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Nicolas Chamfort: Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen

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Bernd Lüttgerding

Nicolas Chamfort, Ulrich Kunzmann (Hg.): Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen. 480 Seiten, in flexiblem Leinenband. Übersetzt von Ulrich Kunzmann und Fritz Schalk. Mit einem Vorwort von Albert Camus. Berlin (Französische Bibliothek, Bd. 014. Matthes & Seitz). ISBN: 978-3-88221-888-6. 38,00 Euro.

Weder hier, noch dort


Nietzsche nannte ihn den witzigsten aller Moralisten (KSA 3, 450), der Einen Augenblick lachen, und viele Augenblicke nachdenken macht (KSA 9, 597).
      Das Je est un autre könnte eventuell zu Rimbaud geweht sein über Herman Melville (to myself, I seem not myself. [...] For aught I know, I may be somebody else [Mardi, and a voyage thither. Vol. II, chap. XXXIX]), doch es hatte seinen Keim im Moi, c'est un autre; un autre, c'est moi: volilà la democratie Nicolas Chamforts.
       Chamfort kennt schon die heute oft Man- bzw. Womansplaining genannte Machtausübung im Gespräch: Wer in der Welt gefallen will, muss sich dazu entschließen, sich vieles, was er weiß, von Leuten beibringen zu lassen, die davon nichts verstehen (261).
       Chamfort, geboren Sébastien-Roch Nicolas als uneheliches Kind einer Adeligen mit einem Pfarrer in Clermont-Ferrand, aufgewachsen bei einem Gemüsehändler in kleinbürgerlichen Verhältnissen, ausgebildet aber in Paris mit dem Geld seiner leiblichen Mutter, reüssiert als Bühnenschriftsteller unter dem Ancien Régime, engagiert sich in der Revolution, wird erst Girondist, dann verhaftet und kommt neuerlicher Verhaftung durch seinen berühmt-bemühten Suizidversuch – er schießt sich mit einer Pistole ins Gesicht, wobei er die Nase und einen Teil seines Kiefers, nicht aber sein Leben einbüßt, dann versucht er sich mit einem Papiermesser die Kehle durchzuschneiden, findet jedoch trotz mehrerer Anläufe die Arterie nicht, also bohrt er sich mit dem Messer in der Brust herum und schneidet sich endlich die Kniekehlen auf – zuvor, dessen Folgen er fünf Monate später erliegt; Chamfort ist ein Hiob jener französischen, in bürgerliche Revolution mündenden Aufklärung genannt worden. Wer die weitgehend heitere Skepsis Rivarols will, bekommt einen Royalisten; wer aber einen Demokraten wünscht, bekommt Chamfort mit seinem genauen und aggressiven Blick, mit seiner Bitterkeit.

In dieser Ausgabe ist nun also ALLES enthalten (außer den Lust- und Trauerspielen), sie ist mit Namensregister erschlossen und durch Anmerkungen erhellt, angenehm in Textil gebunden (das hat man inzwischen ja leider selten) und mit einem Lesebändchen versehen: Eine Einladung, sich nun wirklich nochmal eingehender mit dem Mann auseinanderzusetzen, dessen Ruf so zweischneidig ist wie seine Aphorismen.

Die Übersetzung ist die bewährte von Fritz Schalk, ergänzt durch die, im Anhang der Chamfort-Biographie von Claude Arnaud, Chamfort, Die Frauen, der Adel und die Revolution 2007 erstmals abgedruckten unveröffentlichten oder nie nachgedruckten Maximen in der Übersetzung von Ulrich Kunzmann, hier ergänzt noch durch Dialoge, eine Rede über die Frage, wie sehr das Genie der großen Schriftsteller den Geist ihres Jahrhunderts beeinflusst und dem Essay Was ist Philosophie?.
    Der Hauptteil, Maximen und Gedanken, gefolgt von Charaktäre und Anekdoten steht unter dem Titel FRÜCHTE DER VOLLENDETEN ZIVILISATION, als Produits de la civilisation perfectionnée Chamforts eigener Wunschtitel. Und Früchte vollendeter Zivilisation sind natürlich nicht selten bitter, sarkastisch, und wo nicht paradox, doch zumindest angespannt ambig.

Das Einzige, was dieser vervollständigten Neuausgabe fehlen könnte, wäre ein Wort von heute, denn Camus' Vorwort von 1944 ist, wenn auch erhellend und keinesfalls schlecht, schon großelternhafte 78 Jahre alt. Da war noch Krieg. Da waren zwar heutige Schwierigkeiten und Bedrängnisse schon vorgezeichnet, angedeutet, gesät und gekeimt, aber inzwischen sind sie zu dicken Bäumen aufgewachsen, die längst andere Saaten in den Schatten stellen.
     Ein neues Nachwort hätte den historischen Rahmen auffrischen und biographische Einzel-heiten erneut zur Debatte stellen können. Was wird da etwa über Chamforts Syphilis gemunkelt? – Und was halten wir von dem Denkansatz, der einen schöpferischen Menschen immer so gern an seiner Krankheit relativiert sehen möchte? – Aber vor allem: Wieso überhaupt sollen wir heute noch Chamfort lesen?  
        Es gab ja in den letzten Jahren ein paar satirische Filme, Get out von Jordan Peele, The Hunt von Craig Zobel, und neuerdings den leider zu flüchtig ausgedachten und deshalb hinkenden Don't look up. – Dass noch in diesen sarkastischen Satiren Chamfort steckt, könnte man mir z.B. erklären.
   Es kostet ein bisschen Einfühlungsaufwand, den Roman seiner Gedanken, Maximen, Charaktere und Anekdoten – das Buch einer menschlichen Erfahrung nennt es Camus – zu lesen, denn es ist ein Roman aus Fragmenten, zumal Fragmenten von Theaterstücken. Gewissermaßen sind das also alles nur Rosinen, ohne Kuchen. Er schildert einen unsichtbaren Beobachter inmitten der ihn umgebenden wirklichkeitsfremden, wahnsinnigen Gesellschaft (Camus im Vorwort). Scharf und nüchtern beschreibt dieser Beobachter Dummheit und Anmaßung, das Sich-eingerichtet-haben in einer Position, über deren Tellerrand der einzelne Akteur nicht mehr gucken kann (oder will), den Drang, sich Parteien anzuschließen und dann zu meinen, man stehe auf der richtigen Seite und könne nun alle anderen mit einem vollmundigen "Falsch!" verurteilen.
       Und was ist mit der Misanthropie, die ihm oft vorgeworfen wird? Camus schreibt, Chamfort verachte die Menschen nicht aus Selbstzufriedenheit, sondern ausgehend von seiner Selbst-verachtung (Der Mensch«, sagte M…, »ist ein dummes Tier, wenn ich nach mir urteilen soll. (1087)). – Doch verachtet Chamfort wirklich Menschen, nicht eher Menschenverhalten und Denkschablonen in einer perversen Gesellschaft und unter dem Einfluss von zu viel Wohlstand, einem halsstarrigen Klassenbewusstsein, einer Verranntheit in Schein und Fassade? Jedenfalls verachtet er sehr raffiniert: Charakterschwäche oder Ideenmangel, mit einem Wort alles, was uns hindert, mit uns selbst allein zu sein, bewahrt viele Menschen vor dem Menschenhass. (270) Und so verachtet er vielleicht auch nicht Frauen, sondern die Rollen, die sie einnehmen, oder die ihnen zugeschoben werden.
      Seine Anekdoten, Konzentrate von der Bühne seiner Welt, setzen die Gesellschaft in Szene, damit sie uns vor Augen steht und sich entlarvt. Wir sehen da also eine Gesellschaft, die sich verhält, maskiert in Rollen, die sie demaskieren. Diese Chamfort'sche Technik ist zeitlos und auf jede Gesellschaft anwendbar. Sie kann helfen, eine Gesellschaft sich selbst bewusst zu machen, und das kann man, glaube ich, jeder Gesellschaft nur wünschen (zumal, solange sie sich noch darin gefällt, sich als demokratisch zu begreifen...).

Am Ende braucht es ein heutiges Wort vermutlich doch nicht. Chamfort erledigt das selbst. Denn auf den Buchdeckel hat Matthes & Seitz eine Maxime gedruckt, die sofort gefangen nimmt, weil sie heute noch genau so gilt, wie seinerzeit:

Das Elend des Menschen liegt darin, dass er in der Gesellschaft Trost suchen muss gegen die Übel, die die Natur ihm zufügt, und in der Natur Trost gegen die Übel der Gesellschaft. Wie viele haben weder hier noch dort eine Erleichterung ihrer Schmerzen gefunden! (98)


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