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Nico Bleutge: Drei Fliegen

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Jan Kuhlbrodt

Nico Bleutge: Drei Fliegen. Über Gedichte. München (C.H. Beck Verlag) 2020. 327 S. 24,00 Euro.

Drei Fliegen
(Zu den Essays von Nico Bleutge)


„Wer sie unterscheiden will, muss auf den Rhythmus horchen. Die Arten von Wiederholung, den Klang der Schritte.“ So heißt es in einem Abschnitt von „Wiederholung, Variation“, der mit der immer gleichen Abfolge bei der Kaffeezubereitung einsetzt, dann aber auf ein Zitat stößt, in dem Elias Canetti den Gang der Tiere versucht zu charakterisieren, bevor der Essay durch verschiedenste Literatur- und Kunstschichten mäandert. Im Einzelnen findet sich in diesem Text der Variantenreichtum des ganzen Buches gespiegelt. Dennoch meine ich, darüber hinaus eine Struktur ausgemacht zu haben, die die Texte an die abendländische Tradition zurückbindet.

Es ist die Zahl Drei, die uns in unserem Kulturkreis gewissermaßen als magische eingeschrieben ist. Warum dem so ist, ist zumindest mir nicht ganz klar, und ich würde mich wohl, wenn ich dem nachginge, in der Geschichte heillos verirren, denn überall würde sich diese Zahl, wenn ich ihr folgte, als Wegweiser spiegeln, und jeder Weg wäre so gut wie ein anderer, ziellos. Nehmen wir die Drei also als gegeben hin, als ein Zentrum, in dem wir bereits angekommen sind. Und ja, wir fühlen uns im Dreischritt auch auf eine Art sofort vertraut. Mathematik und kirchliche Darstellung. Dreifaltigkeit.

Drei Fliegen, der titelgebende Text in Nico Bleutges Buch, ist eine Dankrede zum Erich Fried Preis, den der Autor 2014 erhalten hat, und er ist, neben dem Dank, auch der Versuch einer leisen Rehabilitierung des Dichters Erich Fried, der gerade in Kreisen sich avantgardistisch wähnender Akteure eher belächelt als geschätzt wird. Ein Umstand, der mich persönlich schon seit längerem ärgert, weil es letztlich auch Texte von Fried waren, die mich zum Lyrikleser machten, und natürlich habe ich als Jugendlicher auch versucht, diesen Stil zu imitieren.

Bleutge geht die Fried-Rehabilitierung allerdings wesentlich geschickter an, als ich es immer wieder versucht habe, indem ich auf diese meine ersten Erfahrungen verwies. Er setzt nämlich das in roten Leinen erschienene gewichtige Gesamtwerk gegen das Gewicht einer Fliege und entwickelt aus dieser Paradoxie einen Text, der sowohl Fliege als auch Werk zum Leben erweckt. Überhaupt ist es eines der Kennzeichen der Bleutge‘schen Reflexionen, dass sie dem vorliegenden Material Bewegung einhauchen, es als lebendiges zeigen.

Auf reichlich dreihundert Seiten versammelt der Band also Texte, die zu verschiedenen Anlässen entstanden sind, Feuilletontexte, Dankreden, Essays. Texte die bereits an anderen Stellen verstreut gedruckt vorliegen, aber auch eine ganze Reihe von Erstveröffentlichungen.

Bei letzteren handelt es sich zumeist um längere Essays, die bei einem Fremdtext oder einer Beobachtung einsetzen und dieses mit biografischen Daten engführen. In diesen Texten wird eine enge Verschränkung der Autorenwelt mit der Lebenswelt sichtbar und, dass sich beide Welten gegenseitig illuminieren und Erkenntnisse im- und ex-portieren.

Illumination wäre vielleicht das Wort, das diese Art Recherche mit den Vorbildern Walter Benjamin und Arthur Rimbaud zusammenbringt, auch wenn Rimbaud im Text nicht explizit auftaucht, und ich diesen Anklang vielleicht nur über Bande, also über Walter Benjamin konstruiere. Benjamins Anwesenheit allerdings ist unverkennbar, direkt und im Anklang.  Eine Reihe anderer Autorinnen wie Gahse, Erb oder Christensen bilden ein Spalier, in dem sich die Reflexionsbewegungen Bleutges immer wieder in Gang setzen.

Daneben probiert der Autor verschiedene essayistische Formen aus, die die Denkbewegungen rhythmisieren. Ausschweifende Passagen werden von punktualen Bemerkungen durchbrochen. Und immer wieder der Dreischritt aus Biografie, bildender Kunst und Literatur. Ausgehend oft von einer Beobachtung, z.B. der Gestalt der Figuren in den Skulpturen Giacomettis.
    Aus einer kleinen Verschiebung entsteht eine eingehende Betrachtung, der Haltung, des Bodens, des Lichts.
    Am Ende des ersten Drittels des Buches übrigens findet sich ein Essay, der „An der Decke schlafen“ heißt, darin Reflexionen auf eine Zeichnung des niederländischen Künstlers Jacques de Gheyn II. Auch hier: aus der anfänglichen Faszination des Betrachters für den Naturalismus der Darstellung erwächst zunächst eine Irritation, die dann die Reflexion in Gang setzt. Eine Reflexion über den Betrachter und über den Künstler de Gheyn. Und auf der Zeichnung finden sich Fliegen, und zwar genau drei.

Es ist darüber hinaus auch ein sehr schönes Buch, dem grauen Hardcover ist ein silberner Fliegenflügel eingeprägt.


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