my degeneration
Jayne-Ann Igel
Neodadaistischer Aufruhr oder Mit Turbopoesie gegen den Turbokapitalismus
Anmerkungen zu Kramer/ Mießner/ Pohl/ Schittko et al.: „my degeneration“
My degeneration – wer denkt da nicht zu allererst an den Song „My Generation“ aus den 60er Jahren, der auf dem gleichnamigen Album der Band The Who zu finden ist und vom Lebensgefühl der jungen Generation zu jener Zeit Kunde gibt, von ihrem Überdruß an den überkommenen Verhältnissen, an einer biederen Bürgerlichkeit, für die auch damals der Kapitalismus ohne Alternative war. Tatsächlich verweist der Herausgeber des vorliegenden Bandes in einer Fußnote zum Intro auf diesen Bezug. In jenem Song heißt es sinngemäß: „Warum verschwindet ihr nicht einfach/ Versucht euch keinen Reim auf das zu machen, was wir sagen/ Ich versuche erst gar nicht, was Großes zu starten/ Ich rede nur von meiner Generation.“ Was da aufleuchtet, scheint in Grundzügen auch symptomatisch für die heutige Generation der Mittdreißiger bis Mittvierziger, die in der Vergangenheit als „Generation Praktikum“ oder „Generation Null Bock“ durch die Medien geisterte. So ist es sicherlich kein Zufall, daß das Herausgeber- und Autorenteam um Kai Pohl und Clemens Schittko ihrem Sammelband mit Texten, die zwischen 2004 und 2013 entstanden sind, den Titel „my degeneration“ verpaßt haben. Was in diesen Texten vor allem statthat, ist die Dekonstruktion der neoliberalen Verschleierung von Machtgefälle und Abhängigkeiten, wie sie sich auf sprachlicher Ebene im öffentlichen Raum darstellt (Werbung, Politik, Wirtschaftspublizistik), im kulturellen Kontext der 90er und 2000er Jahre. Womit wir es hier zu tun haben, könnte man aber auch als Turbopoesie bezeichnen, mithin eine geniale Antwort auf das gegenwärtige Erscheinungsbild des Kapitalismus, den sogen. Turbokapitalismus.
Denn das Politiker-, Manager- und Alltagssprech wird wiederholt in eine Zentrifuge gegeben, ordentlich durchmischt, de-generiert sozusagen, im Sinne des neoliberalen Neusprechs, dessen Verfahren dadurch transparenter wird. Dort sind Bedeutungs- und Sinnverschiebungen zu beobachten, durch die der Ursprungsbegriff nicht nur verfremdet, sondern gelegentlich ins Gegenteil verkehrt wird. So wie sich etwa im Zeichen der Agenda 2010-Politik unterm Diktum von Flexibilisierung und Selbstvermarktung gewonnene Freiheiten zu neuer Unfreiheit und subtileren Abhängigkeitsverhältnissen wenden, denen der Typus des neuen Arbeitnehmers dann oft vereinzelt gegenüber steht.
„Fremdbestimmung heißt jetzt Selbstbestimmung und Durchsetzungsvermögen“ (Pohl, S. 126). Über ein Alleinstellungsmerkmal verfügt der Neoliberalismus damit jedoch nicht. Erinnert sei an die Sprache der NS-Zeit, die Klemperer in seinem LTI einer Analyse unterzog. Oder an die sogen. Sprachregelungen, die in Ost wie West in der Zeit des Kalten Krieges an der Tagesordnung waren. Indes das Phänomen semantischer Manipulation in der Gegenwart an Forcierung erheblich zugenommen hat.
Seit zwei Jahrzehnten wird global seitens einflußreicher Akteure in Politik und Wirtschaft die Umwertung aller Werte und mittels Deregulierung auch deren Pervertierung betrieben. Am Anfang dieses Prozesses in Deutschland standen solch zentrale Begriffe wie etwa der der Reform. Just in jenem Zeitraum, in dem die im vorliegenden Band vertretenen Autoren groß geworden und literarisch in Erscheinung getreten sind, politisch hoch sensibilisiert. Außer Kai Pohl (Jg. 1965), Initiator und Kopf dieser Unternehmung, sind alle Kombattanten in den 70er Jahren geboren und quasi in diese laufende Umettikierungsaktion hineingewachsen, die sich dem ersten Anschein nach, mitsamt der Anglizismen, die Verwendung finden, so innovativ wie harmlos gibt. Indem sie diese Vorgänge auf der Sprachebene durchspielen und verfremden, mit einem Maß an Humor, Doppelbödigkeit und (Selbst-)Ironie, wie sie z.B. Clemens Schittkos Texten eigen, wird nachvollziehbar, daß mit all den fortwährenden Umbenennungen und Umwidmungen von Firmen, Ämtern, Behörden oder Bezeichnungen sich nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch unsere Wahrnehmung davon verändert.
Was die sechs Sondeure, unterwegs im öffentlich-rechtlichen Wortgestein, per Teamwork scheinbar zeitgeistig zelebrieren, kommt Sampletechniken, wie sie in der Musik verwendet werden, sehr nahe. Schon das Inhaltsverzeichnis, das als Tracklist in Erscheinung tritt, leistet dieser Sichtweise Vorschub. Man könnte ihre Methode aber ebenso auch mit serieller Musik in Verbindung bringen.
Kai Pohls „Auweia heißt jetzt Ai Weiwei“ (S. 117 ff.) mag auch als neodadaistische Textperformance mit dem Transformationsschutt aus der Sprache von Werbewirtschaft und Politik begriffen werden. In seinem Kompilierungsverfahren verknüpft er verschiedene Bedeutungs- und Sinnebenen. „Erwartung heißt jetzt Entwaldung“ ist da etwa zu lesen, oder: „beschleunigte Verschwendung heißt jetzt Zukunftsverbrauch oder Wachstums-beschleunigungsgesetz“. Und spart dabei die Niederungen des politischen Alltags nicht aus: „FDP heißt jetzt fast drei Prozent“, „Hohn heißt jetzt Hoeneß“. Man muß diese Texte, in denen sich, wie z.B. in Lars-Arvid Brischkes manifestartigem Beitrag (S. 100 ff.), die Rasanz und die Atemlosigkeit der medial aufbereiteten Gegenwart widerspiegeln, einfach politisch lesen. Und das durchaus mit Genuß. Brischke läßt mittels Versatzstücken aus Pressemeldungen, Schlagzeilen und Statements, die er gelegentlich lakonisch kommentiert, die Szenarien von Mauerfall, Nachwendezeit, Finanzkrise und Fukushima-Katastrophe Revue passieren. Wie nebenher tauchen da auch Namen auf, die in jüngster Zeit mit Skandalen verbunden wurden, Kachelmann, Strauss-Kahn und Assange. Robert Mießner verbucht in seiner Enzyklopädie diverse Sinnverschiebungen: „separat bleibt separat doch siehe/ kontakt unter kontrakt/ intellektuell unter integriert/ anpassung unter sachzwang“ (S.88). In Benedikt Maria Kramers Variationen zum Drifting von Dingen, Begriffen und Namen nach Kai Pohl finden sich beispielsweise diese Zeilen: „Abzocke heißt jetzt Marketing./ Propaganda heißt jetzt Advertising.“ (S. 98).
Ja, es besteht Gefahr, irgendwann selbst in Kai Pohls Namedropping-Trommel oder den Fokus seiner Mitstreiter zu geraten und sich unvermittelt in einem illustren Kontext wiederzufinden.
März 2015
(Kramer / Mießner / Pohl / Schittko et al.:) my degeneration: the very best of WHO IS WHO. Greifswald (freiraum verlag) 2014. 151 Seiten. 14,95 Euro.