Norbert Lange: 7 (Der Mann in der Wand)
Gedichte > Münchner Anthologie
						Norbert
						Lange
						
						7 (Der Mann in der Wand)
						
						Orpheus
						
						(Der Bus war
						mit 90
						
						Tage hat es
						gebraucht
						
						Sie in der
						Hölle aufzurufen)
						
						Heurtebise,
						ähem
						
						Der Bus mit
						der ganzen Crew ist von der Straße abge
						
						Ich glaube,
						seine Leier
						
						Vermasselte
						ihm die Tour
						
						Alle brannten
						im Feuer
						
						(Es brauchte
						90 Tage
						
						Bis der Bus
						abgekommen war von der Straße.)
						
						Aus Norbert Lange: Unter Orangen.
						Gedichte. 
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2021, hier S. 15.
								Michael
						Braun
						
						Totengespräch
						mit Dichterkönigen
						
						Der Ruf
						des unwiderstehlichen mythischen Sängers Orpheus hat schwer gelitten, seit ihn
						Klaus Theweleit in seinem „Buch der Könige“ (1988) als zwielichtige Gestalt
						porträtierte, die über Frauenleichen geht. Aus dem Rhodopengebirge im heutigen
						Bulgarien war der thrakische Magier einst in die Unterwelt hinabgestiegen, um
						mit seinem betörenden Gesang die Mächte des Hades zu sedieren und seine geliebte
						Eurydike ins Leben zurückzuführen. Aber er hat bekanntlich versagt. Es besteht
						also kein Grund für heutige Lyriker, ihm mit allzu großer Ehrfurcht
						entgegenzutreten. So hat denn auch der amerikanische Lyriker Jack Spicer
						(1925-1965) sehr viel zur Demontage des mythischen Dichterkönigs beigetragen,
						als er ihn um 1960 in einer Reihe von Orpheus-Gedichten zur sehr irdischen,
						fehleranfälligen und narzisstischen Gestalt profanierte. Jack Spicer, der in
						Deutschland kaum bekannt ist, hatte zusammen mit seinen schwulen
						Dichterkollegen Robin Blaser und Robert Duncan Mitte der 1950er Jahre an der
						Profilierung der San Francisco Renaissance gearbeitet. Dabei hatte er eine
						eigenwillige Poetik entwickelt, die eine aufschlussreiche Vertauschung der kreativen
						Rollen im Verhältnis des Dichters zu seinen Texten vornimmt. Nach Spicers
						Vorstellung ist es nicht der Dichter, der seine Texte komponiert, sondern es
						ist das Gedicht selbst, das den Dichter erfindet. In Anlehnung an Jean Cocteaus
						Film „Orphée“ (1949) glaubte Spicer, dass seine Gedichte die Ergebnisse von
						„Transmissions“ von außen seien. In „Orphée“ vernimmt nämlich ein vom Ennui
						geplagter Dichter chiffrierte Botschaften aus dem Autoradio, das ihm als
						„Radioorakel“ poetisch brauchbare Fügungen und Sätze einflüstert. Poesie
						erweist sich gewissermaßen als okkulte Botschaft aus dem Jenseits. Kurioserweise
						ist Jack Spicer, der im Alter von nur 40 Jahren an den Folgen seiner
						Alkoholsucht starb, auch als Statist kurz in Hitchcocks legendärem Film
						„Vertigo“ (1958) zu sehen, der ja mit der Frage beschäftigt ist, ob ein Toter
						in ein lebendiges Wesen eindringen und Besitz von ihm ergreifen kann. 
						
						All diese
						kreativen Verwandlungsprozesse hat sich nun der Jack Spicer-Übersetzer und
						Dichter Norbert Lange in seinem neuen Gedichtband „Unter Orangen“ angeeignet
						und daraus eine überaus anregende und vergnügliche Eigen-Komposition gezaubert.
						So dass man spekulieren darf, ob und inwiefern Jack Spicer gewissermaßen von
						Norbert Lange Besitz ergriffen hat. Denn hier startet Lange einen intensiven
						Dialog mit dem toten Dichter, indem er Spicer-Motive in drei verschiedenen Modi
						aufgreift und transformiert. Der erste Teil des Buches, aus dem das vorliegende
						Gedicht stammt, ist eine mehr oder weniger freie Übersetzung und Fortschreibung
						der Orpheus-Gedichte von Spicer. Das umfangreiche zweite Kapitel erweitert die
						Spicer-Bearbeitung zu einer Auseinandersetzung mit weiteren toten
						Dichterstimmen (z.B. Blaise Cendrars, Fernando Pessoa, Arthur Rimbaud, Max
						Jacob u.v.a.) und montiert daraus eine kleine Galerie moderner Lyrikerexistenzen,
						die hier als „Orangen“ firmieren. Zum symbolträchtigen Orangen-Motiv ist Lange vermutlich
						mit Hilfe einer kleinen Verschiebung gelangt. Hier stand weniger Gottfried Benn
						Pate, der einst in seiner Schrift „Doppelleben“ (1950) anmerkte, seine
						„absolute Prosa“ sei „orangenförmig“ gebaut, da sie wie die einzelnen
						Fruchtteile nicht in den Raum strebe, sondern „in die Mitte“. Nein, auch hier
						war wohl Spicer der Ideengeber – nur spielen bei ihm Zitronen eine zentrale
						Rolle. In den „Gesammelten Orangen“ spielt Norbert Lange virtuos mit den
						Formelementen epischer Gedichte – u.a. mit den Suren des Korans oder den
						Terzinen Dantes. Im dritten und abschließenden Teil dieser Orpheus-Variationen
						auf Orangen-Basis adaptiert Lange ein weiteres lyrisches Projekt Spicers.
						Dieser hatte 1957 seine Sammlung „After Lorca“ veröffentlicht, einer Reihe
						angeblicher Übersetzungen Federico Garcia Lorcas mit einem fingierten Vorwort
						Lorcas. Komplementär dazu hat sich Norbert Lange Briefe des toten Spicer an ihn
						als seinen Übersetzer ausgedacht. Diese Briefe sind höchst anregende
						Freibeuterschriften, da sie weder den Dichterberuf noch den Dichter selbst
						allzu ernst nehmen. Als geheimer Refrain dieser heiter-ironischen Exkurse wird
						die Begegnung von Friedrich Gottlieb Klopstock und Christian Morgenstern
						vorgeführt: „Schon gehört? Gestern sind sich Morgenstern und Klopstock in die
						Haare geraten und aufeinander geraten und aufeinander losgegangen. Später
						standen sie trotzdem gemeinsam vor der Wohnung von Stramm, um seine Unterhose
						stramm zu ziehen.“
						
						Das
						Gedicht „Der Mann in der Wand“ greift eine Szene aus Cocteaus „Orphée“-Film
						auf. Cocteaus Film versetzt das antike Paar Orpheus und Eurydike in ein
						merkwürdig zeitloses Nachkriegsfrankreich. Bei seiner Rettungsaktion Eurydikes
						schaut Orpheus unwillentlich in den Rückspiegel seines Autos – das bedeutet den
						endgültigen Verlust seiner geliebten Frau. Später wird Orpheus, der moderne
						Dichter, nicht von den Mänaden zerrissen, sondern von Dichterkollegen im
						Handgemenge erschossen. Eine berühmte Szene in „Orphée“ vergegen-wärtigt
						Orpheus´ Gang durch einen Spiegel, worauf wohl im Titel des Gedichts „Der Mann
						in der Wand“ angespielt wird. Die hier markierte Figur Heurtebise agiert im
						Film als Chauffeur einer dunklen, geheimnisvollen Frau, die „Prinzessin“
						genannt wird und sich bald als Todesbotin entpuppt. Heurtebise fährt Orpheus
						nach Hause, wo ihn seine Gefährtin Eurydike bereits erwartet. Die Liebe
						zwischen Orpheus und Eurydike beginnt da bereits zu bröckeln. In Norbert Langes
						Jack Spicer-Adaption wird Orpheus‘ Weg in die Unterwelt sehr lakonisch
						kommentiert. Als ein 90 Tage währender Trip in die Hölle.
								 
 
