaßten Anleitung ›Wie und wann man lügen soll‹ würde zweifellos
						viel gekauft werden und sicherlich vielen gewissenhaften und tiefdenkenden
						Menschen von wahrem praktischem Nutzen sein. Das Lügen, um die Jugend zu
						vervollkommnen, das die Grundlage der häuslichen Erziehung bildet, ist hier und
						da noch bei uns Sitte, und seine Vorteile sind in den ersten Büchern
						der Politeia von Plato in so bewunderungswürdiger Weise dargestellt, daß ich
						auf sie an dieser Stelle nicht einzugehen brauche. Es ist eine Art des Lügens,
						für die alle guten Mütter ein besonderes Talent haben; sie ist aber noch
						weiterer Ausbildung fähig, was von den Schulmeistern leider nicht beachtet
						wird. Das Lügen um des jährlichen Gehaltes willen ist, wie sich von selbst
						versteht, in den Volksparteien weit verbreitet und der Beruf dessen, der
						politische Leitartikel schreibt, hat gewiß seine Vorteile. Nur soll es ein
						langstieliges Amt sein und führt zu weiter nichts als einer Art offenkundiger
						Verdunkelung von Tatsachen. Die Art des Lügens, die ganz allein über
						jede Kritik erhaben ist, ist das Lügen um seiner selbst willen, und wie wir
						schon hervorgehoben haben, ist ihre höchste Entwickelungsstufe die Lüge in der
						Kunst. So, wie es denen verwehrt ist, den Fuß über die Schwelle der Akademie zu
						setzen, die die Wahrheit mehr lieben als Plato, wird das letzte Geheimnis der
						Kunst denen für immer verborgen sein, die die Wahrheit mehr lieben als die
						Schönheit. Der schwerfällige Götze des Britischen Verstandes liegt unbeweglich
						in der Wüste, wie die Sphinx in Flauberts herrlicher Erzählung, und die
						Phantasie, La Chimère, tanzt um ihn herum und lockt ihn mit ihrer
						falschen, süßen Flöten-Stimme. Noch mag es zu früh sein, daß er auf sie hört,
						aber wenn wir einmal all des trivialen Charakters moderner
						Dichtung satt geworden sind, wird auch der Tag kommen, da er ihr zuhört und
						ihrer Schwingen begehrt.
						
						Wenn der Tag anbricht, oder die alte Sonne
						sich zum Untergange rötet – wie festesfroh sind wir dann! Tatsachen werden für
						schimpflich erklärt, die Wahrheit sieht man über ihre Ketten trauern, und im
						Gefolge der Dichtung ziehen die Wunder wieder ein. Die Welt und alle Dinge sind
						dem staunenden Auge verwandelt. Aus dem Meere tauchen Behemoth und Leviathan
						und umsegeln die hochragenden Galeeren, wie uns die köstlichen Karten jener
						Tage zeigen, da geographische Bücher noch lesbar waren. Geflügelte Drachen
						gehen um auf verlassenen Weiten, und von seinem Feuer-Neste fliegt der Phönix
						auf. Der bezähmte Basilisk liegt uns zu Füßen, und wir sehen den Edelstein im
						Kopf der Kröte. Den vergoldeten Hafer fressend, steht der Hippogryph in unseren
						Ställen, und über unseren Häuptern schwebend singt die Winter-Drossel von
						herrlichen und unmöglichen Dingen, von Dingen, die wir lieben und die
						unerreichbar sind, von Dingen, wie sie nicht sind, doch sein sollten. Aber ehe
						sich dies alles ereignet, müssen wir die verlorene Kunst des Lügens pflegen.«
						
						Cyril.
						
						Dann wahrlich müssen wir sie sofort pflegen.
						Damit wir uns aber ganz versichern, möchte ich, daß du mir
						in aller Kürze die neuen Lehren deiner Ästhetik gibst.
						
						Vivian.
						
						In aller Kürze sind es diese: Die Kunst stellt
						nur sich selbst dar. Sie führt ein abgeschlossenes, unabhängiges Leben, gerade
						wie das Denken, und entwickelt sich rein organisch. Sie ist nicht notwendig
						naturalistisch in einem naturalistischen Zeitalter, nicht notwendig geistig in
						einem religiösen. Weit davon entfernt, ein Kind der Zeit zu sein, befindet sie
						sich gewöhnlich in scharfem Gegensatz zu ihr, und die Geschichte, die sie uns
						überliefert, ist einzig die Geschichte ihres eigenen Fortschrittes. Zuweilen
						nimmt sie früheres wieder auf, wie in der archaistischen Bewegung der späten
						griechischen Kunst, und in der praeraphaelitischen unserer heutigen Zeit.
						Zuweilen auch greift sie der Zeit vor und gibt uns Dinge, die erst nach hundert
						Jahren vollauf verstanden und gewürdigt werden. Niemals aber gibt sie ein
						Abbild der Zeit. In der Kunst eines Zeitalters das Zeitalter selbst sehen zu
						wollen, ist der Erbfehler aller Geschichtsschreiber.
						
						Die zweite Lehre ist diese. Alle schlechte Kunst
						entsteht da, wo man zum Leben und zur Natur zurückkehrt und diese als die
						höchsten Güter hinstellt. Das Leben und die Natur mögen der Kunst zuweilen als
						rohes Material dienen, doch sie sind erst dann von wahrem künstlerischem
						Wert, wenn die Kunst sie in eine konventionelle Zeichensprache umgewandelt hat.
						Sobald die Kunst das Ausdrucksmittel ihrer Phantasie aufgibt, gibt sie alles
						auf. Der Naturalismus als Methode künstlerischen Sehens ist vollkommen
						verfehlt, und was jeder Künstler vor allen Dingen vermeiden sollte, ist
						Modernität des Gegenstandes. Für uns, die wir im neunzehnten Jahrhundert leben,
						läßt sich jedes Jahrhundert künstlerisch verwenden, nur das unsere nicht. Die
						einzigen wirklich schönen Dinge sind die Dinge, die uns nichts angehen. Gerade
						deshalb, um mich selbst zu zitieren, weil uns Hekuba nichts angeht, bilden ihre
						Leiden einen so herrlichen Gegenstand der tragischen Kunst. Außerdem wird immer
						nur das Moderne altmodisch. Zola gibt sich daran, ein Bild des zweiten
						Kaiserreichs zu zeichnen. Wen interessiert heutzutage das zweite Kaiserreich?
						Es ist aus der Mode. Das Leben läuft dem Naturalismus davon, aber die Romantik
						läuft schneller noch als das Leben.
						
						Die dritte Lehre ist, daß das Leben die Kunst
						weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben. Das liegt nicht nur an dem
						Instinkt der Nachahmung, den das Leben besitzt, sondern auch daran, daß das
						bewußte Leben immer bestrebt ist, sich mitzuteilen, und daß die Kunst ihm
						schöne Formen bietet, durch die die Betätigung dieses Strebens ermöglicht wird.
						Es ist eine Lehre, die noch nirgends aufgestellt wurde, die
						aber von außerordentlicher Tragweite ist und auf das Wesen und die Entwickelung
						der Kunst ein völlig neues Licht wirft.
						
						Hieraus folgt noch, daß auch die Natur die Kunst
						nachahmt. Die einzigen wirksamen Motive, die sie uns bietet, sind solche, die
						wir schon aus der Poesie und der Malerei kennen. Das ist das Geheimnis der
						Reize der Natur und die Erklärung ihrer Schwächen.
						
						Die letzte und wichtigste Offenbarung ist die,
						daß das Lügen, die schöne Unwahrheit zu sagen, das eigentliche Ziel der Kunst
						ist. Doch hiervon habe ich ausführlich gesprochen. Und jetzt laß uns auf die
						Terrasse hinausgehen, wo ›der milchweiße Pfau wie ein Gespenst hinsinkt‹, und
						der Abendstern ›die Dämmerung in Silber badet‹. Zur Dämmerstunde flüstert die
						Natur uns wundersame Dinge zu, und wir lieben sie dann, und doch sehe ich ihren
						Hauptzweck darin, daß sie uns die Worte der Dichter erklärt. Komm! Wir haben
						lange genug geredet.
 
 
