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Norbert Hummelt: Fegefeuer

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Michael Braun


UNTERWEGS  ZUM  LÄUTERUNGSBERG


In weiter Ferne, so nah: Norbert Hummelts Gedichtband „Fegefeuer“



Der „stille Weg“, für den sich diese Gedichte entschieden haben, liegt in denkbar größter Entfernung zu den aktuellen Rummelplätzen und Erregungskurven des derzeitigen Lyrik-Betriebs. Auf die Insignien einer nervösen Zeitgenossenschaft, auf ein Register zeitgemäßen Vokabulars aus der digitalen Kultur, auf schnelle Schnitte und metaphorische Dissonanzen hat Norbert Hummelt in „Fegefeuer“ gänzlich verzichtet. Man darf es durchaus eine poetische Provokation nennen, wenn sich ein Dichter von der flackernden Kombinatorik des Disparaten abwendet und sich statt dessen auf das Glück  der nahen Dinge konzentriert: Brombeerhecken und Schlehenblüten, Kohlweißlinge und Schwalben sind diesem empfindsamen poetischen Bewusstsein näher als die neuesten Wucherungen einer durch das Internet deformierten Wissenskultur.


Bereits mit den ersten drei Versen dieses Gedichtbuchs wird deutlich, wohin die Reise geht: „mein leben war zur hälfte schon vorüber / da ging ich einmal durch den dunklen wald / u. fand den rechten weg so bald nicht wieder.“ Es geht also um das Territorium der Vergänglichkeit und um eine Lebensreise, die von Abschweifungen und Abirrungen bestimmt ist. Norbert Hummelts „Fegefeuer“ ist als eine poetische Jenseitswanderung angelegt, getragen von einem leichten, liedhaften Ton, mit dem ein lyrisches Ich die Räume der Erinnerung durchmisst und jene Orte topografiert, an denen die Vorfahren und die Stimmen aus der Vergangenheit noch einmal Kontur und Präsenz gewinnen. Nach einem „Triptychon“ zum Auftakt, in dem die Kindheitsmuster von drei Generationen aufgeblättert werden, taucht der Text ein in biografische Urszenen der Vaterwelt und entwirft in Rollengedichten Schlüsselerlebnisse aus dem Inferno des Weltkriegs und des Nachkriegs.

Das „Triptychon“ selbst beginnt mit den zitierten Zeilen, die sich als starke Übersetzung des Anfangs von Dantes „Commedia“ lesen lassen, in denen aber auch Hummelts Begeisterung für den romantischen Ton Joseph von Eichendorffs mitschwingt. Das dritte Gedicht des „Triptychons“ zitiert Dantes „Wächter“ am Eingang des „Läuterungsbergs“, der bei Hummelt die Wahrnehmungen des Protagonisten als illusionistische „Spiegelungen“ beschreibt: „die bilder dort sind spiegelungen von etwas das / in alten büchern steht.“ Just diese Verkündigung des „Wächters“ werden Skeptiker auch gegen Hummelts „Fegefeuer“ vorbringen. Denn Hummelt wendet sich demonstrativ ab von den gängigen poetischen Zersplitterungs-Strategien und entwirft stattdessen Szenen traumwacher Augenblicke, innigster Epiphanien und Selbstvergewisserungen in romantischer Manier. Kaum ein anderer Dichter der Gegenwart (mit Ausnahme von Christian Lehnert) wagt eine so emphatische Engführung von Gedicht und Gebet wie eben Norbert Hummelt, der in vielen Texten Zeilen aus Kirchenliedern und Gebeten in die poetische Textur einflicht: „der herr ist mein hirte, mir wird nichts mangeln. er weidet mich / auf einer grünen au. er führt mich hin zum frischen wasser ich / kenne die gegend von früher genau. Ich tauche meine blanken / füße in die eilenden wellen der ahr u. im fließen ihrer hellen / wasser werden die kiesel am grund offenbar.“ Die Momente heller Erkenntnis werden oft mit Elementen der katholischen Liturgie oder den Erfahrungen kirchlicher Feiertage gekoppelt. So auch im Gedicht „die nacht zu allerseelen“, in dem ein sehr einsames Ich sich selbst zu nächtlicher Stunde beobachtet. In subtil geflochtenen Terzinen, diskret gesetzten Binnenreimen und ruhig dahinfließenden Langzeilen durchquert dieser Dichter die Dämmerzonen zwischen Traum und Trance, Meditation und Vision, in denen die Stimmen der Toten hörbar werden. Norbert Hummelt verfügt über die seltene Fähigkeit, die Grenzen zwischen Diesseits- und Jenseitserfahrung in seiner Dichtung zu öffnen und die Orte einer versunkenen Kindheit aufzurufen, an denen die Welt noch offen und den Wünschen noch die Chance zur Erfüllung gegeben war.  
In seiner Standortbestimmung „Wie Gedichte entstehen“ (2009) hatte Hummelt den frühen Tod seines Vaters als Schlüsselerlebnis und Ausgangspunkt für sein Schreiben markiert. Denn dieser Tod formte sein Verständnis vom Gedicht: „Es soll das Abgesunkene und das Vergangene, das weit Entfernte und das Verlorene wieder heranholen und gegenwärtig machen, in den sinnlichen Formen von Bild und Klang.“
Auch sein Gedichtband „Fegefeuer“, der in fünf Zyklen und sechzig Gedichten die lange Reise zu den nahen Verstorbenen antritt, vergegenwärtigt auf berührende Weise die Begegnung der Gegenwartsempfindung mit einer existenziell prägenden Vergangenheit. „Ich trug einmal die züge meines vaters“: So beginnt das Kapitel „Jenseits des Tales“, in dem zum Beispiel der Schrecken des Kriegsalltags mit dem Erscheinen eines Schmetterlings („der kohlweißling“), der als Todesbote firmiert, überblendet wird. An anderer Stelle zitiert Hummelt ein Ritterlied („Jenseits des Tales“) des deutschnationalen Lieddichters Börries von Münchhausen, das in den Liederbüchern der Jugendbewegung Karriere machte und später bei den Nationalsozialisten in Ungnade fiel. In der poetischen Rekonstruktion der Vaterwelt sind eben auch die fehlgeleiteten Euphorien dieser Generation verzeichnet. Einer reinen Gegenwartsverfallenheit setzt Norbert Hummelts „Fegefeuer“ eine poetische Expedition zu den Quellen unserer Herkunft entgegen – zu den Stimmen der Vorfahren, die sich in unsere Lebensspur eingeschrieben haben und uns auf dem Weg zum „Läuterungsberg“ unseres Daseins begleiten.


Norbert Hummelt: Fegefeuer. Gedichte. München (Luchterhand Literaturverlag) 2016, 96 S. 18 Euro.

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