Odile Kennel: Hors Texte
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Stefan Hölscher
Odile Kennel: Hors
Texte. Gedichte. Berlin (Verlagshaus Berlin) 2019. 120 Seiten. 17,90 Euro.
Off-Texte sinnlichen Begehrens
Der neue, im
Verlagshaus Berlin erschienene Gedichtband von Odile Kennel offenbart sich dem
Lesenden mit einem seltsamen Phänomen: Der auf dem weißen Cover mit großen
schwarzen Lettern geschriebene Titel ist mit sinnlich (blut-)rot gezogenen geraden
Linien durchgestrichen und erzeugt dadurch sofort Fragen und Irritation: Hors Texte, der französische
Begriff für Text außerhalb des laufenden Textes und im Buch mit off-text übersetzt. Das also wollen oder
sollen die Gedichte des mit weniger als 60 Druckseiten sehr kompakt geratenen
Bandes sein: Kein offizieller Text, sondern eine Art Subtext, vielleicht sogar
ein subversiver Text, der Dinge sagt, die im offiziellen Text so nicht
vorkommen oder vielleicht auch nicht vorkommen dürfen.
Inhaltlich beziehen
sich die Gedichte in dem Band dabei schwerpunktmäßig auf Sehnen, Lieben und
Begehren – allerdings sehr oft auf solches, das keine Erfüllung findet und das,
wie es scheint, von Grund auf vergeblich bleibt. Vergeblich in der Weise, dass
es nicht in eine irgendwie dauerhafte wechselseitige Liebesbeziehung zu führen
scheint, dass es – so könnte man sagen – also nicht zum offiziellen
Ereignistext wird. Gleichzeitig erweist sich die Nichterfüllung in den
Gedichten des Bandes aber als geradezu unstillbarer Quell sinnlicher
Phantasien, Bezüge und erdachter Geschehniszusammenhänge zwischen dem lyrischen
Ich und der ersehnten Person:
Versuch, dir auch aus dieserHafenstadt keinen Liebesbrief zu schreiben, nicht einmalin Gedanken, als sei es irgendeine Stadt, als seist duirgendwer, und die Traurigkeit, die mich zwischenden Türen zweier Kneipen anfällt, weil kein Glaszur Hand ist oder der Fluss wie ein Versprechenan einer Ecke auftaucht, nicht meine …
Selbst da, wo das
lyrische Ich offenbar eine real gewordene Beziehung zur geliebten Person hat,
schiebt sich die Referenz auf das dabei Nicht-Mit-Erlebte in den Vordergrund:
und als du sagtest, wie in diesem Gedicht, das duübersetzt, stand ich einmal nachts am GrandCanyon, die Schönheit fand nur im Kopf statt,da wurde mir klar, wie groß die Zeitspanne ist,in der ich nichts wusste von dir, deinem Lebenin anderen Ländern, mit anderen Menschen,ich weiß nicht, wie du vom einen zum anderenOrt gelangt bist, und warum, woher diese kleineNarbe am Knie kommt, die ich mir ausdenke, oderder Kaffeefleck auf Seite 34 im Buch, das dumir ausgeliehen hast …
Schönheit und Begegnung
finden (fast) nur im Kopf statt, und
das lyrische Ich hat nicht nur keine Antwort in Bezug auf Fragen zu wichtigen Ereignissen
im Leben der geliebten Person, sondern selbst scheinbar physisch klare
Bezugspunkte dieser Fragen (diese kleine
Narbe am Knie), sind nur ausgedacht, um der geliebten Person eine konkrete
Gestalt zu geben.
Die Gedichte von Odile
Kennel sind immer wieder ein Herantasten an die geliebte Person mit Sprache,
ein Finden durch Erfinden und Wiederwegbrechen, ein Füllen eines fehlenden on-texts durch einen dem lyrischen Ich
Beziehungsräume eröffnenden off-text:
mit der Sprache taste ich michan die Kante heran, wo Körperbeginnt. Ein Wort zu viel, ichfalle. Falle in die Spaltezwischen zwei Körpern, zweiWörtern, die Körper sind …
Die Nähe, die mitunter
sogar scheinbare Gleichheit von Wörtern und Körpern und die Kluft zwischen
ihnen: darum geht es immer wieder in den Tastbewegungen von Odile Kennels
Gedichten. Das Fallen, das dabei geschehen kann, scheint janusköpfig zu sein: Es
kann ein Fallen sein wie ein schmerzlicher Sturz, aber auch wie in einen
sinnesbetörenden Rausch.
Stilistisch erscheinen
die Gedichte insgesamt sehr heterogen: Es gibt so prosanahe Texte, dass man
sich beim Lesen fragen kann, ob anderes als die Anordnung der Zeilen / Verse
hier überhaupt ein deutliches Lyriksignal sendet. Es gibt Texte, die stark mit
Reihungen arbeiten und es gibt Texte, in denen die deutsch-französische
Autorin, die zugleich auch Kinderbuchübersetzerin aus dem Französischen,
Portugiesischen, Spanischen und Englischen ist, multilingual und durchaus auch
von konkreter Poesie inspiriert, ihr Thema lautlich umspielt:
need nid si ici partipris plis please liedme nie lieber lieb me heatlid between linnen find fließen sinnsilben von sinnen please hearme hier innen split me intopieces give friede mit befingern mitlick me risque biss risk riss tickt …
Was sich allerdings durch
alle Texte hindurchzieht, ist bei allem unerfüllten Sehnen ein spielerisch
luzider Grundton, bei dem man immer auch ein nicht zu wenig selbstironisches
Lächeln der Dichterin mit vernehmen kann. Und was sich ebenso durch alle Texte
zieht, ist die Eindeutigkeit einer weiblichen Perspektive, mit der das lyrische
Ich hier spricht. Ob die begehrte Person (vielleicht sind es ja auch mehrere)
männlichen oder weiblichen Geschlechts ist, wird weit weniger eindeutig, selbst
da, wo es erotisch prall zur Sache
geht:
ich bin die reife Frucht, die aufplatzt und nichtwusste, dass sie reif war. Prall, Knall, Loch.Getropfe: Saft und Sauerei! Rinnt übers Kinn,macht Flecken am Hemd! Beiß reinin die Feige, füttere Erdbeeren, pflücke,zerpflückte Grantapfel. Ich habe613 Kerne und kein Gesetz. Setzenur dir hinterher. Fühle mich flatterig, fahredie Fühle aus, laufe auf Los, laufe aus.
Odile Kennels Off-Texte
können, so wie hier, sehr farbenfroh und drastisch werden. An anderen Stellen
sind sie voller Sehnen und Melancholie, bohrend reflexiv oder frech geschichten-erfindend.
Illustriert werden sie in dem Band sehr stimmig durch die Zeichnungen von
Martina Liebig, die die Motive in den Texten zum Teil augenzwinkernd leicht,
zum Teil mit fast barocker Opulenz aufgreift. So ist auf dem Buchcover
unterhalb des durchgestrichenen Titels ein einzelnes Streichholz zu sehen. Ganz
am Ende des Buches kann man dann das Bild einer ein wenig aufgezogenen, aber
leeren Streichholzschachtel entdecken. Ist das Feuer (vorerst) abgefackelt, das
Pulver verschossen? Finden Zündholz und Reibefläche zum tatsächlichen Entzünden
einfach nicht zusammen? Oder geht das Feuer hier seinen Weg nur über die Texte
und lässt die Lesenden dann zurück mit einer scheinbar belanglosen
Streichholzschachtel, aus deren Hölzern aber alles Lodern entstanden ist (und
die man ja auch wieder nachfüllen kann)?
Der Band der Hors Texte spielt mit scheinbaren
Eindeutigkeiten. Er enthält für mich durch und durch queere Gedichte. Gedichte,
die von nicht rein heterosexuellen Liebesformen handeln, die scheinbare
Gewissheiten über Identität und erotische Polungen notorisch infrage stellen, die
schillernd bunt und vehement gegen den Strich gebürstet sind. Und die eines nie
sind: langweilig.