Norwegische Lyrik 2019
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Michael
Braun
Das
weiße Haus wird niemals blau
Die norwegische
Poesie zwischen Mystik und Jazz
Die moderne
Poesie Norwegens verdankt ihre aufregendsten Momente einem Bündnis mit dem
Jazz. Einige Wochen bevor er aus einem Hotelzimmerfenster in Amsterdam in den
Tod stürzte, besann sich Chet Baker, der größte Jazztrompeter des 20.
Jahrhunderts, noch einmal seiner norwegischen Herkunft. Im Februar 1988 ging er
mit Jan Erik Vold, dem bereits damals populärsten Lyriker Norwegens, ins Studio
– und das Ergebnis war „Telemark Blue“, bis heute eines der in Norwegen
meistverkauften Jazz & Poetry-Alben. Das Leben sei eine dunkle Reise und
Musik sei das Licht auf diesem Weg, zitierte Jan Erik Vold damals den
Jahrhunderttrompeter – und vielleicht gilt dieses Motto auch für das poetische
Werk des 1939 geborenen Jan Erik Vold selbst, der seit 1965 über zwanzig
Gedichtbände vorgelegt hat und mittlerweile der Grand Old Man der norwegischen
Poesie ist. Zum 80. Geburtstag wird dem Dichter nicht nur ein aufwändiger
Dokumentarfilm gewidmet, der während der Frankfurter Buchmesse im Filmmuseum
gezeigt wird – sondern auch eine auf dem höchsten Niveau der Buchkunst
hergestellte Ausgabe seiner „Träumemacher Trilogie“, die, in puristisches Weiß
gehüllt, soeben im Münsteraner Kleinheinrich Verlag erschienen ist.
Das mit
Sicherheit in Gestaltung und Ausstattung ambitionierteste Poesiebuch der
letzten Jahre überzeugt indes nicht nur als haptisches Objekt, sondern auch mit
seiner poetischen Leuchtkraft. Jan Erik Vold hat mit seiner „Träumemacher
Trilogie“ ein Geflecht poetischer Meditationen geschaffen, das einem strengen
Formprinzip folgt. Als Einzelausgaben sind die drei Teile der Trilogie in den
Jahren 2002, 2004 und 2011 in Norwegen erschienen, das erste Buch, die „Zwölf
Meditationen“, wurde auf deutsch bereits 2009 im Verlag Waldgut publiziert, in
der Übersetzung von Walter Baumgartner, der jetzt die Gesamtübersetzung bei
Kleinheinrich verantwortet. Die 432
Gedichte der Trilogie sind sämtlich als dreistrophige Zwölfzeiler angelegt, die
pro Buch in zwölf Kapitel unterteilt sind, die ihrerseits wiederum zwölf
Gedichte enthalten. Es sind meist kurze Verseinheiten, manche Zeilen sind auf
ein evokativ stark aufgeladenes Einzelwort konzentriert, das dann im besten
Fall eine um so größere Strahlung entfaltet.
All diese Meditationen laufen auf ein Schlüsselerlebnis oder eine Epiphanie zu, mal in haikuartiger Verdichtung, mal in reflexiver Zuspitzung. Die strenge Struktur bringt es mit sich, dass man diese Zwölfzeiler bei längerer konzentrierter Lektüre wie Litaneien liest, als mystische Gebetsformeln und poetische Offenbarungsblitze. Kleine Alltagsdinge und kollektive geschichtliche Traumata werden hier enggeführt. Mit dem Fortschreiten der Trilogie konzentriert sich die poetische Imagination immer mehr auf die Suggestivkraft einer absoluten Farbe – auf das Weiß. Seit Stéphane Mallarmés „Un coup de dés – Ein Würfelwurf“ wurde das Weiß zum Wesensgrund des Dichterischen nobilitiert. Das Weiß des Papiers und der Weißraum zwischen den Wörtern wurden selbst zum poetischen Ereignis. Das Schweigen und die Leere erhielten damit eine eigene Stimme in der Komposition des Textes. An diese Huldigungen des Weiß schließt die „Träumemacher Trilogie“ direkt an. Und nicht nur im „Grossen Weissen Buch“, dem letzten Teil der Trilogie, aber dort mit besonderer Emphase:
SCHNEE, SCHNEE, WARUM FÄLLST DU ?
Schnee, Schnee, warumsteigstdu? Leben Leben, warumsinkstdu? Tod Tod, warumwartestdu, warum eilst du, warum schlägst duam falschenOrt zu? Der Baum ist weiß, von Schwarzhochgehoben. Der Baumist schwarz, beladen mit Weiß.
Der poetische Solitär Jan Erik Vold hat auch in einer neuen, editorisch ungewöhnlichen Anthologie mit zeitgenössischer Lyrik aus Norwegen seinen Auftritt. Ungewöhnlich ist der „Sternenlichtregen“-Band deshalb, weil er eine sehr asketische Form wählt. Die Anthologie, die als Gemeinschaftsunternehmen des Heidelberger Verlags Das Wunderhorn und des Gyldendal Norsk Forlag entstanden ist, verzichtet auf einen federführenden Herausgeber und auf ein erläuterndes Vor- oder Nachwort. Die insgesamt 18 Autorinnen und Autoren, übertragen von sieben Übersetzer(inne)n, werden nur mit einer knappen biografischen Notiz und jeweils drei bis acht exemplarischen Gedichten vorgestellt. Das darf man indes als Stimulus verstehen, selbst auf die Suche zu gehen nach den historischen Traditionslinien und Sprachgesten, die hier aus der poetischen Moderne weitergeführt werden. Der neben Rolf Jacobsen bekannteste norwegische Lyriker Olav H. Hauge (dessen Gedichte wie die Jacobsens in exzellenten Ausgaben bei der Edition Rugerup vorliegen) hat einmal lakonisch in sein Tagebuch notiert: „Tradition ist ein starker Fluss, der die Baumstämme vieler tragen kann. Es nützt nichts, das Holz auf der eigenen Pisse zu flößen, es kommt nicht weit.“ In diesem Sinne findet man auch in „Sternenlichtregen“ viele Anknüpfungen an diese Traditionen einer mystischen Introversion, wie sie Hauges Werk verkörperte – oder auch an jene Verlorenheits-Metaphysik Rolf Jacobsens, dem die dunklen norwegischen Stabskirchen Wegweiser waren in die Erfahrung von Existenz. „Reglos starren die Sterne hinab aus ihren Eisenaugen“, heißt es einmal in einem späten Gedicht Jacobsens. Gegen diese Erstarrungs-Metaphorik setzt der „Sternenlichtregen“-Band demonstrativ ein natur-mystisches Verständnis von dem noch greifbaren Licht der Sterne: „das licht rinnt über jedes blatt des körpers / vereist die tränen und schärft die gedanken“. So heißt es etwa in einem Gedicht der aus China nach Norwegen eingewanderten Dichterin He Dong. Und auch die poetische Emphase des Weiß ist wieder da – ganz in der Tradition des großen Jazz-Poeten Jan Erik Vold. So etwa bei dem 1949 geborenen Dichter Thor Sørheim:
Blaue DunkelheitDer Schnee passt sich an, wenn die blaue Stundeüber das Viertel gleitet. Der Vollmond im Ostensteht über dem Hausdach nebenan, wir sehen ihndurch das Küchenfenster, das an ein Gemäldevon Harald Sohlberg erinnert. Die Menschen auf der Straßewerden dunkler, der Vollmond leuchtet gelb, und dasweiße Haus ist weiterhin weiß. Es gibt über fünfzig Farbenvon Schnee, aber das weiße Haus wird niemals blau.
Die farbensatten unendlichen Landschaften des norwegischen Impressionisten Harald Sohlberg, seine schimmernden Mitt-sommernächte vor weißen heiligen Bergen oder stillen Seen: Diese vorbehaltlose Naturromantik, die in Sørheims Gedicht zitiert wird: sie kehrt nicht mehr zurück in die Wahr-nehmungswelt der norwegischen Gegenwartspoesie. Natur ist zu einem fremden Zeichensystem geworden. So bilanziert die Dichterin Sarah Selmer:
es gibt zu wenig zärtlichkeitin solchen strukturenim schnee zwischen den asphaltstreifenim geräusch des belüftungssystemsauf der anderen straßenseiteneue häuser, fassadenich bin geographieich bin südlich des verstandesund nördlich des impulses gereist
Jan
Erik Vold: Die Träumemacher-Trilogie. Aus dem Norwegischen von Walter
Baumgartner. Kleinheinrich Verlag, Münster 2019. 320 Seiten, 35 Euro.
Sternenlichtregen.
Zeitgenössische Lyrik aus Norwegen. Hrsg. von Verlag Das Wunderhorn und
Gyldendal Norsk Forlag. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2019. 140 Seiten, 22
Euro