Omer Waldman: Die Kapitel mit Tehila
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Foto: Tal-Shahar Knohl
Omer Waldman
Die Kapitel mit Tehila
aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
In diesem Buch ballt sich eine Sprache, die weder Jargon ist noch Poem,
denn ich wollte, dass es größer sei als ich. Doch wenn ich es noch mal erwäge, bedaure
ich, dass mein Buch deswegen nicht die Jugendlichen erreicht, die vielleicht
seine wahre Leserschaft sind. Denn sein Warten ist aussichtlos, genau wie ihres.
In meiner Jugend war ich von Menschen umgeben, die damit beschäftigt waren, die
ganze Zeit zu sagen: Wir sind die Gegenwart. Und ich habe zugehört und mich
verstellt. Später wurde ich, wie es üblich ist, eingezogen und traf junge
Menschen aus anderen Orten. Ich fragte, was habt ihr bis jetzt gemacht. Sie
antworteten, wir waren damit beschäftigt, zu warten, dass etwas passiert. Zum
Beispiel, dass das, was wie Liebe aussieht, nicht die einzige Möglichkeit für
Liebe ist, nur weil sie fußläufig zu erreichen ist. Da war ich erleichtert.
Dass nicht nur ich mich mit diesem ewigen Warten fertig gemacht hatte. Hier, an
einem anderen Ort, während ich versuche, mit meiner Sprache das Hindernis von
Gegenwart und Körper zu überwinden, würde ich gerne ein Publikum erreichen, unter
dem auch Jugendliche aus Jerusalem, Ramat Gan, Zichron Ja’akov, Rosch Pina sind,
aus jedem Ort, wo man gewartet hat. Wo man auf das Leben gewartet hat. Wo es
keine andere Wahl gab, als zu warten
In jener Nacht, eine, die mir erstmals anhängt
Ich will weinen. Ich habe gar nicht so viel
über dich geweint
Tehila
In jener Nacht, als das Salz Israels in meinen Kleidern hing, stand ich,
bevor ich hinausging, in dem Zimmer, wo Tehila ihre Wasser ausgeschüttet hatte,
und schlug das Buch aus ihrer Kindheit auf. In fremden Häusern begutachte ich
nie die Bibliothek, es sei denn, es befindet sich auch eine auf dem Abtritt. Im
Hause meiner Mutter hockte ich mich nieder, ohne dabei an Bücher und
Geschriebenes zu rühren, denn meine Eltern sind Handwerker. Hingerissen war ich
dagegen von den Abtritten, die meine Freunde, Kinder von Gebildeten hatten,
denn sie verbargen dort gern Bücher über Kunst und Ethik. Im Hause Tehilas sind
die meisten Bücher heimlich versteckt, offen hingelegt haben sie dort, wo man
sich die Hände wäscht, allein die Geschichte des Waisenmädchens Anne auf
Green Gables. Als wäre es dort inhaftiert, um es möglichst oft zu befreien.
Nacht für Nacht stand Tehila mit all ihren Schwestern an diesem Ort, und sie
hielten das Buch fest in Händen wie ein Gebet, das sie von hier aus hinter sich
gelassen hatten. Und auf einzigartige Weise, auf ihre Weise, warteten sie auf
etwas: Die guten Augen der Schwestern glichen feinem Geschmeide, und Tehila
weinte wie eine hohe Trauer-weide.
In jener Nacht schlug ich das Buch zufällig auf, um anstatt meiner schludrigen
Gedichte erlesene Dinge um mich zu haben. Und dort sprach von jenseits der
Seiten der Duft der Mädchen des Hauses zu mir: „Ich glaube nicht, dass ich so geweint
habe, weil ich so sehr an ihm hing, ich habe geweint, weil das alle so machen.“
Und auf einer anderen Seite stand geschrieben, dass ein Kummer ohne Träne unbegreiflicher
bleibt als ein Kummer, der gewaltige Erschütterung spiegelt. Und darum stand
Tehila als eine Anne auf Green Gables, im Winter in ihrem Zimmer, am Fenster,
und wartete auf einen Stern und wartete auf eine Träne, dass jemand sie von aus
dem Zimmer deutlich vernähme, und ihr aus niedrighängendem Himmel Vergebung zuspräche.
Und ich war ja in ihrem Alter wie alle Jungen, die eine Träne im Dunkeln
verhehlen und sich selbst als Dichter bezeichnen, und auch ich wollte Erschütterung
spiegeln, gewaltige; darum übertrug ich meinen Namen in Omer, der Waldige. Mehr
dazu wurde in dem Buch Anne auf Green Gables angemerkt (das, selbst wenn
ich es nicht will, ein zutiefst ehrliches Buch ist), denn ein Mädchen wird
keine Liebe zu Gott empfinden, solange sie nicht die Liebe zu einem Menschen entdeckt
hat. (Vielleicht habe ich sie betrogen. Vielleicht war es zu früh –)
Vielleicht war es zu früh. Vielleicht war es zu früh für solche
Entdeckungen. An die ich mich auswendig erinnere, weil ich solche täglich nach
dem feuchten, nächtlichen, honigähnlichen Licht, in dem sie mir erstmals
schriftlich erschienen waren, aus dem Munde Tehilas hörte. Entdeckungen, die
mir nicht einen Augenblick in dem ganzen Leben mit ihr, bis zu dessen Ende,
erspart blieben. Doch in jener vergebenen Nacht legte ich das Buch an seinen
Platz und verließ das Haus Tehilas für eine Stunde, die sie zwischen Tränenwasser
und Duschwasser verbrachte. Und als ich zurückkehrte, galt ich nicht mehr als
Heimkehrer, sondern als Landstreicher.
Derart abgeschrieben war ich bereits. Derart zerredet. Derart hatte ich bereits
alles gesagt. Und die Besorgnis ließ mein Haar frühzeitig grau werden. Und
meine Haut wurde runzlig vor unendlichem Mädchenweinen, das mit einem heftigen
Zittern auf meinen Knochen musizierte, ein Zittern, deutlicher als Worte und weise.
Und barmherzig, denn es sühnt Vergehen. Und es hat Talent zum Weinen. Und wird
eins mit dem Weinen meiner Frau, jetzt, am Schabbat-Abend, in der Ayalon Mall,
als sie sagte: „Ich will zu Mama“. Und jede Möglichkeit, irrezugehen, scheint
vorüber.
Und es hat Talent zu einem Weinen der Männlichkeit. Wie in jener Nacht, als
ich nicht länger auf Tehilas Schwelle harrte, zu einer Buchpremiere aufbrach,
und Haim Gouri mitten im Saal stand und auswendig, dass man Angst kriegen
konnte, vortrug:
Doch bevor der Morgen anbrach, in jener Nacht
stand ich sachte auf, vor Erleichterung.
Und umschloss ihren Hals mit schattiger Hand
denn die Liebe unserer Seelen blieb gespannt
nie wird sie uns genommen, nie gegeben sein.
und brach in Tränen aus.
Denn was ist Talent zum Weinen anderes, sprach das Waisenmädchen Anne auf
Green Gables, als „die Welt untertauchen zu sehen in himmlischem Licht, geschmückt
mit Glanz und Frische.“ Und das glückte uns in jenem Augenblick wie den Besten der
jungen Männer, Gouri und mir, als wir unser Gesicht im Becken untertauchten,
Flüssiges mit Flüssigem abzu-waschen. Und er sah mich bis in Ewigkeit
unverheiratet. Einer, der nicht über sich hinaus, den niemand zum Mann nimmt. Der
nicht in seinen Spuren zurückkehren kann. Aber er zu irgendetwas ist er ja zurückgekehrt
in jener Nacht. Einer, der letztlich lebt. Der über Abgründen tanzt. Und ich hatte
nicht das Gefühl, dass er einen Fremden in mir sah. Anschließend kehrte er mit
mir nach Jerusalem zurück.
Die Kapitel mit Tehila: Der Titel Pirkei Tehila spielt mit der Ähnlichkeit zu Pirkei Tehilim, der hebräischen Bezeichnung für „Kapitel aus den Psalmen“; „tehila“ bedeutet Lobpreis, und auch Glanz, Ruhm.
Anne auf Green Gables: Das kanadische Kinderbuch von Lucy Maud Montgomery wurde als „Ha’asufit“ (Das Waisenmädchen) ins Hebräische übersetzt.
„Doch bevor der Morgen anbrach“: Die zitierten Verse stammen aus dem Gedicht „Ha’asufi“ (Der Waisenjunge) von Nathan Alterman.
Omer Waldmans zweiter Gedichtband Die Kapitel mit Tehila (Pirkei Tehila) erschien 2024 in Israel in dem unabhängigen Verlag Hava Laor für experimentelle Literatur; die zweite Auflage kam im Juni desselben Jahres heraus und ist erneut vergriffen. In einem stilistisch eigenwilligen, entrückten Hebräisch, das aus biblischen und talmudischen Quellen schöpft, werden gewöhnliche Erlebnisse u.a. in Tagebuchform übertragen: die enttäuschte Liebe zu Tehila, einem jungen Mädchen aus Jerusalem, aber auch der Wunsch nach einer Leichtigkeit des Seins, wofür die Jugend gemeinhin steht. Die übersetzten Auszüge geben das Vorwort des Dichters und ein lyrisches Prosastück zu lesen.
Omer Waldman forscht zur modernen hebräischen Literatur, ist Dichter und Herausgeber. In
seiner Doktorarbeit an der Hebräischen Universität in Jerusalem, die er
demnächst abschließt, widmet er sich der Sprache von Avot Yeshurun. Dafür hat
er auch ein Wörterbuch mit allen lexikalischen Neologismen, die in dessen
Büchern vorkommen, erstellt. Omer Waldman publiziert Gedichte, Kurzgeschichten,
Übersetzungen, Rezensionen, Essays und Aufsätze in israelischen Tageszeitungen
(Haaretz, Yediot Aharonot) und in renommierten
Literaturzeit-schriften (u.a. Ho!, Hava Lehaba). 2019 erschien
sein erster Gedichtband, Körperliche Erziehung (Chinuch gufani,
Hakibbutz Hameuchad), darauf folgte 2024 ein zweiter, Die Kapitel mit
Tehila (Pirkei Tehila, Hava Leor). Für sein literarisches und
wissenschaftliches Werk wurde er bereits wiederholt ausgezeichnet, darunter 2024
mit dem Levi Eschkol-Preis für hebräische Schriftsteller (Preis des
Ministerpräsidenten) und 2016 mit dem Preis des Ministeriums für Kultur und
Sport für Dichter am Anfang ihrer Laufbahn.
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