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Niklas Bardeli: Illustrationen

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Martina Hefter

Zu Niklas Bardelis “Illustrationen”



Wann ist eigentlich ein Buch mit Texten darin (oder eine Broschüre, ein Heft usw.) ein Werk, das der Gattung Literatur zuzurechnen ist - also abgesehen von Katalogen, Telefonbüchern usw.? Ich habe inzwischen mehrere solche Bücher zu Hause, bei denen ich nicht sicher weiß, welcher Kunstrichtung ich sie zuordnen könnte.
Die Arbeit von Niklas Bardeli trägt den Titel “Illustrationen” und hat keine Gattungsbezeichnung. Auf den ersten Blick versammelt sie Kurzprosa und Gedichte, und ich behalte der Einfachheit halber diese Bezeichnungen im Folgenden bei, obwohl sie vielleicht gar nicht so vollends zutreffen.
Ich kenne eine frühere Fassung des Buches - also der äußeren Gestalt, nicht des Inhalts. Diese Gestalt kam daher in Form einer weißen, außen unbedruckten Broschüre, der Titel stand innen, ohne Angabe des Verfassers. Es gab keine Seitenzahlen. Damals dachte ich, die Texte seien die Illustrationen der kompletten Blankheit des Buchs. Diese äußere Form der Arbeit hat sich aber dahingehend verändert, dass es nun einen Autorennamen gibt und Seitenzahlen, und die gesamte äußere Erscheinung ist eingebunden in das schöne gestalterische Konzept der Hochroth-Verlage. Das Wesen von Bardelis Arbeit hat sich damit aber nicht geändert. Also stimmt das mit den Illustrationen vielleicht nicht?


Im letzten Kapitel des Buches, “Die Kümmerei” steht als erster Text nur die Zeile: “geblähte Birnbäume”. Auf der nächsten Seite folgt dann eine Zeichnung, die einzige des Bandes: Zwei angedeutete Zweige, oder Äste, der eine gerade, der andere gebogen - weder komplett gegenständlich noch komplett abstrakt. Sind das geblähte Birnbäume? Ist es was anderes?
Vielleicht ist die Zeichnung ein Herantasten an den Gedanken, eben doch, gemäß des Buchtitels, zu illustrieren, also in dem Fall die Texte mit Zeichnungen zu verdeutlichen – und sich aber davon gleich wieder zu verabschieden? Weil solche Illustrationen den Titel der Arbeit, und eigentlich die ganze Arbeit selbst vollkommen unterlaufen hätten. Illustrationen schaffen eine Hierarchie, indem sie dem dienen, was illustriert werden soll. Bei Bardelis Arbeit soll aber nichts illustriert werden. Und das wird durch das gesamte Buch an sich – illustriert. Also befindet man sich während des Lesens in einem ewigen Paradox, einer Endlosschleife an Schlussfolgerungen?


Vielleicht fange ich damit an, dass ich sage, wie das Buch eingeteilt ist. Es gibt so etwas wie Kapitel, acht an der Zahl, wobei das Kapitel “Es dämmerte schon” aus nur einem Text besteht. Außerdem gibt es ein dem Band beigelegtes, gefaltetes Blatt, auf dem drei weitere, wieder in etwas wie Kapitel eingeteilte Texte stehen. In der ersten Erscheinungsform des Buches waren sie dessen Bestandteil und folgten den ersten drei Kapiteln.

Ich habe mir lange überlegt, ob ich verrate, was es mit den Texten auf diesem Blatt auf sich hat. Ich werde es nicht tun, denn ich denke, dass dieses Blatt mit zu dem gehört, das quasi das Buch IST, oder ausmacht. Es gehört zum Wesen von Bardelis Arbeit, dass beim Lesen ein Gefühl der Aktivität entsteht, die jene des, na ja, herkömmlichen Lesens, übersteigt, oder sogar gleich was ganz anderes ist. Etwas ungenau ausgedrückt könnte man unter anderem von einem Rätsellösen sprechen, aber ich meine damit nicht das Suchen nach literatur- und sonstwie kulturgeschichtlichen Verweisen, oder das Herleiten von Bedeutungen bestimmter Wörter - obwohl ich beim Lesen damit öfter konfrontiert war. Eigentlich geht es um eine simple Frage: Wie lese ich überhaupt literarische Texte? Und kann es sein, dass durch die Art, wie ich sie lese, die Kunstgattung überhaupt erst entsteht? Erst nach und nach merkte ich, dass dieser Prozess des Lesens ein integraler Bestandteil des Buches ist, gleich wichtig wie der Inhalt, also das, was und wie es auf den Seiten steht. Es hört sich ein wenig irr an, aber tatsächlich ist das Buch wie ein Berg, den man hinaufsteigt, und man kann keine Etappe auslassen, um ganz oben zu verstehen, was eigentlich das Lesen ist.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich im Folgenden einige meiner Leseaktivitäten wiedergeben. Dazu sei noch gesagt, dass ich am Anfang die Texte überhaupt nicht beurteilen konnte. Damit meine ich nicht, dass sie unverständlich wären. Oft arbeiten sie erzählend, ihre Sprache ist einfach, die Situationen sind zwar leicht rätselhaft, aber sofort zu erfassen:

“ich war aufgestanden, und das Erste, was ich tat, war mich zu waschen. ich wusch mir (mit lauwarmem Wasser aus einer kleinen weißen Keramikschüssel) den Kopf und die Brust (ich trug weder Hut noch Stiefel). hinter dem Milchschleier ein Kerl, er hockte in seiner eigenen Grütze.”


Das erste Kapitel heißt: “Was bisher geschah”. Das kann man auch bei älteren Fernsehserien lesen, und dann kommt eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse, paradoxerweise nur kurze Ausschnitte aus einer behaupteten vollständigen Chronologie. Ich werde in eine Chronologie von Ereignissen gezogen und bekomme nur Splitter, bei Bardeli sind es Splitter etwas rätselhafter Erzählungen: Ein/e Ich-Erzähler/in erzählt, wie er/sie unter “Stellmeister, die etwas von ihrer Arbeit verstanden” geriet, und die sich ihrer/seiner “schonungslos erbarmten”. Ich habe den Eindruck leichter Unheimlichkeit, auch Bedrohlichkeit. Vielleicht etwas wie eine Gefangennahme? Später “legten sie Spieße auf den Rost”, und “ein anderer” hielt Wache über den/die Erzähler/in. Die Szenerie wirkt archaisch und apokalyptisch zugleich. Es könnte auch die Schilderung eines Traums sein. Was sind “Stellmeister”? Ich schlage nach und finde unterschiedliche Bedeutungen, im “Rheinischen Wörterbuch” ist es “der, der Hochöfen baut”, auch kann es eine mittelalterliche Bezeichnung für “Bürgermeister” sein. Im heutigen Sprachgebrauch finde ich es nur im Internet, in Artikeln über Gleisbau, ein Stellmeister ist jemand, der die Weichen stellt. Also haben wir es mit Mechanik zu tun, mit Eisen, Metall, darüber assoziiere ich vielleicht die Bedrohlichkeit: Glühende Spieße, Roste, usw. - obwohl es auch nur eine Grillparty sein könnte.

Einige Details wirken sehr greifbar und plastisch: Es gibt einen Hund, so sehr mit gegensätzlichen Adjektiven behängt, dass er merkwürdigerweise genau dadurch erfahrbar wird als bemitleidenswerte, aber auch liebenswürdige Kreatur. Die Sätze arbeiten mit Wiederholungen, Redundanzen, eine Handlung kommt nicht wirklich vom Fleck, soll es natürlich auch nicht.

Nur zwei Mal sind Sätze konkret und aussagekräftig: Einmal wird gesagt, was die Ich-Person gern zu Essen hat, bzw. hätte - es kann als generelle Aussage genauso gelesen werden wie als Aussage der Ich-Person in der nämlichen Situation: Es wird (mit/bei den Stellmeistern?) gegrillt, das Ich sagt den Satz quasi als wörtliche Rede. Der letzte Text des Kapitels besteht nur aus dem Satz: “Ich durchquerte den Park”, und schließt das Geschehen mit einer Szene ab, der so einiges vorausgegangen sein könnte. Früher hätte ich gesagt, die Texte könnte man entweder handlungsbezogen / bildhaft / mit emotionaler Beteiligung lesen oder als Formspiel, Schema, als konzeptionellen Text. Oder als Scharnier zwischen beiden, man könnte beliebig oft zwischen beiden Funktionen hin und her springen. Ich weiß nicht, ob das so für mich noch gilt, denn eigentlich ginge es dann wieder nur um Inhalte, Wörter auf Papier, Formalien, denen man sich in jeweils unterschiedlichen literarischen Herangehensweisen nähert. Was aber, wenn es um keinerlei Inhalt geht, auch nicht um formale Inhalte?

In “Ried” wird eine Beziehung angedeutet, auch die Geschichte zunehmenden Fremdwerdens mit sich selbst (“na, nu, ich steh morgen um zehn auf und dann erledige ich Anrufe, ich bin auf einem guten Weg, es geht: bergauf”). “Zwischen Tälern und Bergen” nimmt Motive aus dem ersten Kapitel wieder auf (Küche, kochen, der Park), es gibt sehr viele Tiere, Natur, Jagdmotive. Vor allem auch Märchenmotive: Wolf, Wein, Ziegen, Tisch decken, Tauben, Haselnüsse. Besondere Bedeutung hat für mich der erste Text dieses Kapitels, der so beginnt: “aha, das geht mich an” und im Anschluss eine alchemistische Szenerie heraufbeschwört, die mit Nennung von Wolf und Wein zuletzt auch an das Märchen vom Rotkäppchen denken lässt. In den Texten, so kann ich es lesen, wird also mit Alchemie gespielt, dergestalt, dass zwar aberwitzige Zutaten zusammengeworfen werden, aber es ist nicht beabsichtigt, dass am Ende Gold, sprich, ein Ergebnis dabei herauskommt.
Das wäre nichts ganz Neues, und normalerweise mag ich Beliebigkeit nicht, die mit einem solchen Verfahren erzeugt werden kann oder sogar dessen Grundlage ist. Beliebigkeit ist hier am Ende aber nicht das richtige Wort. Am Ende - und zwar wirklich am Ende des Buches, man muss es bis ganz zum Schluss lesen wie einen Krimi - sieht man, wozu die vermeintliche Beliebigkeit eigentlich da sein könnte.
Siehe weiter unten.

Die Kapitel “Die Katze die Ziege” und “Die Kümmerei” versammeln kurze Gedichte, die auf den ersten Blick einen anderen Charakter aufweisen als die Prosatexte. In ersterem sind die Verszeilen zum Teil grafisch angeordnet, es gibt Einrückungen und Lücken. Wenn ich nach “Kohärenz” frage, muss ich zuerst fragen: was für eine Art von Kohärenz? Manchmal führt sie mich über eine lautliche Ebene (“schürzte den schacht über / den fürfleck / eine fremde schürze”), nur um dieses Prinzip in den nächsten Verszeilen auflaufen zu lassen (“immer / an der wand / lang”). Es werden mir ein Haufen Begriffe hingeworfen, an denen ich mich sowohl in lautlicher, visueller und semantischer Hinsicht abarbeite.

Zum Beispiel: “lateral / schläfenwärts // pritsche     punch / kuckuck”  (“kuckuck” steht eine Zeile tiefer zwischen “pritsche” und “punch”). Hier folgen zunächst zwei Richtungsangaben aufeinander, lateral und schläfenwärts. Ich lese: Es wird jemandem seitlich an den Kopf gehauen. Es folgen pritsche und punch: Ich höre klatschende Geräusche, des Schlags, oder auch mehrerer Schläge. Auch sehe ich, dass jemand auf eine Pritsche fällt, nachdem er einen besonders harten Schlag abbekommen hat. Oder aber: Jemand bekommt einen zunächst sachten Schlag mit der Pritsche, dem Züchtigungsinstrument des Kaspers, dann folgt der Punch. Wenn ich “Kasper” google, finde ich heraus, dass “Mr. Punch” der Name der Kasperfigur im Englischen ist. So oder so, der jemand hört am Ende einen Kuckuck rufen, im Sinne von: Er sieht Sternchen.

Ist das meine Lese-Willkür, die sich den Text so erklärbar macht, oder steht das wirklich da, ist es so “gemeint”? Was mir gefällt an diesen Texten ist, dass ich diese Fragen komplett für mich allein beantworten muss, und das Ergebnis stimmt auf jeden Fall immer. Das hat nichts mit der Beliebigkeit zu tun, von der ich weiter oben schon schrieb, und die ich nicht gern mag - nämlich diese Beliebigkeit, die entsteht, wenn man sich zu schnell von lyrischem Klang, oder literarischem Geraune leiten lässt und zu schnell etwas hinschreibt, das möglichst lyrisch, oder literarisch klingt. Was ich auch nicht mag, ist, wenn einem ein originell wirken wollender Satz/Vers nach dem anderen serviert wird, es also bei Gedichten nur noch darum geht, dass “die Verse voll knallen”. Das ist hier alles gar nicht der Fall, bei Bardeli will nichts knallen, und absonderlich sein zum reinen Selbstzweck will es auch nicht.


Am Ende des Buches kann ich sagen, dass ich eigentlich auf das Buch geschaut und es so erfasst habe, wie ich sonst ein Werk der Bildenden Kunst angeschaut und erfasst habe - also fürs erste mit nur einem einzigen, mehr oder weniger langen Blick. Das ist eine andere Form des Lesens.

Ich kann es vielleicht so sagen: “Text” erfüllt in Bardelis Arbeit die Aufgabe, die Lesenden das Wesen ihres Lesens untersuchen zu lassen. Ich merke beim Lesen, wie mein Lesen vonstattengeht, ich erfahre, wie ich lese - ein Prozess, der sonst verdeckt wird von der Beschäftigung mit einem wie auch immer gearteten Inhalt (auch die Form zähle ich dazu, und Klang, Ton, Rhythmus usw.). Das ist ein interessanter Vorgang, wegen dem ich das Buch wirklich gern, ja eben, gelesen habe.


Niklas Bardeli: Illustrationen. Wiesenburg (hochroth Wiesenburg) 2016, 34 Seiten. 8,00 Euro.

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