Norbert Lange: Lieber Norbert
Montags=Text
Norbert Lange
Lieber Norbert,
als ich letztens diesen
einen Brief an Dich zu schreiben begann, hatte ich dafür keine große
dramatische Pause eingeplant. Aber die Mischung aus Hilflosigkeit und Zorn, mit
der ich über die Dichter schrieb, hat mich so angegriffen, dass ich keinen
Abschluss fand. Weißt Du, es ging mir wirklich nicht um den Effekt, ich halte
wenig von Suspense. Doch ich konnte eine Auszeit vertragen, ermüdet vom
wütenden Tiradenschwingen, und ich schlug vor, ins Kino zu gehen. Es hilft
manchmal, sich eine andere Beschäftigung zu suchen. Und da ich wusste, wo einer
meiner Lieblingsfilme gezeigt wurde, stand fest, was wir uns ansehen wollten.
Also gingen wir alle gemeinsam hin, froh, nach vielen Tagen eine Ablenkung zu
haben, die Gedichte, Hand in Hand, und ich mitten unter ihnen. Natürlich habe
ich aufgepasst, dass der Gruppe keines verlorenging.
Du weißt, welchen Cartoon
ich meine. Wir haben immerhin schon oft erlebt, dass wir uns wortlos verstehen.
Und wer hätte »One Froggy Evening« nicht gesehen? Ein Bauarbeiter entdeckt beim
Abriss eines Wolkenkratzers, versteckt in einem hohlen Stein, eine Blechkiste.
Als er sie öffnet, steckt ein Frosch den Kopf heraus. Zum ersten Mal seit
Jahrzehnten sieht er das Sonnenlicht wieder und grüßt die Welt mit einem
temperamentlosen Quaken. Ich liebe diese Stelle und freue mich jedes Mal über
den verdutzten Ausdruck des Bauarbeiters, der ins Publikum sieht, als wären wir
uns einig. Was für eine unerwartete Begegnung!
Sowie der Frosch den
Blick des Mannes bemerkt, greift er in die Kiste, wirft sich in Schale. Einen
Spazierstock unter den Arm geklemmt, auf dem Kopf einen Zylinder, macht er
tänzelnde Schritte, singt dem Mann ein Liebeslied. Dieser Frosch ist kein
gewöhnliches Talent aus irgendeinem Hinterwäldlerteich. Klang er gerade
monoton, singt er nun so herrlich wie ein Buddy Holly oder der unvergessliche
Nat King Cole. Der Bauarbeiter ist erstaunt, doch nicht für lange. In seinen
Ohren tönt der Gesang nach Dollarnoten. In einem Tagtraum sieht er sich vor
einer Music Hall in New York, und Leuchtbuchstaben verkünden seine Attraktion:
»Der Singende Frosch!« Ein glücklicher Impresario in bester Abendgarderobe,
steht der Bauarbeiter in Gedanken strahlend da. Und packt seinen Schatz zurück
in die Kiste. Unter seinem Mantel verborgen, trägt er sie von der Baustelle,
sorgsam bedacht, dass niemand ihn mit seinem Wunder sieht.
Er möchte sich den Frosch
vergolden lassen und zeigt ihn deshalb einem Agenten, der ihn unter Vertrag
nehmen soll. Vor einem dieser Schreibtische downtown, an denen man ihrer Wichtigkeit
wegen vereinsamen könnte, tätschelt er die Blechkiste und wirft sein
rhetorisches Geschick in die Waagschale. Mit Händen und Füßen spielt er den
Auftritt nach, den er gesehen hat, tanzt sogar den Cakewalk und winkt mit
seinem Schlapphut über dem Kopf. Er öffnet die Box und stellt den Sänger sachte
auf den Bühnen-Schreibtisch. Der Frosch bekommt seinen Zylinder auf, Achtung,
gleich geht es los. Bloß versteht der Star anscheinend nicht, was von ihm
erwartet wird. Ohne einen Ton von sich zu geben, hockt er einfach da. Der
Bauarbeiter, nervös, als er nichts hört, das sich in klingende Münze übersetzen
lässt, gerät ins Schwitzen. Sicher braucht sein Freund nur einen Schubs. Er
zieht dem Frosch ein Lächeln in die Mundwinkel, greift ihm mit zwei Fingern unter
die Arme. Der Entertainer wankt, wenig elegant über die Bühne getragen, über
den Schreibtisch und sieht etwas unglücklich aus, als ihm zum enttäuschenden
Finale die Ärmchen in die Höhe gereckt werden. Todernst blickt der grüne Buster
Keaton in die Kamera, um den wohl ernüchterndsten Laut, dessen Menschen je
Zeuge wurden, von sich zu geben: Quaaaaaaaak!
Vor die Tür gesetzt, auf
dem Flur eines tristen Gebäudes, fliegt dem Bauarbeiter die Blechkiste nach.
Als sie auf dem Boden gelandet aufspringt, kommt der Frosch plötzlich doch aus
seiner Lethargie und singt, als hätte er nie etwas anderes getan, aus voller
Kehle einen elektrisierenden Gesang. Mit dem Mut des Verzweifelten reißt der
Bauarbeiter die Tür zur Agentur wieder auf. Während er im Büro auf den Agenten
einredet, ihn am Kragen packt, um ihn auf den Flur zu zerren, stützt sich dort
der Sänger auf seinen Spazierstock und lässt die Hüfte kreisen. Er hebt
geradezu vom Boden ab, inszeniert die reinste Lebenslust, und breitet die Arme
aus, um unseren Applaus zu empfangen. Als die Tür aufgeht, hockt er da, um
distinguiert seine Catchphrase aufzusagen: Quaaaaaaaak!
Man könnte meinen, der
Frosch hätte Spaß daran, den Bauarbeiter zu enttäuschen, bloß um seiner
Hoffnung im nächsten Augenblick wieder Auftrieb zu geben. Standing Ovations und
die Aussicht, als musikalisches Wunder gefeiert zu werden, lassen ihn kalt.
Dieses unheimliche, in die Länge gezogene Quaken, was für ein Understatement!
Ganz Tin Pan Alley hätte sich daran die Zähne ausgebissen. Aber es ist gerade
keine tricksterhafte Laune oder die Allüre eines Künstlers, der vor keinem
Publikum auftreten will. Ich weiß nicht, was ich anstelle des Bauarbeiters wohl
machen würde. Denn so oft ich den Film gesehen habe, ich identifizierte mich
lieber mit dem Frosch. So endet vor einem Wolkenkratzer irgendwo downtown New
York der Traum von einem Weltstar. Nur, der Bauarbeiter gibt nicht auf. Er
kratzt sein Erspartes zusammen, setzt alles auf eine Karte und mietet ein
schäbiges Theater, auf dessen Bühne »Der Singende Frosch!« begeistern soll. Er
hat extra einen Frack gekauft, um als respektabler Impresario seine Gäste zu
empfangen. Etwas mottenzerfressener als in seiner Fantasie. Aber jeder Anfang
ist schwer!
Bei der Generalprobe ist
der Frosch in seinem Element. Einen Sonnenschirm in der Hand, balanciert er auf
einem Hochseil und singt voll Ausgelassenheit sein Repertoire. Es ist einsame
Spitze, wie er mühelos von einem Lied ins andere springt, durch nichts zu
halten. Aber noch ist keine Karte verkauft und der Bauarbeiter hat Sorgen. Um
Besucher in die Vorstellung zu locken, muss er den Eintrittspreis immer wieder
senken. Erst bei freiem Eintritt und dem Versprechen auf Freibier rennt man ihm
die Bude ein. Endlich sieht er volle Ränge, als er den Kopf durch den Bühnenvorhang
steckt. Hinter ihm schmachtet der Frosch auf dem Hochseil eine Liebesschnulze,
bei der Herzen erblühen sollten. Jetzt muss sich nur der Vorhang heben. Der
Impresario zieht am Seil. Aber weil es reißt, muss er fix zum Bühnentechniker
werden. Während er hektisch über eine wacklige Treppe in den Schnürboden
steigt, erklimmt der Sänger immer heiklere Höhen. Er hat zum Sprung angesetzt
und segelt mit seinem Schirm wie eine Heldensopran zur Bühne herunter. Dem Mann
bleibt kaum Zeit, um ein Desaster zu verhindern. Er macht einen Satz, ergreift
das gerissene Seil, um mit dem Gewicht seines Körpers den Vorhang aufzuziehen.
Der Frosch hockt schon auf den Bühnenbrettern, als der Vorhang aufgeht. Unsanft
in der gespannten Luft zerreißt das Publikum die Stille. Der Frosch reagiert
gelassen: Quaaaaaaaak!
Nun, da der Vorhang über
ihm fällt, regnet auf den Impresario Gemüse. Wir sehen ihn als Obdachlosen
nachts in einem Stadtpark wieder. Auf einer Bank hat er die Hände in die Ärmel
einer alten Jacke gesteckt, um Wärme zu suchen. Das ist das Ende vom feinen
lohnenden Leben, das er sich erträumt hat! Neben ihm liegt die Blechkiste, die
dem Frosch als Kulisse dient. Nicht, dass der Bauarbeiter seinen Auftritt noch
beachten würde. Er starrt ins Leere und zermartert sich das Hirn, wieso der
Frosch nicht sang, als es darauf ankam. Hätte er diese schreckliche Box doch
nie geöffnet, alle Mühen und Übel wären ihm erspart geblieben. Er kann nicht
begreifen, nur bedauern, dass es jedes Mal mit einem Quaken endete.
Erst hat er den
krächzenden Laut für schüchterne Bescheidenheit gehalten. Doch nach allem wird
Lampenfieber wohl kaum den amphibischen Caruso an einem Auftritt gehindert
haben. So wie er gerade Rossinis fröhlichen Barbier gibt, im Schein einer
Laterne und mit von Froschlippen fliegendem Gesang, sollte es ein Kinderspiel
sein, ein Publikum in Bann zu schlagen. Er ist das Faktotum der schönen Welt.
Figaro dort, Figaro da! Ha, bravo, Figaro, bravo bravissimo! Wieviel Erstaunen
man ernten könnte, wäre er zu überzeugen, und welches feine Leben entgeht den
beiden, weil der sture Frosch auf einen exklusiven Kreis besteht. Frag Dich
mal, was ein Sänger bezweckt, der nur für einen Menschen singt. Ist es ein
Zufall, wenn er den Bauarbeiter bei ihrer ersten Begegnung gleich mit einem
Liebeslied grüßt? Die Früchte weltbekannten Ruhmes kümmern den Frosch wenig. Er
sucht nach einer Aufmerksamkeit, die kein Geld aufwiegen kann. Und sein Quaken,
das den Bauarbeiter jedes Mal ins Unglück stürzt, ist seine Art, ihm
mitzuteilen, dass er von ihm, aber nur von ihm wahrgenommen werden möchte. Doch
der Mann hält das Heischen um den märchenhaften Kuss für das Gehabe einer Diva.
Hätte es da etwas geändert, den Sänger mit Engelszungen zu beschwören? Sie
beide wären doch bloß wieder auf der Parkbank gelandet, und es wäre paradox
gewesen, ihn zu bitten: Sei kein Frosch!
Der Film hat noch ein
paar Minuten, doch eigentlich ist die Geschichte schon zu Ende. Aus der
Froschkehle ertönt Figaros Lied und dringt an die Ohren eines Polizisten, der
draußen vor dem Park auf Streife geht. Als er den Obdachlosen wegen der
Ruhestörung zur Rede stellt, zeigt der verärgert auf den sprunghaften Sänger,
der unscheinbar neben ihm hockt. Er macht schon wieder den Fehler, zu denken,
seine Sicht der Dinge sollte auch für andere gelten. Als wären die Folgen nicht
festgeschrieben und es könnte eine Ausnahme geben. An einem vergitterten
Fenster, verbittert, sitzt der Mann in der Zelle einer Nervenheilanstalt, in
die der Frosch ihn selbstverständlich begleitet hat. Von allen Männern ist er
bei dem geblieben, der aus seinem Talent ein Geschäft machen wollte, weil es
sein größtes Glück bedeutet, für den Verrückten zu singen. All jene
ausverkauften Vorstellungen und imaginären Honorare, der Glanz des
Showbusiness, haben dem Bauarbeiter den Verstand geraubt. Sollte er sich nicht
glücklich schätzen, vom herrlichen Gesang umgeben zu sein? Der Frosch schmust
im Fenster mit einem der Eisenstäbe, die dem Mann die Flucht versperren. Nicht
mehr als eine krankhafte Erscheinung sieht er in seinem grünen Bewunderer, eine
Heimsuchung, die er nicht verscheuchen kann, und lebt in einer stumpfen Leere.
Dabei hätte er nichts weiter tun müssen, als auf die Stimme seines Freundes zu
hören, der mit seinen Liedern zu ihm spricht:
»Please don’t talk about me, when I’m gone, oh honeyThough our friendship ceases from now on …«
Natürlich weiß der
Frosch, wie es weitergehen wird, wenn der Bauarbeiter erst entlassen worden
ist. Es wäre wundervoll gewesen, hätte der Mann seine Wünsche über den Haufen
geworfen, um einfach zuzuhören oder sogar mitzusingen. Wie leicht könnte es
sein, als Duo zu den Sternen zu fliegen und unglaubliche Nummern auszuhecken.
Sie wären in Konzertsälen vor Wesen aufgetreten, die so grün sind wie der
Frosch, und hätten zu Außerirdischen gesprochen, die selbst ein Quaken zu
schätzen wissen. Eine Wonne wäre es gewesen, so viel Fantasie zu haben. Aber
jetzt wandert der Mann als staubiger Schatten durch die Straßen, bis er eine
neue Baustelle findet, um die Blechkiste loszuwerden. Nicht ahnend, was ihm
alles entgeht, verlässt er den Film, als er den Frosch begraben hat, dessen
Stimme in der Ferne hinter ihm erklingt:
»Oh, makes no difference how I carry onRemember, please don’t talk about me when I’m gone!«
Ich bin heilfroh, dass
die Filmemacher dem Frosch eine Zukunft gaben, so dass es mich nie bedrücken
muss, den Cartoon zu sehen: Es ist eine Epoche fliegender Autos, nuklearer
Toaster und Bücher schreibender Bücher, als ein neuer Bauarbeiter die alte
Kiste findet. Quicklebendig springt der Frosch heraus und alles geht von vorne
los, diesmal hoffentlich mit einem guten Schluss. Doch es ist nicht wichtig,
weil die Geschichte immer neu beginnt. Mein Lieber, wie Du Dein Leben Dir auch
vorstellst, ganz gleich, was Du planst, sei ein Frosch und nicht wie einer
dieser Bauarbeiter! Wer wüsste von uns schon, welche Rolle er am Ende spielt?
Wenn Dich ein Frosch mit Gesang auf den Lippen grüßt, sing lieber mit:
»Hello! ma baby,Hello! ma honey,Hello! ma ragtime pal,Send me a kiss by wire,Baby, my heart’s on fire! AndIf you refuse me,Honey, you’ll lose me,Then you’ll be left aloneOh baby, telephoneAnd tell me you’re my own.«
Alles
Liebe,
Jack