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Nachoem M. Wijnberg

Portraits
Foto: Lukas Gobel
Jüdische Gedichte von Nachoem M. Wijnberg
Vorwort von Andreas Gressmann,
dem Übersetzer

Nachoem Wijnbergs Gedichte muten bei flüchtigem Lesen wie Rätsel an. Aber sind sie das auch? Die Rede verläuft nicht geradlinig, wird immer wieder von Einschüben unterbrochen. Viele Gedichte stellen eine Art Postulat an den Anfang, dem dann ein Beispiel folgt, welches wiederum Assoziationen hervorruft, oft unterbrochen von weiteren Assoziationen, die in Klammern gesetzt werden. Kartographiert könnte man sich eine Hauptstraße vorstellen, von der verschiedene Nebenstraßen abzweigen, was als Ganzes betrachtet ein System oder Netz ergibt. Auslöser dieses Netzes von Gedanken und Assoziationen kann auch eine Begegnung, ein Bild, eine Erinnerung sein. Wijnberg ist Wissenschaftler, und als solcher versucht er sich die Wirklichkeit anhand von Modellen oder Theorien vorzustellen und zu beschreiben.  In einem zweiten Schritt prüft er, ob diese Modelle empirisch verifiziert werden können, ob sie sich in der Praxis bewähren. Der Dichter Wijnberg scheint ähnlich vorzugehen, doch das dichterische Denken unterscheidet sich grundsätzlich vom wissenschaftlichen. Es zieht keine Schlüsse, es schreitet nicht vom einen zum anderen fort, es löst nicht. Es ist kein Prozess, eher ein Zustand. Es will verknüpfen, festhalten, darstellen, verharren, nicht weitergehen. Das menschliche Gehirn ist in der Lage, Bilder, Assoziationen, Erinnerungen, Gedanken nahezu gleichzeitig ins Bewusstsein zu rufen. Neuronen und Synapsen arbeiten mit sehr hoher Geschwindigkeit. Doch vor allem mit der Fähigkeit, alles, was es gespeichert hat, in unendlich vielen Kombinationen miteinander zu verknüpfen, ist unser Gehirn der Künstlichen Intelligenz immer noch weit überlegen. Wenn wir träumen, aber auch wenn wir meditieren oder joggen, können wir einen Zustand erleben, an dem Gedankensplitter, besser gesagt, Gedanken, die noch nicht formuliert sind, noch keine sprachliche Form gefunden haben, mit Erlebnissen und inneren Bildern zu einem Feuerwerk, einem stummen Blitzgewitter zusammenfinden, das vielleicht nur Bruchteile von Sekunden andauert, bevor der Verstand ordnend eingreift und dem Spuk ein Ende bereitet. Dieses wilde Denken ist das Kraftzentrum des kreativen Prozesses. Die unterschiedlichsten Dinge können miteinander in Verbindung treten, Sinneseindrücke, Farben, Geschmack, Geräusche, Töne, aber auch, noch frappierender, Gefühle, auch entgegengesetzte, können sich verbinden. Trauriges und Lustiges, Wut und Sanftheit, Hass und Liebe können gleichzeitig empfunden werden, als entstammten sie derselben Quelle. Ein Kind könnte davon mehr erzählen, im kindlichen Bewusstsein spielt das wilde Denken noch eine beherrschende Rolle, und erst im Laufe seiner Entwicklung lernt es (im günstigen Fall) Ordnung in diese Welt zu bringen und die als absurd oder störend empfundenen Gedanken auszusortieren. Das nennen wir dann Verstand. Wie unendlich langweilig ist dieser Verstand! Ebenso langweilig die Algorhythmen der Künstlichen Intelligenz, man sieht schon, da schlurfen Archivbedienstete in grauen Kitteln durch die Gänge der Weltbibliothek und suchen in ungezählten Regalwänden mit Registern, Abteilungen, Fächern, Aktenordnern nach dem Passenden, alles in sehr hoher Geschwindigkeit, gewiss. Der Vorgang des wilden Denkens dagegen gleicht eher einem winzigen Urknall, der eine Unzahl von bunten Funken in alle Richtungen verschießt, von denen einige erlöschen, andere aber neue winzige Explosionen auslösen, eine chaotische Ausbreitung, die rasch unübersichtlich wird und vom Verstand nicht mehr eingefangen werden kann. Wijnbergs Gedichte, auch wenn sie selbstverständlich vom Verstand gesteuert und in eine ästhetische Form gegossen werden, sind in dieser Welt des wilden Denkens beheimatet. Sie sind ein Versuch, in den vorsprachlichen Bereich des Denkens vorzudringen, in jene Sphären des Geistes, die uns vielleicht am anschaulichsten in der Musik begegnen, ein Versuch, die Gedanken in ihrem Rohzustand zu erfassen, einem Zustand, in dem sie fast schon oder noch nicht ganz Sprache sind. Das ist nichts vollkommen Neues, spätestens seit Rimbaud versucht die Lyrik zu diesem Urgrund der Inspiration vorzustoßen, doch bei Wijnberg geschieht dies auf ganz natürliche Art, ohne die Esoterik der Symbolisten oder den Hokuspokus der "écriture automatique" zu bemühen. Weil die Gedankensplitter, Assoziationen, Bilder so schnell aufeinanderfolgen, kann die herkömmliche Grammatik und Syntax nicht mit ihnen Schritt halten, statt eines ordentlichen Satzbaus und einer ordentlichen Zeichensetzung stoßen wir auf unvollendete Sätze, elliptische Konstruktionen, mehrdeutige Zuordnungen. Schnelligkeit, Knappheit, Mehrspurigkeit sind Mittel, den Eindruck der Gleichzeitigkeit von Bildern und Gedanken zu erzeugen. Nichts haben Wijnbergs Gedichte indes mit jener Lyrik zu tun, in der ein geheimnisumwobenes Raunen herrscht, die Verdunkelung oder Mystifizierung der Wirklichkeit. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist Suche nach Klarheit, Erkenntnis, Wahrheit. Bei den Jüdischen Gedichten geht es um ganz konkrete Fragen, es geht darum, welchen Einfluss heute jüdische, aber auch antisemitische Traditionen auf unsere Denkweisen ausüben. Im Zentrum steht die Frage der jüdischen Identität. Wer bin ich? Wer bin ich als Jude? Wie sehen mich die andern? Sehen mich die andern als Juden? Wie sehe ich die andern, sehe ich die andern als Nicht-Juden? Bin ich überhaupt ein Jude, oder nur, insofern die andern mich als solchen ansehen? Es geschieht ja auch, dass der eine fälschlich zum Juden ernannt wird, einem anderen wiederum das Jude-Sein abgesprochen wird. Identität ist in unseren mobilisierten multikulturellen Gesellschaften zu einem beherrschenden, omnipräsenten Thema geworden. Mehr denn je wird uns bewusst, dass es die eine Identität nicht mehr gibt, wohl nie gab. "I contain multitudes" schrieb Walt Whitman, singt Bob Dylan in einem seiner jüngsten Songs. Die jüdische Identität kann exemplarisch für jede minoritäre Gruppen-Identität gesehen werden, die vom assimilierenden Druck der immer noch virulenten Nationalismen bedroht und angefeindet wird. Als jüdische condition humaine bleibt sie allerdings auch einzigartig und unvergleichbar, denn schwer lastet immer noch die Katastrophe der Shoah mit ihren unwiederbringlichen Verlusten auf ihr. Eine feine Melancholie zieht sich durch diese Gedichte, untrennbar verbunden mit (schwarzem) Humor und Witz.
          Nicht jede der aufgerufenen Personen, geschweige denn deren Werk muss der Leser kennen, manche Einzelheiten mögen auch nur einem niederländischen Publikum geläufig sein. Im Zeitalter der schnellen Recherche meinten wir auf einen entsprechenden Anmerkungsapparat verzichten zu können. Der Übersetzer ist Nachoem Wijnberg zu großem Dank verpflichtet für die enge Zusammenarbeit und das geduldige Beantworten aller Fragen, ohne die nur eine mit vielen Fehlern behaftete Übersetzung herausgekommen wäre.


ABRAHAMS VATER

Abraham schlägt im Dunkeln um sich
weil die Standbilder nicht sprechen oder gerade weil sie sprechen
und Abrahams Vater ist nicht mal böse,
bittet ihn nur die Werkstatt aufzuräumen
bevor es Morgen geworden ist. Abrahams Vater
ist der gerechteste,
denn wenn ihn jemand um etwas bittet macht er ein Standbild
von dem der das geben könnte.

Abrahams Vater bittet seinen Sohn
nur den Fußboden der Werkstatt aufzuräumen
nach einer Nacht in der er erneut die Standbilder zerschlagen hat
bis zu dem Tag an dem Abraham weggeht als habe man ihn darum gebeten,
bis zu dem Tag an dem sein Sohn weitergekommen war
in der Technik des Reisens,
eine einfache, für Kinder Technik,
im Vergleich zu der des Machens von Standbildern
nach einer Nacht in der sie erneut zerschlagen wurden. Wenn Abrahams Vater
auch nur ein einziges heiles Standbild gefunden hätte
wenn er früh am Morgen hereingekommen wäre
hätte er den Mund des Standbilds geöffnet und den Mund gewaschen
um es für ein Frühstück fertig zu machen, doch als er zum ersten Mal
ein heiles Standbild findet ist es der Morgen
an dem Abraham abgereist ist.

Wenn Abraham seinen Vater eines Morgens gefragt hätte
ob er nicht böse auf ihn sei
weil er die Standbilder zerschlagen hätte
hätte er geantwortet: ja, weil du diejenigen nicht zerschlagen hast
die ich noch machen könnte
wenn du weit fortgereist bist
und am folgenden Tag macht er ein Standbild von Abraham.


ABRAHAMS VADER

Abraham slaat in het donker om zich heen
omdat de standbeelden niet spreken of omdat zij wel spreken
en Abrahams vader is niet eens boos,
vraagt hem enkel de werkplaats op te ruimen
voordat het ochtend geworden is. Abrahams vader
is de meest rechtvaardige,
want als iemand hem ergens om vraagt maakt hij een standbeeld
van wie dat kon geven.

Abrahams vader vraagt zijn zoon
enkel de vloer van de werkplaats op te ruimen
na weer een nacht waarin hij de standbeelden kapotgeslagen heeft
tot de dag dat Abraham weggaat alsof hem dat gevraagd is,
tot de dag dat zijn zoon verder gekomen was
in de techniek van het reizen,
een makkelijke, voor kinderen techniek,
in vergelijking met die van het maken van standbeelden
na weer een nacht dat ze kapotgeslagen zijn. Als Abrahams vader
ook maar één heel standbeeld gevonden had
als hij binnenkwam vroeg in de ochtend
had hij de mond geopend van het standbeeld en de mond gewassen
om het klaar te maken voor een ontbijt, maar de eerste keer
dat hij een heel standbeeld vindt is de ochtend
dat Abraham op reis gegaan is.

Als Abraham zijn vader op een ochtend gevraagd had
of hij niet boos op hem was
omdat hij de standbeelden kapotgeslagen had
zou hij geantwoord hebben: ja, omdat je die niet kapotgeslagen hebt
die ik nog zou kunnen maken
als jij ver weg gereisd bent
en de volgende dag maakt hij een standbeeld van Abraham.


In Nachoem M. Wijnberg: Jüdische Gedichte. Niederländisch, Deutsch. Übersetzt von Andreas Gressmann. München (Aphaia Verlag) 2022. 180 Seiten. 19.00 Euro.
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