Direkt zum Seiteninhalt

Mütze #11

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Jan Kuhlbrodt

Postmoderne und Kommunismus
oder
Die Suche nach dem heiligen Gral



Es ist gut, dass es Literaturzeitschriften gibt, und es ist auch gut dass es das Internet gibt. Denn ohne die Literaturzeitschrift Mütze #11 wäre ich nicht, zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt, auf Spicer gestoßen, und ohne das Netz hätte es wohl eine Weile gedauert, bis ich dieses Gedicht gefunden hätte. Dass ich es irgendwann gefunden hätte, dessen bin ich mir jedoch gewiss, denn soweit reicht, denke ich, die Folgerichtigkeit historischer und literarischer Prozesse. Wenngleich ich meiner Gewissheit auch nicht mehr vertraue. Die Postmoderne nämlich hat mir meine Gewissheiten nicht genommen, nur mein Vertrauen. Gewissheiten überlagern sich mittlerweile, werden undurchschaubares Geflecht. Paradox, aber wahr. Und bei der Recherche im Netz, die durch die Mütze ausgelöst wurde, fand ich folgenden Text:

Jack Spicer
Thing Language (First Poem)

This ocean, humiliating in its disguises
Tougher than anything.
No one listens to poetry. The ocean
Does not mean to be listened to. A drop
Or crash of water. It means
Nothing.
It
Is bread and butter
Pepper and salt. The death
That young men hope for. Aimlessly
It pounds the shore. White and aimless signals. No
One listens to poetry.


Dieses Gedicht als Intro. Und in der Hoffnung, dass meine Euphorie, die die Lektüre auslöste, sich auch auf andere Leser überträgt.

Es geht also um Mütze #11, die aktuelle Ausgabe jener Literaturzeitschrift, auf die ich nicht mehr verzichten kann, weil sie mein Bewusstsein jedes Mal derart ablenkt, dass ich meine Gedanken neu zusammenfügen muss. Ähnlich geht es mir bei der Lektüre des Schreibheftes. Und merkwürdigerweise zurrt ein Name die beiden aktuellen Lektüren zusammen. Denn Stefan Ripplinger ist in beiden aktuellen Heften als Übersetzer und Kommentator vertreten. Im Schreibheft als Übersetzer aus dem Französischen, es handelt sich um einen Text von Jaques Decour, einem Autoren, der 1942 während der deutschen Besatzung in Paris hingerichtet wurde. Decour wurde 32 Jahre alt. Die hier abgedruckte Erzählung war Decours letzte und klingt in einer Reihe aphoristischer Fragmente aus:

„Ich habe den Rhythmus verloren. An der sich wölbenden Decke meines nächtlichen Kerkers gibt es weder Einschnitt noch Stern. Weniger und weniger existiert die Zeit.“


In der Postmoderne spiegelt sich eine Zerfallserfahrung. Es ist die Erfahrung des Zerfalls einer Illusion. Geschichte, Historische Abläufe erweisen sich jenseits der Interpretationen als vollkommen inkonsistent. Die Zukunft ist mehr als nur offen, die Zukunft ist ein wabernder Nebel, der aus der Vergangenheit her sich in Künftigem spiegelt. Spätestens seit dem Nationalsozialismus hat sich der Glaube an Fortschritt als Irrglaube erwiesen.

Und hier sind wir beim zweiten Text. Die aktuelle Ausgabe der Literaturzeitschrift Mütze besteht fast vollständig aus seiner Übersetzung eines langen Gedichtes von Jack Spicer. Es ist ein Gedicht von 1962 und Spicers Version des Gralsmythos. Und der Mythos der sich um ein unbestimmbares Gefäß rankt, erweist sich hier selbst als Gefäß, als Gefäßgefäß, das das Historische aufnimmt und zu einer anhaltenden Gegenwart verquirlt.

Geschichte wird Spiel, aber entgegen der Annahmen und Vorwürfe gegen die Postmoderne behält das Spiel einen existenziellen Ernst. Wir begegnen KZ-Häftlingen, Baseballstars und Königen. Und es handelt sich hier nicht um eine Befreiung ins Beliebige. Dass den Protagonisten die Regeln des Spiels verborgen sind, heißt nicht, dass sie zu Souveränität gelangen.

„Der heilige Gral ist je nach Überlieferung eine Platte, eine Schale oder ein Kelch und nicht nur bei Spicer das große Unbestimmte, das leere Zentrum, das Vakuum. Das Heilige (hallow) ist immer auch das Hohle (hollow). … Jede Gestalt, jede Geschichte steht bei Spicer in Frage, ...“


Das schreibt Ripplinger in einem grandiosen, den Text und die Übersetzung begleitenden Essay.

Was nicht in Frage steht, sind Schmerz und Verwundungen. Spicer rettet als Kind kommunistischer Eltern den Gedanken in die Postmoderne, indem er ihn offen hält. Dieser Text ist, und auch das ist paradox, eine unersetzliche Lektüre.


Mütze #11. Hrsg. von Urs Engeler. Schupfart 2016. 52 Seiten. Einzelheft 6,00 Euro.

Zurück zum Seiteninhalt