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Muriel Pic: Elegische Dokumente

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Timo Brandt

Im Labyrinth von Zeit und Welt sich erinnern an die Wege des Staubs


„Was sagen die Archive?
Sie beschreiben das Leid nicht.
Sie warten auf einen der sprechen wird
sie warten darauf
trotz aller Folgen Fragmente zu werden.
Aber wo ist der Grund der Bilder?
Auf ein Desaster sollte man sie stecken.“

Drei Gedichtzyklen versammelt diese erste Publikation von Werken der französischen Autorin Muriel Pic, die u.a. über Henri Michaux publiziert, die Werke von Walter Benjamin übersetzt & herausgegeben und eine gefeierte Monografie über W. G. Sebald verfasst hat.

Ihre drei Zyklen tragen die Titel „Rügen“, „Honig“ und „Orientierung“ und sind jeweils mit Archivbeständen verbunden und auf ihnen errichtet. Aus diesen Archiven hat Pic auch Originaldokumente übernommen, die den Band illustrieren und begleiten: Fotos, Karten, Handschriften und andere Dokumente. Mit ihrem Arrangement aus diesen Dokumenten und ihren eigenen Gedanken, antwortet sie quasi auf eine Zeile des Gedichts „Engel“ von Peter Huchel, wo es heißt: „Gedenke meiner, flüstert der Staub.“

„Rügen nach Caspar David Friedrich
ist Natur ohne Geschichte:
Meditative Klippen und arktisches Weiß
Gefühle und botanische Szenen
Das war vor den zahlreichen Schicksalen Proras“

Ihr erster Zyklus beschäftigt sich mit der zwischen 1936-39 erbauten, aber niemals fertiggestellten KdF(Kraft durch Freude)-Anlage Prora, die das Dritte Reich als 4,5 km lange Urlaubsanlage für etwa 20.000 Menschen konzipierte. Nach dem Krieg fungierte sie lange als Kaserne der NVA (Nationalen Volksarmee der DDR) und ist heute im Begriff, tatsächlich zu einem Urlaubsziel zu werden.

Die einzelnen Gedichte des ersten Zyklus sind Schlaglichter, in denen sich Stimmen der Zeit mit Analysen paaren, größere Motive (die Idee der Utopie, die Idee der Insel) einfließen und sich wieder auflösen (nicht unbedingt restlos), durchzogen von einem Faden des Unheimlichen, den Pic sehr behutsam einwebt, der aber immer wieder aufscheint, ein Faden, der daran erinnert, dass die Pläne dieser Urlaubsutopie Teil eines Gespinstes sind, das durch Mord und Vernichtung zusammengehalten und mit tödlichen Nadeln gestrickt wurde. Sehr geschickt zeigt Pic die Verwandtschaft von Pracht und Entsetzlichkeit, Größe und Monstrosität. Sie arbeitet dabei nicht nur mit Archivzitaten, sondern auch mit literarischen, z.B. von Hannah Arendt:

Der totalitäre Staat
(Hitler oder Stalin)
erwartet eine konstante Radikalisierung
der Normen
durch welche die Selektion
betrieben wird
das heißt die Vernichtung
jener, die ihnen nicht
entsprechen.
Eine fiktive Welt wir eine greifbare Wirklichkeit.“

Schon dieser erste Zyklus ist beeindruckend und für sich genommen ein gelungenes Gesamtkunstwerk. Vor allem ist verblüffend, wie viele kleine Abzweigungen Pic nehmen kann, ohne, dass der Kontext dadurch nachhaltig verschoben wird; vielmehr schafft sie es, den Fokus durch jeden neuen Aspekt noch klarer zu machen.

Ähnlich wie bei W. G. Sebald haftet ihren Darstellungen gleichsam etwas Unverbindliches und doch Warnendes an. Nichts an diesen Gedichten fordert auf, aber die Art, mit der sie es versteht, die Dokumente mit ihren eigenen Worten oder mit Zitaten zuzuspitzen, lässt im Gesagten fast automatisch einen Zug der Aufforderung aufblitzen. Nicht nur Gedenken taucht in diesen Elegien auf den Grund, eine Ölhaut an der Oberfläche verlangt attention und esprit d'action, fait de résistance.

„wenn sich die Ostsee an ihre
blauwandigen Versprechen gehalten hätte
es wäre ein Ferienlager
des dritten Reiches gewesen.
Mit Leibesertüchtigung für zwanzigtausend
eine Masse der Einsamkeit
eine vereinigte soziale Idylle
bei guter populistischer Tauglichkeit
im Fehlschlag der Utopie.“

Der zweite Zyklus greift auf zwei Archive zurück: einmal die Archive der Kibbuzim, die sich nach 1909 im osmanischen Palästina ansiedelten, auf Grundstücken, die von zionistischen Investoren und Mäzenen aufgekauft wurden, und zum anderen den Archiven von Franz Kafka, der 1917 überlegte, sogar plante, nach Palästina auszuwandern.

Ein wichtiges Motiv in diesem Zyklus sind Bienen und Honig. Bienen als Vorbild einer fleißigen, mehr oder weniger klassenlosen Gesellschaft, denn als solche sahen sich die Kibbuzim, und Honig als der süße Lohn der Arbeit (außerdem natürlich der biblische Honig, der zusammen mit der Milch im gelobten Land fließt). Eingewoben sind zusätzlich Kafkas Notizen über seine Versuche, Hebräisch zu lernen, einzelne Wörter und Formulierungen.

Es gibt eine Stimme
eine Geste
eine Lyrikhypothese
– und die Tränen.“

Um diesen Kern herum arrangiert Pic auch kleine Ausschnitte aus der Weltgeschichte, aus den Hoffnungen und Überlegungen und Philosophien der Zeit. So entsteht ein wohlsortiertes Durcheinander, in dem man als Leser*in schon mal den Überblick, den Bezug aus den Augen verlieren kann. Man stößt auch beim Verirren noch auf Interessantes, aber von allen drei Zyklen ist dieser am meisten ungebunden, mäandernd, sequenziell.

„Unser Denken oszilliert
zwischen der großen Unendlichkeit und der kleinen Unendlichkeit
von Atom zu Stern
auf halbem Weg: der Maßstab des menschlichen Körpers.
Es gibt immer eine Bresche um das Problem anzugreifen
ein Ziel um in das Sterninnere zu dringen
das Innere eines Atoms.“

Im letzten Zyklus weitet sich die Perspektive noch einmal und zu den historischen Kontexten gesellen sich die universellen, die kosmischen. Ausgehend von den Archiven eines Hobby-astronomen, der eine Fotographie vom Sternbild des Orion aufnahm, genau zu der Stunde, in welcher der zweite Weltkrieg ausbrach, bewegt sich Pic zwischen irdischen und astronomischen Sphären, zwischen der Welt der Atome und dem Reiz, den die unendlichen Weiten des Alls auf die Sehnsucht ausüben, derweil sie sie zugleich im Keim ersticken.

„Die Kräfte der Verzweiflung sind gleich
den Kräften des Willens zum Wissen.“

Ein wichtiges Motiv ist die Erkenntnisfrage: verstehen wir die Sterne besser, wenn wir sie genauer ansehen? Was haben wir wirklich gelernt, wenn wir von Sternen gelernt haben, Atombomben zu bauen? Pic stellt die Mythologie einiger Ureinwohnerstämme Nordamerikas, für die das Sternenzelt eine wichtige, behütende Konstante darstellte, dem Streben des modernen Menschen nach der Erforschung der kleinsten und größten Teile unserer Wirklichkeit gegenüber. An einer Stelle zitiert sie Paul Valery:

Ist das Universum nicht
das Produkt der technischen Mittel
die der Mensch besitzt
um Ereignisse empfinden zu können
die unbestimmbar vielgestaltig sind oder entfernt?“

Wie die beiden vorherigen, ist auch dieser Zyklus in seiner Mischung aus Eleganz und Nachdruck bestechend und ihm gelingt der Spagat zwischen dem Historischen und dem Metaphysischen. Hier kommt ein übergreifendes Motiv der Gedichte noch einmal voll zur Geltung: Das Labyrinth als natürliche Ordnung der Zeit, der Wirklichkeit. Um zum Staub zu gelangen, muss man Ort und Zeit zusammenbringen – und selbst dann lassen sich die ehemaligen Dimensionen, die dort blühten und erwuchsen, nur erahnen und nur aus den Dokumenten zusammensetzen, in denen hier und da eine Spur vom Unfassbaren Gestalt annimmt und fast so etwas wie Wesenheiten vermittelt werden.

Wie kann man greifbar machen, was nur noch Staub ist, aus Atomen besteht, die noch existieren, die aber keine andere Erscheinungsform mehr haben als Staub und allem anderen Staub gleichen, im endlosen Weltall, dessen Gehalt an Sternenstaub hoch ist, an menschlichem Staub aber verschwinden gering? Muriel Pic versucht sich daran, gibt Greifbares an die Hand. Das Begreifen bricht sie eher auf, verteilt es auf viele Träger, zieht es als Faden durch viele Öhre, ohne es je in etwas hineinzunähen.

Auch wenn ihre Ausführungen letztlich das Scheitern ihres Unterfangens umkreisen, arbeiten sie doch Schemen und Ideen heraus. „Elegische Dokumente“ hebt an, die ganze Ambivalenz und Ferne des Historischen zu betonen, und zeigt doch, was bleibt, was sich noch feststellen lässt inmitten des Staubs, wenn einem ein Staubkorn ins Auge geraten kann und uns damit konfrontiert, dass die Nähe des Staubes auch die Nähe von vielem anderen ist.  

„Nichts zu machen
die Natur der Dinge ist unregelmäßig.
Nichts zu machen
die Wahrheit liegt immer in Trümmern.
Nichts zu machen
die erduldeten Leiden
machen die vergangenen Zeiten nicht wirklicher.“


Muriel Pic: Elegische Dokumente / Élegies documentaires. Gedichte. Frz. / Dt. Übersetzt von Lukas Bärfuss. Göttingen (Wallstein Verlag) 2018. 144 Seiten. 20,00 Euro.
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