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Natasha Stolyarova: Ein Beben

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island
Foto: Art Bicnick
Natasha Stolyarova

EIN BEBEN

(Aus der Lyrikanthologie Pólífónía af erlendum upprunna / Vielstimmigkeit fremden Ursprungs, Una útgáfuhús, Reykjavík 2021)

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer



Es durchströmt mich ein Verlangen
die Kälte zu besiegen,
die Unterkühlung
zu vermeiden,
in diesem harten Land.

Als Kind
bei minus dreißig Grad
tagträumte ich
zitternd, in einem
wärmeren Land zu leben, wo
meine Nase
nicht von innen erfror.

Es rüttelt an meinem Haus
in der Nýlendugata,
der Wind versucht
durch ein Fenster zu brechen
mit dreißig Metern pro Sekunde,
im Dunklen
liege ich allein unter der Bettdecke,
schließe die Ohren,
zittere im Takt mit dem Haus.

Manchmal bebt die Erde,
rutscht mir unter den Füßen weg,
mein Zufluchtsort verwandelt sich
in einen Ort der Gefahr,
ich zittere für ein paar Sekunden,
mein Herzschlag
ist das Nachbeben.

Ich tauche die Füße in
kaltes Wasser,  
kristalline Kälte
fließt wie ein Lauffeuer
die Blutgefäße hoch,
ich sinke tiefer,
der Körper zittert,
ich bin ein Erdbeben,
fünf Komma sechs auf der Richter-Skala.

Ein kalter Tag im Februar,
entschlossen gehe ich ins Meer,
Schritt für Schritt,
tiefer und tiefer,
ich spüre die Kälte in allen Adern,
die Wellen schlagen um meinen Hals,
mein Entschluss wächst,
ich stoße mich vom Boden ab,
beginne zu schwimmen.

Ohne zu zittern
mache ich mich von der Kälte frei,
ruhe mich aus in aller Ruhe,
als würde ich auf der Regenbogenbrücke
über einen Abgrund gehen,
solange man ihr vertraut,
löst sie sich einem nicht
auf unter den Füßen.


Natasha Stolyarova, geboren in Russland, kam 2012 nach Island, um an der Isländischen Hochschule Isländisch zu lernen. In Moskau hatte sie bereits Publizistik studiert, aber nach ihrem Umzug nach Island wandte sie sich der Literatur zu. Sie schreibt Gedichte und Prosa und veröffentlichte in Zeitschriften und Anthologien. Außerdem arbeitet sie für Radio und Fernsehen und übersetzt aus dem Isländischen, vor allem ins Russische, u.a. den Roman Kvika / Magma der in „Wortlaut Island“ bereits vorgestellten Schriftstellerin Þóra Hjörleifs-dóttir.
In Island hat sie u.a. verschiedene Literaturprojekte für Autoren mit ausländischen Wurzeln betreut und arbeitet im Stadtzentrum Reykjavíks als Buchhändlerin.
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