Natasha S.: Wünsche - vier Gedichte
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Natasha S.
Wünsche - vier Gedichte
(Aus:
Máltaka á stríðstímum /
Spracherwerb in Zeiten des Kriegs, Una
útgáfahús, Reyjkavík 2022)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
DEMONSTRATION
wir
sind ein paar mehr geworden
die
fahnen haben die farbe gewechselt
statt
des wortes freiheit
steht
nun das wort krieg
WÜNSCHE
ich schicke wünsche ins all hinaus
wünsche
nach
genesung
einer
erfolgreichen schwangerschaft
arbeit
lösung
aus einer gewalttätigen beziehung
ich
bitte selten um etwas für mich selbst
hoffe
trotzdem dass irgendwer sich der sache annimmt
ich
formuliere die dinge genau
wenn
nichts passiert
kann man es gut überprüfen
ich
wünsche mir dass
der
krieg nicht begänne
er
morgen endete
er
schnell endete
er
so schnell wie möglich endete
dass
es wenige tote gäbe
dass
es wenige tote gäbe
dass
es wenige tote gäbe
man
darf keinem den tod wünschen
ich
wünschte es wäre erlaubt
TRÄUME
ich
schlage meiner mutter ins gesicht
will
das nicht träumen
und
wache auf
es
ist vier uhr
ich kann nicht sofort wieder schlafen
hole
den stickrahmen
mit
dem halbfertigen bild
meiner
heimatstadt
bleibe
eine weile wach
schlafe
dann wieder ein
zufällig
traf ich meine familie
man
saß zusammen in einem sonnigen café
mich
hat man nicht eingeladen
sie
wollten mich nicht mehr sehen
scher
dich zum teufel
du
hast deine mutter geschlagen
ich
hole nadel und faden
nähe
meinen nabel zusammen
ZU HAUSE
ich bleibe hier
gehe nirgendwo hin
mein haus ist mein leben
pflanzt blumen
entlang des zauns
kartoffeln karotten und gurken
im garten
beschneidet alte apfelbaumäste
krähenbeere und himbeerenstrauch
rupft altes gras aus dem boden
reißt das unkraut mitsamt den wurzeln aus
zieht wasser aus einem brunnen
kehrt den hof
verbrennt den rest vom laub
aus dem herbst
ich bleibe hier
gehe nirgendwo hin
wenn die bombe
mich findet
wird das leben weiter gehen
Natasha
S., geboren in Russland, kam 2012 nach Island, um an der
Isländischen Hoch-schule Isländisch zu lernen. In Moskau hatte sie bereits
Publizistik studiert, aber nach ihrem Umzug nach Island wandte sie sich der
Literatur zu. Sie schreibt Gedichte und Prosa und veröffentlicht in
Zeitschriften und Anthologien, so in der 2021 erschienenen Anthologie Pólífónía af
erlendum upprunna / Vielstimmigkeit fremden Ursprungs („Wortlaut
Island“, 06.09.2022). Außerdem arbeitet sie für Radio und Fernsehen und übersetzt
aus dem Isländischen, vor allem ins Russische, z. B. den Roman Kvika /
Magma der in „Wortlaut Island“ ebenfalls bereits vorgestellten Schriftstellerin
Þóra
Hjörleifsdóttir (14.07.2021).
Máltaka á stríðstímum / Spracherwerb in Zeiten des Kriegs ist ihr erster Gedichtband; für ihn wurde sie mit
dem Tómas-Guðmundsson-Poesie-Preis ausgezeichnet, einem Preis, den die
Stadt Reykjavík zum Andenken an den gleichnamigen bekannten isländischen
Schriftsteller und Lyriker (1901 – 1983) alljährlich an herausragende Werke der
isländischen Dichtkunst vergibt. Es war das erste Mal, dass dieser Preis an
einen Autor, eine Autorin mit Migrationserfahrung vergeben wurde.