Nachoem Wijnberg: Wie es wirkt
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Alexander Kurz
Nachoem Wijnberg: Wie es wirkt. Niederländisch, deutsch. Übersetzt von Andreas Gressmann. München (Aphaia Verlag) 2024. 228 Seiten. 22,00 Euro.
Nachoem Wijnbergs Gedichtband "Wie es wirkt" beschäftigt sich mit den Fragen "Was ist Kunst?", "Wie stehen verschiedene Künste zueinander?" und "Wie entsteht Bedeutung aus schwer fassbaren Beziehungen zwischen Wörtern und anderen Konzepten?"
Seine Untersuchungsmethode ist keine philosophische, sondern eine faszinierende Mischung aus Poesie und reiner Mathematik. Aber keine Sorge, der Text enthält keine Definitionen, Theoreme oder Beweise. Es sind keine Algebrakenntnisse erforderlich und es müssen keine Übungsaufgaben gelöst werden.
Es ist vielmehr die Methodologie von mathematischen Fachbereichen wie Kategorientheorie und mathematischer Logik, Typentheorie und Beweistheorie, die zur Untersuchung der Bedeutungsinhalte in verschiedenen Kunstformen angewendet wird. Im Folgenden werde ich diese Bereiche der Mathematik zusammenfassend als Metamathematik bezeichnen.
Die Metamathematik hat
eine lange und erfolgreiche Geschichte in der Erklärung der Bedeutung formaler
Spra-chen: Das gilt sowohl für
die Sprache der Mathematik selbst als auch für die Sprachen, die wir zur
Programmierung von Computern verwenden.
Mit seinem Gedichtband
"Wie es wirkt" betritt Wijnberg Neuland.
Während Mathematik
bereits zuvor verwendet wurde, um natürliche Sprache zu verstehen, erfolgte dies, indem man natürliche
Sprache als eine Art formale Sprache betrachtete. Montagues berühmter Artikel von 1970 mit dem Titel "English as a
formal language" (Englisch als formale Sprache) legte den Grundstein für
vieles, was folgen sollte.
Wijnberg hingegen zeigt,
dass es viel über die
Entstehung von Bedeutung in
natürlicher Sprache von der
Metamathematik zu lernen gibt, ohne
den einschneidenden Schritt zu unternehmen, natürliche Sprache auf eine formale
Sprache zu vereinfachen.
Um dies genauer zu
erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Wie andere Wissenschaftler arbeiten
Mathematiker gleichzeitig auf zwei Ebenen. Auf der unteren Ebene sind Aussagen
entweder wahr oder falsch, und es können Berechnungen durchgeführt werden, um zum Beispiel eine Rakete zum Mond zu schicken. Auf den höheren Ebenen entwickeln Mathematiker
übergreifende Konzepte und Methoden, wie zum Beispiel Invarianten und
Erhaltungssätze, die Dualität zwischen Algebra und Geometrie, die Vereinfachung
durch Grenzübergang zum Unendlichen oder die Betrachtung der logischen Struktur
der Mathematik als Teil der Mathematik selbst. Diese beiden Ebenen können auch durch Begriffe wie Objektebene versus
Metaebene, operative Theorie versus Hintergrundtheorie oder logisch versus
konzeptionell unterschieden werden. Jede wissenschaftliche Theorie wird von einer
Hintergrundtheorie begleitet, die ihre Anwendung leitet.
Wijnberg verwendet die
Metamathematik (und insbesondere die Kategorientheorie) als Hintergrundtheorie,
um Bedeutungsbildung in
Literatur und Kunst zu untersuchen.
Bevor ich diese
Behauptung begründe, möchte ich eine Bemerkung zum Lesen von Mathematik machen.
Auf der unteren, logischen Ebene sollte man Mathematik linear lesen, beginnend
mit den Definitionen, unter Vermeidung von Zirkelschlüssen und logischen Fehlschlüssen.
Auf der konzeptionellen Ebene sind Leser frei, hin und her zu springen und ein
Netz von Bedeutungen zu schaffen, wobei der Text eher als Anleitung denn als
Vorschrift betrachtet wird. In der Tat verlangt die mathematische Arbeit die
Bedeutungseinheiten (die auf unendlich viele verschiedene Arten angeordnet werden
können) selbst zu entdecken oder zu erschaffen. Die Schönheit der Mathematik
liegt in dieser offenen Landschaft möglicher Konstellationen. Die logische
Ausarbeitung dient nur dazu, innere Widersprüche zu vermeiden. (Nebenbei
bemerkt, ein einziger Widerspruch in einem entlegenen Winkel der Mathematik würde
allen Ergebnissen der gesamten Mathematik das Fundament entziehen. Die Vermeidung von Widersprüchen in der
Mathematik ist vergleichbar mit der Durchführung von Experimenten in der
Physik. Nur durch diese methodische Randbedingung können beide Disziplinen den Anspruch auf Wissenschaftlickkeit
erheben.)
Nachdem mich eine erste
Lektüre ratlos zurückließ, begann ich, systematischer die grundlegenden
Bedeutungseinheiten zu bestimmen. Die frühen Gedichte führen das Grundvokabular
ein, darunter Anfang/Ende, Wege/Weisen, Übersetzen, Abbilden,
Zeit.
Wijnberg entwickelt eine
Sprache, um die Entscheidungen zu untersuchen, denen Künstler während des
kreativen Prozesses begegnen, eine Sprache, die verborgene Muster aufdeckt und
ein reichhaltiges Netz von Bedeutungen knüpft, zum Beispiel:
Zwischen zwei Künstenist immer mindestens noch eine andere und zwischen zwei Weisenum von einer Kunst in eine andere zu gehenmindestens noch eine andere.
Beim Weiterlesen
geschieht etwas Interessantes: Nachdem man begonnen hat, Wörter zu untersuchen,
werden die Gedichte nun selbst zu Bedeutungseinheiten. So kann man zum Beispiel alle Titel aller Gedichte
lesen, eines auswählen, die Wörter bis zu ihrer ersten Verwendung
zurückverfolgen, wieder zurückgehen und diesen Prozess dann fortsetzen.
Wijnberg lädt den
Leser dazu ein, sich ihm beim Aufbau eines Netzes von Bedeutungen
anzuschließen, ein Komplize des Dichters zu werden.
Nach der Erweiterung der
Sprache (zum Beispiel Grenze, Richtung, Abstand, Veränderung, Nachricht,
Hintergrund/Vordergrund, Verteidigen) und der Verfolgung der durch das
obige Zitat vorgegebenen Richtung untersucht Wijnberg die Beziehung zwischen
verschiedenen Künsten, insbesondere Lyrik, Musik und Malerei. Er erforscht, wie man kreative Prozesse
von einer Kunstform in eine andere übersetzen und dabei die zugrundeliegenden
Bedeutungsnetze übertragen kann, zum Beispiel:
Jede Kunst lässt Zeit langsamer vergehen,was Druck nach außen erzeugt,wie gegen die Unterseite eines Flügelsund mehr Druck in Richtung wo die Kunst sich blähtim Wind der Zeit.
Oder:
Jede Kunst mit der ich nicht genug (vielleicht kann es ein anderer?)eine Abbildung dessen machen kann was außerhalb von ihr istfinde ich mit Musik auf einer Seiteund jede mit der ich mehr abbilden können müssteals ich kann finde ich mit Lyrikauf einer Seite.
Als Mathematiker
sehe ich eine Herangehensweise, die ähnlich ist wie die, die Algebra und
Geometrie hervorgebracht haben. Diese Disziplinen bieten uns eine Sprache und
ein Rahmenwerk, um grundlegende Konzepte wie Relationen innerhalb und zwischen
Domänen, Abbildungen und ihre Bilder, geordnete Strukturen, Übersetzungen,
sowie Hintergrund- und Vordergrund zu verstehen und anzuwenden.
Das Buch
offenbart auch weitere Parallelen zwischen Mathematik und Kunst.
Zum Beispiel
streben Mathematiker danach, ihre informelle Hintergrundtheorie in logisch
formalisierte Mathematik umzuwandeln. Formalisierte Mathematik ist nicht
zirkulär, aber die mathematische Methode selbst ist es. Wir studieren
Mathematik indem wir Mathematik auf Mathematik anwenden. Ähnlich ist "Wie
es wirkt" selbstreferenziell, indem es eine Methode zum Verständnis der
Lyrik als eine Sammlung von Gedichten präsentiert auf die die Methode selbst
angewendet wird.
Darüber hinaus
ist der Text, ähnlich wie in der Mathematik, nicht nur eine Einladung an die
Leser ihr eigenes Bedeutungsnetz aufzubauen, sondern erfordert auch ein
ähnliches Maß an Geduld, Ausdauer, Aufgeschlossenheit und kritischer Haltung.
Die deutsche Übertragung
ist meisterhaft. Anstatt das Original zu schmälern, fügt sie zusätzliche
Bedeutungsebenen hinzu. "Übersetzung" erscheint im Titel von vier
Gedichten und ist sowohl zentraler Untersuchungsgegenstand als auch
Untersuchungsmethode. Der Übersetzer Andreas Gressmann versteht dies gut und
wendet die Methode von "Wie es wirkt" auf "Wie es wirkt"
selbst an.
Schließlich weist
"Wie es wirkt" auch noch in eine andere interessante Richtung. Wohin
wird der Leser gelangen, wenn er die Methode auf seine eigenen
Bedeutungsnetzwerke anwendet? Ich kann Umrisse davon in Mathematik und Technik
auftauchen sehen. Vielleicht können uns solche neuen Wege, Sinnzusammenhänge zu
verstehen und zu organisieren, sogar helfen, uns auf das kommende Zeitalter der
künstlichen Intelligenz vorzubereiten.
Ich überlasse das
letzte Wort "Wie es wirkt", das mit diesen Zeilen schließt:
Was da ist kann durch jede Kunst(die auch ein Teil von dem was da ist ist) abgebildet werdenund Lyrik sagt auch wie dies wirkt und Musikverteidigt das Ende.
Alexander Kurz ist Mathematiker und Professor für Information Science an der
Chapman Universität in Orange, Kalifornien.
https://www.chapman.edu/engineering/about/faculty/program-faculty/alex-kurz.aspx
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