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Nico Bleutge: schlafbaum-variationen

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Barbara Zeizinger

Nico Bleutge: schlafbaum-variationen. Gedichte. München (Verlag C.H.Beck) 2023. 119 Seiten. 22,00 Euro.

Lichtpunkte überall


schlafbaum-variationen heißt der neue Gedichtband von Nico Bleutge, der dieses Jahr den Jean-Paul-Preis für sein bisheriges Gesamtwerk bekommen wird. Seine Sprache sei, so die Jury, fließend und voller Rhythmus, die Atmosphäre seiner Gedichte häufig schwebend, traumhaft und poetisch -fantastisch, sie zeigen eine Welt - und auch ihre aktuellen und wirtschaftlichen Phänomene – in ganz neuer Wahrnehmung.
        So begründet die Jury ihre Entscheidung, und alle diese Zuschreibungen treffen auf Nico Bleutges neuen Lyrikband zu, obwohl konkrete persönliche Erfahrungen, die Geburt einer Tochter, der Tod des Vaters und ein längerer Aufenthalt in Rom in der Villa Massimo, den Hintergrund der Gedichte bilden. Drei Ereignisse, drei Kapitel, die allerdings immer wieder ineinander übergehen, denn, wie Nico Bleutge vor ein paar Jahren in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung sagte, in einem gelungenen Gedicht spüre man beim Lesen: Da passiert etwas, zum Beispiel mit der Sprache oder mit der Art, wie Dinge miteinander verknüpft oder verschoben werden. Im besten Fall wird so eine neue Offenheit erzeugt, die es im Ganzen ermöglicht, dass man einen anderen Blick auf die Welt entwickeln kann.

Die ersten Gedichte (die zu meinen Lieblingsgedichten gehören) handeln davon, wie das neugeborene Töchterchen in die Welt der Sprache hineinwächst, wie vor den Silben alles zu Sprache wird.

in wiegender luft, was wiegt luft? wenn sie leer
ist vom singen (gesang), vom summen
loser folgen, bis der schlaf einfällt. keeeeeea
schreit der kea, hū hū hū der matuku (wie blüten
sind ja silberne wolken auch). und müd, von ihrem
hüpfen, die steine, rheinsteine, heller als gras

Zu den Lautmalereien gesellen sich riffe aus licht / wie silben, die man kauen kann, Die Familie ist unterwegs, am Meer und schiebst du den wagen über den sand. In dieser Landschaft wimmelt es, wie im gesamten Buch von Tieren. Von Tieren, die Märchenbüchern entsprungen sind, die keckern, gurren, bellen und in diesem Schweben / hockte das Kind, sammelte Wörter. Da-zwischen Überlegungen des lyrischen Ichs, das insgesamt zurückhaltend in Erscheinung tritt, über reisen als innere flut, oder das in einem anderen Gedicht sich beim Erwachen erinnert, daß man sehen, daß man sprechen / kann (hören kann man schon etwas früher), aber kaum hat der Leser, die Leserin, dies zur Kenntnis genommen, tauchen in den nächsten Zeilen schon wieder Fuchs, Wiesel, Erdmaus usw. auf. So entführt uns Nico Bleutge in fantastische, schwebende Traumlandschaften, in denen man sich in den Rhythmus der Wörter, in die Lautmalereien, die Alliterationen und Reime fallen lassen kann.
              Völlig anders beginnt das erste Gedicht im zweiten Kapitel besuche im klinikum, in dem sich der Autor mit dem Tod seines Vaters beschäftigt.

das ist der mann
der liegt in der klinik Regensburg.

das ist der raum
für den man, sechs tage lang
der liegt in der klinik Regensburgs

In mehreren Strophen beschreibt Nico Bleutge das Sterben des Vaters, und obwohl die Verse so nüchtern daherzukommen scheinen, sind sie gerade deshalb sehr berührend. Denn irgendwann ist von einem Projektor die Rede, der den film abspult. Es ist ein Film mit Erinnerungen an die Kindheit des lyrischen Ichs, wie es als Junge mit Cowboyhut in einer Dampflok sitzt. Bis der Film abreißt bzw. rückwärtsläuft. Nico Bleutges Vater hat sehr gerne gezeichnet, vor allem Tiere. Etwas, das sich in dem gesamten Band niederschlägt. Auch in diesem Kapitel spielen Tiere eine große Rolle, teilweise rätselhaft, nicht so leichthin, so spielerisch wie im ersten Teil.

Die trauertiere schnüffeln, schleichen um die betten
nehmen ihre fährten auf, sie steigen
in die welt der blätter und der monitore
hier ist kein schmerz in der stimme. hier ist nur erde
es gibt einen mann ohne farbe, der badet im meer

Im dritten titelgebenden Teil schlafbaum-variationen ist das erste Gedicht mit einem Zitat von Elisabeth Bishop überschrieben:

The great light cage has broken up in the air,
freeing, I think about a million birds

Es geht in diesen Gedichten vordergründig um Stare. Stare, die sich in Rom zeitweise zu Tausenden in Pinienbäumen niederlassen und mit Hilfe von Falken vertrieben werden sollen. Da sind schreie in der luft, flocken von schwarz und grün und die falkner am andern ende.
          Und wieder wird an den Vater erinnert, an seine Lust Tiere zu zeichnen, diesmal vielleicht Falken, und so wird die Angst der Vögel zusammengebracht mit dem, was der Vater früher gemacht hat.

auf der flucht. ein flattern von flügeln. von falknern
angefacht. schieben sie die reihen zusammen?
zu schwanken beginnt etwas?
                                  Angst hegen
zwischen den stäben, die linien sind zugegen
 
Mehrfach wird in diesem Teil die deutsche Variante von Elisabeth Bishops light cage angeführt. Überhaupt ist das Licht hier die tragende Metapher, denn neben dem lichtkäfig, gibt es u. a. das dämmerlicht, flocken von licht, parklicht, restlicht, rötliches licht, grünliches licht und die Vögel tragen lichtpunkte im schnabel (dies schon einmal auf Seite 11). So viel Licht für die Phantasiewelten, in die uns Nico Bleutge noch einmal entführt: Auf einer alm sehen wir bimmelndes gras, das die schafe durchqueren / als sei die schwerkraft aufgehoben und ein paar Zeilen weiter sind wir schon in der wilden, wilden see.
        Nico Bleutge liebt zusammengesetzte Worte. Lichtkäfig ist nur eines unter vielen Beispielen. Es sind Worte, die zwei Richtungen haben, die, wie er eingangs zitiert wird, Dinge miteinander verknüpfen und wir sie dadurch neu betrachten und enträtseln können. Wenn es auf eine sprachlich so verzaubernde Art wie im vorliegenden Gedichtband geschieht, lässt man sich gerne darauf ein.


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