Norbert Lange: Jerome Rothenberg in Berlin
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Norbert Lange
Jerome Rothenberg in Berlin
Vortrag vom 29.05.19
In seinem Gedicht „A Letter to
Paul Celan in Memory“ (aus „Vienna Blood & Other Poems“) schreibt Jerome
Rothenberg über eine Begegnung mit Celan im Jahr 1967. Er hat ihn bereits in
den 50er Jahren übersetzt; seine erste eigenständige Publikation ist eine Anthologie
damals junger deutschsprachiger Dichter gewesen, „New Young German Poets“, das
bei City Lights in San Francisco erschien und Celan zusammen mit anderen wie
Enzensberger, Bachmann und Heißenbüttel einem amerikanischen Publikum
vorstellte.
Das Gedicht erzählt, wie Celan
und sein Übersetzer Rothenberg sich in einem Café in Paris unterhalten, „lost
between two languages“, so heißt es da. Zwischen Original und Übersetzung, auf
Englisch, Deutsch und Französisch sprechen sie über Poesie und Celans Gedichte.
Erst gegen Ende des Treffens, als beide sich verabschieden wollen, bemerken
sie, dass ihnen eine weitere Sprache zur Verfügung gestanden hätte, die Mameloschen, das Jiddisch. Für
Rothenberg ist es die Kindheitssprache, die seine aus Polen stammende Familie
gesprochen hat; Celan, der aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie kam,
in der es unschicklich war, die Sprache der osteuropäischen Juden zu sprechen,
lernte sie erst zu gebrauchen, als er ins Arbeitslager kam.
Zwei Jahrzehnte nach der Shoah
mochte einem die Möglichkeit eines Gespräches in Jiddisch unwahrscheinlich
(vielleicht auch gefährlich) vorkommen, oder man wollte nicht mehr erinnert
werden, wie alltäglich es einmal gewesen war. Die Erkenntnis, dass sie in der Mameloschen hätten sprechen können,
steht wie ein Schock am Schluss von Rothenbergs Gedicht. Und er beendet es wie
Celan sein Gedicht „Benedicta“, als dessen Übersetzung oder Variation man es
evtl. lesen darf, mit dem jiddischen Wort „gebentscht“. „Gebentscht“, d.h.
„gesegnet“ oder „gebenedeit“.
Beide verwenden das Wort, doch
zwischen ihnen kommt ein Bruch zur Sprache. Selbst das jiddische Wort, das ihre
Grundlage der Verständigung (ein Segen) hätte sein können, ist nun das Zeichen
einer Sprachlosigkeit und Ohnmacht geworden. In diesem Gefühl des
Ausgesetztseins vor dem Wort erkennen beide sich als Mitglieder einer
Gemeinschaft, die ausgegrenzt, verfolgt und beinah vernichtet worden ist.
„Exiled in the Word“ wie der Titel einer Anthologie jüdischer Dichtung von den
Anfängen in die Gegenwart lautet, die Rothenberg 1978 herausgab und deren erste
Auflage mit Celans „Zürich, zum Storchen“ schließt: „Wir wissen ja nicht, was
gilt.“
Der Schock, auch heute, besteht
in der Erkenntnis, dass, weil Vernichtungslager existiert haben, sie nun zu
unserer Vorstellungswelt gehören und ein Teil von uns geworden sind, wie Imre
Kertész sagte. In unserer Gegenwart sind sie so real wie Atombomben, Faschismus
und Flüchtlingslager. In seinem Nachwort zu „Khurbn & Other Poems“ (1989) kommentiert Rothenberg die Situation so: „Mitte des 20. Jahrhunderts hatte es
den Menschen wie Charles Olson sagt, reduziert
auf kaum mehr als soviel Fett für Seife, Superphosphat als Dünger, Füllungen
und Schuhe zum Verkauf, eine Abscheulichkeit, durch die Sprache ihrer Macht
beraubt worden war, Antwort zu stiften, was eine Krise des Wortes (nein, der
Realität) herbeiführte, für die wir eine Poetik erst finden müssen, wenn wir
hinausgehen wollen über einen Schrei oder eine Stille, noch schrecklicher als
jeder Schrei.“
Für Olson haben KZ und Atombombe
unsere Vorstellung von Geschichte grundlegend verändert. Sie könne nicht länger
als Abfolge vergangener Ereignisse verstanden werden, die auf einen
unbestimmten künftigen Punkt hinauslaufen. Man müsse die Zukunft als das
auffassen, was früher bereits geschehen ist und sich auf die eine oder andere
Weise wieder ereignen wird. Die Gegenwart als Schwelle, als Prolog eines neuen
Morgens, und der Dichter als dessen Archäologe, der in die Vergangenheit
blickt, um darin die Zukunft zu erkennen. Man kann sich das wie bei einem
Seemann vorstellen, der nach den Sternen navigiert, an ihnen seine Position
ermittelt, um den Kurs seines Schiffs zu korrigieren. An der Schwelle wird der
Dichter zum Erkunder des menschlichen Geistes, sucht in den Geschichten und
Mythen seiner und anderer Kulturen nach den Koordinaten, die zu einer besseren,
einer menschlicheren Welt führen.
Das beschreibt Rothenbergs
inzwischen über 60 Jahre währende Aktivität so gut wie irgend möglich. In Gedichtbänden
und Anthologien sowie als Übersetzer und Kommentator von Dichtungen quer durch
die Kulturen und Zeiten, hat er nie aufgehört, nach Visionen zu suchen, die
einen Gegenentwurf darstellen zu den menschengemachten Höllen, zu denen wir
fähig sind. „Unsere Suche … ist die nach den Ursprüngen von Poesie gewesen,
nicht als mutwilliger Wunsch reinen Tisch zu machen, sondern als Bestätigung
jener anderen Stimmen & der Reste von Gedichten, die sie im Schlamm
hinterließen“, schreibt Rothenberg in „Khurbn & Other Poems“¹.
Diese Suche führte ihn zu den Liedern, Geschichten und Ritualen indigener
Völker wie zu den Experimenten der klassischen Avantgarden; ließ ihn
schamanistische Gesänge ebenso wie Lautgedichte anstimmen und den Dialog mit
Medizinleuten, visionären Dichtern und Kabbalisten führen.
Den Anfang machen drei große
Anthologien (groß von Umfang und Inhalt), die in den 60er und 70er Jahren
herauskamen und seitdem mehrfach in erweiterten Auflagen erschienen sind:
„Technicians of the Sacred“ (erstmals 1968), in dem er magische sowie religiöse
Rituale von überall in der Welt sammelt und Ekstasetechniken mit Aktionen der
zeitgenössischen Performance zusammenbringt, etwa des Fluxus und dadaistischer
Happenings. „Shaking the Pumpkin“ (1972), das sich den Mythen, Liedern und
Geschichten der amerikanischen Ureinwohner widmet (aus diesem Band kommen die
meisten Texte, die ich für den Hochroth-Band „Rituale & Events“ übersetzt
habe) und schließlich „A Big Jewish Book“ (von 1978 und wiederaufgelegt 1989 als
„Exiled in the Word“), das ein Panorama jüdischer Dichtung von den Anfängen in
die Gegenwart präsentiert. Hier wird die Geisteswelt von Rothenbergs jüdischen
Vorfahren zum Leben erweckt, der „Jewish Mystics, Thieves & Madmen“, wie er
im Vorwort des Buches sagt. Von ihnen kann man in „Poland/1931“ lesen, das
kürzlich als Roughbook erschienen ist.
Diese Anthologien sind keine
bald verstaubten Museen aus Papier, sondern „Gatherings“ wie Rothenberg sagt, Sammlungen
also, oder besser Versammlungen, bei denen sich das tragische und komische
Element vermischen. Und so kann der Gesang eines amerikanischen Ureinwohners
neben einem Konkreten Gedicht stehen, ein Comic-Strip neben einer
Felszeichnung, neben einem Zauberspruch ein Graffiti, ein Mythos neben einem
Witz. Der Anthologist Rothenberg weiß sehr wohl um die autoritäre Geste des
Blütenlesens und dass solche Projekte mehr über die Herausgeber verraten als
über die Herausgegebenen. Man muss sich nur seine robuste Erwiderung auf den
Literaturkritiker Harold Bloom und dessen Buch „The Anxiety of Influence“
ansehen, wo er Blooms Einteilung von Autoren in „Starke Dichter“ und unbedeutende
Epheben vergleicht mit der Haltung eines Josef Mengele.²
„Eine andere Poesie wurde für
unsere Art zu Sprechen entscheidend: unsere menschlichste/menschenwürdigste
Handlung“, schreibt er über den Eindruck, den die Gedenkstätte Treblinka auf
ihn machte. Dass Gedichte Handlungen sein sollen, kann in manchen Kreisen
bereits als Tabubruch aufgefasst werden, etwa wenn man die Sache umdreht und
Rituale oder noch besser Slapsticknummern als Gedichte behandelt. Doch derartige
Ketzereien und Happenings sollen einen Raum verwirklichen, in dem das Echo von
einem Traum nachhallt, dass nämlich Katastrophen nicht mehr eintreten können,
es sei denn als Spiel oder anarchische Situation, an deren Ende eine
gemeinschaftsstiftende Erfahrung steht:
20th Century BluesAs the twentieth century fades outthe nineteenth beginsagainit is as if nothing happenedthough those who lived it thoughtthat everything was happeningenough to name a world for & a timeto hold it in your handunlimited.......the last delusionlike the perfect mask of death
„Wie das 20. Jahrhundert
ausklingt/fängt das 19. Jahrundert an/ (schon) wieder“.
In einer Gegenwart, in der es
zunehmend komplizierter wird, über gesellschaftliche und ideologische Lager
hinweg miteinander zu sprechen, hat die Notwendigkeit eines Raums für Träume
nichts von ihrer Dringlichkeit verloren, wie das ernüchternde (oder wenigstens
ambivalente) Fazit dieses kurzen Gedichts deutlich macht. Benjamins Engel der
Geschichte, könnte man sagen, bewegt sich nicht mehr in einer Linie in die
Zukunft und hält seine Augen auf die Vergangenheit gerichtet. Stattdessen ist
es als säßen wir auf seinen Schultern und er wäre die Figur in einem sich immer
schneller drehenden Karusell, das die Vergangenheit so rasant an einem
vorüberziehen lässt, bis nur noch eine menschenleere, trostlose Landschaft einem
vor Augen steht.
„I will change your mind“, heißt
es dementsprechend in einem kurzen Manifest aus dem Jahr 1964, „to oppose the
devourers = bureaucrats, system-makers, priests etc.“
Das Ziel ist eine Communitas,
mit einem Begriff des Anthropologen Victor Turner, in der alle Stimmen und
Visionen der menschlichen Vorstellungswelt in gleichberechtigten Dialog treten,
vielleicht auch tröten, und zu einer „Grand Collage“ werden, wie Rothenbergs
Freund, der Dichter Robert Duncan schrieb.
Rothenbergs Bücher können also
nicht anders als anarchisch zu sein. Was sich übrigens auch darauf auswirkt,
wie Quellen und Dokumente behandelt werden. Keine Textbücher, sondern
Passagenwerke entstehen. Und sie lesen sich wie epische Gedichte.
Er bearbeitet, kürzt,
kompiliert, dichtet nach, gebraucht jedes in der Literatur erprobte Mittel und
fügt neue Experimente hinzu. Auf diese Weise nimmt der Gesang eines Seneca
Indianers, um dessen performativen Aspekte visuell darzustellen, schließlich
die Form konkreter Poesie an oder wächst sich gar zu einem Lautgedicht aus, bei
dem wir Zeuge eines Stammesmythos werden. Er nennt das mit einem erweiterten
Begriff von Übersetzung „Total-Translation“.
All das lässt sich unter dem
Begriff der Ethnopoesie zusammenfassen, den Rothenberg zusammen mit anderen
Autoren (Dennis Tedlock, Clayton Eshleman) geprägt hat. Aber er bleibt nicht
dabei stehen. Er bezieht auch andere Lebewesen in seine Überlegungen ein. Ein
Beispiel dafür findet sich im fünften Band der Anthologie-Reihe „Poems for the
Millenium“, die er und der Dichter Pierre Joris zusammen mit wechselnden
Mitherausgebern seit 1998 betreuen. Dieser Band („Barbaric Vast & Wild“)
ist eine Anthologie mit Gedichten und Texten von Outsidern: Vergessene, Ausgestoßene
und Ignorierte tauchen hier aus der Versenkung auf. Und auch die Stimme eines
Delphins, dessen Gesang oder Gespräch mit Artgenossen auf dem Meer vor den
Azoren aufgenommen und von einem Meeresbiologen in eine Graphik übersetzt
worden ist. Rothenberg schlägt gewissermaßen den Bogen vom Anthropozän zu den
frühen Menschen und ihren Tierdarstellungen auf Felswänden. Man kann das als
Hinweis sehen, dass wir uns wieder an einer Schwelle befinden, auf der sich
entscheidet, wie spätere Generationen leben werden. Es ist zudem ein Beispiel
dessen, was Rothenberg in den letzten Jahren Omnipoetics nennt, eine Weltpoesie
im direkten Wortsinn.
Ich wünschte, wir könnten den
Delphin zum Gespräch einladen, um mit ihm gemeinsam vorzutragen. Aber wir könnten
stattdessen versuchen, die visuelle Umsetzung seiner Stimme in unsere Sprache,
unsere Sprachen, zu übersetzen. Welchen Sinn hätte es sonst, dass die Natur
Lebewesen schafft, deren Kommunikationsmöglichkeiten so weit entwickelt sind
wie unsere?
Jerry, would you start a
conversation with a dolphin? What would you ask or say to him? I know it would
be difficult to do this. But how great would it be to invite him to come and
talk with us? Why shouldn’t one think of an anthology that collects the poetry
of the world, that it not only of its human inhabitants. But world poetry by
all of its creatures. And perhaps not only of its creatures? Perhaps even of
its things and phenomena? Imagine the poems a mountain, a desert or clouds
could be speaking. Or why stay on earth? Imagine the talk of the stars …
¹ Der Titelzyklus dieses Bandes erschien in der Übersetzung von Barbara F. Tax und mir bei Wunderhorn.
² Dieser Essay heißt „Harold Bloom: The Critic as Exterminating Angel“.