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Mütze No. 25 und 26 (2019/2020)

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Michael Braun

Zeitschrift des Monats

Mütze 25 und 26 (2019/2020)
Einübung in ästhetische Dissidenz

„Wer ist Ronald Johnson?“: Mit dieser Suchanzeige beschloss Urs Engeler im vergangenen Herbst die Jubiläumsausgabe seiner ästhetisch stets abweichungsbereiten Literaturzeitschrift Mütze. Als Fundstück waren einige minimalistische visuelle Poeme Johnsons dazugestellt. Vor der redaktionellen Fertigstellung dieser No. 25 der Mütze hatte Engeler in einer frühen Ausgabe der radikalen Kunstzeitschrift Zeitschrift für Alles geblättert, einem großartigen Projekt des Universalkünstlers, Performers und experimentellen Dichters Dieter Roth (1930-1998), der durch seine Vorliebe für Schokolade- und Schimmelprojekte berühmt wurde. Die Zeitschrift für Alles war zu ihrer Zeit ein in jeder Hinsicht verehrungswürdiges Projekt von immensem Eigensinn, wurden darin doch alle Arten von ästhetischer Hierarchiebildung ausgehebelt. Denn Roth brachte wirklich alles unzensiert und unredigiert zum Abdruck, was ihn an Zuschriften erreichte. Was bei den letzten Ausgaben in den Jahren 1986 und 1987 dann dazu führte, dass die Zeitschrift für Alles auf jeweils weit über 1.000 Seiten anschwoll. Im Debütheft der Zeitschrift für Alles hatte Engeler jedenfalls sechs visuelle Poeme von Ronald Johnson gefunden, ohne einen Hinweis auf die Biographie und die Werkgeschichte des Autors.
    Im jüngsten Heft der Mütze, der No. 26, dokumentiert Engeler nun die Funde seiner historischen Recherche. Und die haben es in sich. Hier werden einige begeisternde Porträts zu Ronald Johnson präsentiert, dazu der Anfang seines langen Poems „Das Buch vom Grünen Mann“ („The Book of the Green Man“), das hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung (von Urs Engeler himself) vorgestellt wird. Der 1935 in der amerikanischen Kleinstadt Ashland geborene und 1998 in Topeka (Kansas) verstorbene Ronald Johnson war ein sehr vielseitiger Poet, der in vielen Genres und Formen unterwegs war. Der ästhetische Minimalismus seiner visuellen Poeme in der Mütze 25 zeigt nur eine Facette des Dichters. In der neuen Mütze stellt ihn Jonathan Williams in seinem Nachruf (von 1998) als Wiedergänger einer an Traditionen des „Nature Writing“ orientierten Dichtung vor – und nebenbei auch noch als exzellenten Kochbuch-Autor. Gemeinsam mit Jonathan Williams, einem literarischen Schwergewicht aus dem Umfeld aus dem Kreis um Charles Olsons „Black Mountain College“, exponierte sich Johnson in den 1960er Jahren als eine Art poetischer Vagabund, der die Stimmen amerikanischer und englischer Landschaften in sich aufsog. So wanderten Johnson und Williams im Sommer 1961 über 1400 Meilen den sogenannten Appalachian Trail entlang, um das Leben der Vögel und Pflanzen und den Lauf der Gestirne sinnlich erfahren zu können. „Das Buch vom Grünen Mann“ war das ästhetische Ergebnis einer ähnlichen naturmagischen Pilgerfahrt nach England in den Jahren 1961/62. Jonathan Williams und Guy Davenport nennen in der Mütze eine Reihe von Gründen, warum der bis dato unbekannte Johnson zu den ganz Großen der amerikanischen Spätmoderne gehört. Unerwähnt bleibt hier freilich sein Projekt einer erasure poetry, mit dem sich Johnson einst mit John Miltons Weltgedicht „Paradise Lost“ auseinandersetzte. Das Erasure-Prinzip besteht im Wesentlichen darin, dass vorgefundene poetische Texte bestimmten Reduktions- oder Skelettierungsverfahren unterworfen werden, sei es mit Hilfe von Tipp Ex, Löschung, Übermalung oder Auslassung. Der Anteil der weißen Fläche auf einer Seite steigt immer weiter, die diversen Verkürzungen transformieren das Original vollständig. Vom Titel „Paradise Lost“ bleibt bei Johnson zum Beispiel nur „Radi os“ übrig.
    Die Mütze hat überhaupt eine Vorliebe für Dichter, die – wie Johnson – den Ausbruch ins Offene lieben, die Abweichung von normativen Poetiken, die Entschlossenheit zum Alleingang, die Bereitschaft zu ästhetischer Dissidenz. Zu ihnen gehört auch der polnische Dichter und Übersetzer Tomasz Różycki, der davon überzeugt ist, dass die Buchstaben den stärksten Drogen gleichkommen, denn – so Różycki - „sie befreien die Imagination“. Seine Poesie ist narrativ angelegt, sie nähert sich existenziellen Themen in lässiger Direktheit: „Ich mimte den Menschen, es lief gar nicht übel,/ mal besser und mal schlechter, ich gebrauchte Tricks, / Grundierung, Tusche, Eiweiß, unerhört viele Wörter, / denn man kann fast alles mit Wörtern,/ und das alles geschah auch, das Leben auf Koffern/ wie das Leben auf Kredit, die Nerven vor der Abreise, / das Haus, Name und Vorname, Worte, davon ganze Mengen./ Ich mimte den Menschen, war Fachmann…“. Auf deutsch liegen bislang zwei Bände Różyckis vor, dem 2009 bei Luchterhand erschienenen Langpoem „Zwölf Stationen“ folgte 2018 ein von Bernhard Hartmann übertragener Auswahlband in der edition  fotoTAPETA.  Wenn man nun in der Mütze die ungeheuer fesselnden, lakonisch gefügten Różycki-Gedichte in der Übersetzung von Dagmara Kraus liest, wünscht man sich gleich ein ganzes Różycki-Buch in der Übertragung durch diese sprachempfindliche Dichterin.
    Auch die neuen Gedichte von Farhad Showghi, die sich „ins Sprechen träumen“, führen in der neuen Mütze ins semantisch Offene – und ebenso der zwischen Alpen-Erkundung, literaturhistorischer Tiefbohrung und emphatischer Reminiszenz an die britisch-indische Dichterin Bhanu Kapil oszillierende Text des Philosophen Nils Röller. Einen halsbrecherischen Ritt ins Offene unternehmen in der Mütze 25 auch die Prosagedichte von Hans Thill. In diesem Zyklus mit dem Titel „Nützliches Wissen“ demonstriert Thill, wie man stereotypieanfällige Sätze verhindert – indem man nämlich semantische Linearität unterbindet und stattdessen ununterbrochen Haken schlägt. Hans Thill zitiert in diesem Zusammenhang die Erkenntnistheorie von Paul Feyerabend („Wider den Methodenzwang“) und liefert einige meisterhafte Stücke zur Sabotage von planer Eindeutigkeit und zur Verflüssigung des Sinns: „Alle Botschaften mit ihrem Sinn und Alphagespür sind nun Asche, Augenwasser und zu kleines Salz in dieser Ritze zwischen on und off.“   


Mütze 25 und 26 (2019/2020), Hrsg. v. Urs Engeler, Turnhallenstr. 166, CH-4325 Schupfart, jeweils 52 Seiten und 6 Euro.

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