Nikolai Vogel: Vielzweckbuch (2)
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Andreas Hutt
Nikolai Vogel: Vielzweckbuch. Langgedicht. Herford (edition offenes feld) 2021. 200 Seiten. 20,00 Euro.
Sprache im Setzkasten – Nikolai Vogels „Vielzweckbuch“
Es ist selten, dass einem Gedichtband eine Gebrauchsanweisung vorangestellt wird, so dass Nikolai Vogels „Vielzweckbuch“ bereits auf der ersten Seite mit herkömmlichen Rezeptionserwartungen der Leserschaft bricht. Die Texte seien spaltenweise (Seite für Seite) oder/ zeilenweise (über die Doppelseite) zu lesen. Folgen die Rezipienten der Anweisung, ergeben sich z.B. zu Beginn des Bandes aus je sechs Satzfragmenten pro Seite folgende Wortgefüge:
Ein Anfang/ Ein Beginn/ Aus der Luft gegriffen/ Ein erstes Wort/ Eine Abtrennung/ Eine Syntax/ Aus der Welt in die Welt / Setzt sich so viel zusammen/ Anschauen angeschaut werden/ Dauert noch lange/ und leben doch/ Von Moment zu Moment (spaltenweise)Ein Anfang/ Aus der Welt in die Welt/ Ein Beginn/ Setzt sich so viel zusammen/ Aus der Luft gegriffen/ Anschauen angeschaut werden/ Ein erstes Wort/ Dauert noch lange/ Eine Abtrennung/ und leben doch/ Eine Syntax/ Von Moment zu Moment (zeilenweise)
Auf diese Weise präsentiert Vogel im
weiteren Verlauf des Bandes über neunzig fragmentarische Textpaare, die bei der
Rezeption über offensichtliche Leerstellen hinweg inhaltliche Zusammenhänge
entstehen lassen, wobei die spaltenweise Lesart häufig weniger bruchstückhaft
erscheint als die zeilenweise. Ein vorangehender Text verweist inhaltlich
zumeist auf den folgenden, so dass sich der Eindruck eines Gangs durch ein Arrangement
ergibt, das durch den Autor sorgfältig angelegt wurde. Die von Vogel angerissenen
Themen reichen von den autopoetischen beiden oben zitierten Texten über das
Leben an sich, politischen Protest, die Zeit, das Universum, Geburt, Erziehung
von Kindern, Tod bis zu banalen Alltagssituationen wie die Reinigung des
Hauses. Dabei tritt das lyrische Ich mit Aussagen über das jeweilige Thema auf,
die Setzungen gleichkommen (Vor den Sternen/ Nur Dunkelheit). Vogels
Schreibintention scheint also darin begründet zu sein, einen inhaltlichen
Rundumschlag all dessen vorzunehmen, was seinen Alltag prägt und ihn
beschäftigt, also eine Art Ontologie abzufassen. Dass er mit einem solch
schwierigen, kaum möglichen Unterfangen nicht scheitert, hat er der Form seines
Bandes zu verdanken, der Arbeit mit dem Fragment. Wie sollte der Versuch, die
uns umgebende Wirklichkeit zu fassen, nicht anders möglich sein, als indem man inhaltlich
Schlaglichter setzt, die einen bruchstückhaften Fokus von einer und
beispielhaft von einer zweiten Seite auf das Thema lenken?
Zugegebenermaßen sind die über neunzig
Textpaare nicht alle in Bezug auf den Gehalt gleich gelungen, zugegebenermaßen
greift der Autor manchmal zu banalen Aussagen (Anderswo Reichtum/ Haben
nicht alle/ Wer hat ihn verteilt/ Längst nicht gerecht) oder Sprachklischees
(Glauben an Wunder/ Schlafschwere Glieder/ Lächelt die Muse), aber diese
fallen im Hinblick auf die inhaltlichen und formalen Wagnisse, die Vogel
eingeht, nicht zu stark ins Gewicht.
Nikolai Vogels „Vielzweckbuch“ ist
keine Lektüre, der man sich nach einem nerven-aufreibenden Arbeitstag widmen
sollte. Ihre Qualität liegt darin, dass sie dem Lesenden in einem permanenten aktiven
Leseprozess abverlangt, Leerstellen zu füllen, und noch mehr, dass sie Fragen
aufwirft: Sind unsere Wahrnehmung, Gedanken, Gefühle, Erkenntnisse nicht
grundsätzlich fragmentarisch? Nimmt ein Mensch einen Reiz von außen nicht so
wahr, ein zweiter auf andere Weise? Wird ein Text vorwiegend durch den Autor
geformt oder entsteht er in erster Linie durch die Rezeption der Lesenden oder
beides?
Aufgrund der Qualität des Bandes,
Zusammenhänge zwischen Sprache, Beschreibung, Denken und Erkenntnis mittels
einer innovativen Herangehensweise erfassbar zu machen, wünscht man dem
„Vielzweckbuch“, dass es weitreichend wahrgenommen wird, denn Wagnisse sollten
belohnt werden.