Moritz Gause: Meditationen hinterm Supermarkt
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Timo Brandt
Schnappschüsse und
Gesänge, Aroma: romantisch
„Es ist mir fast egalwie andere meine Metren bewertenich glaube nur an Königin und Steppedenn beide sind treu, uferlos und unberechenbar schön.Als Kamelreiter würde ich mich sehnennach meiner kleinen Elefantin, ihrer ungestümen Liebeund hätte kein Heim.“
In Moritz Gauses Debüt „Meditationen hinterm Supermarkt“
kann man sich ohne Risiko bewegen. Es mag etwas befremdlich wirken, dies als
ersten Satz in einer Rezension zu einem Gedichtband zu lesen. Aber es ist
tatsächlich das Gefühl, das sich einstellte, während ich den Band las.
Normalerweise, wenn ich Gedichtbände lese, lauern darin allerhand Gefahren: die
Gefahr erkannt zu werden, die Gefahr vor den Kopf gestoßen zu werden, die
Gefahr der Langeweile, die Gefahr dumm dazustehen oder auszusehen, die Gefahr
sich zu verzetteln, etc.
Von all diesen Gefahren kann bei Gause keine Rede sein.
Diese Abwesenheit kann man natürlich negativ oder positiv auslegen – während
ich las, habe ich diese üblichen Gefahren nicht gerade vermisst. Erst im
Nachhinein, beim Schreiben der Rezension, beim Auswählen der Zitate, wurde mir
bewusst, wie viele schöne Momente das Buch zwar enthält, aber auch, dass nur
wenige davon mich wirklich umtreiben oder auf irgendeine Weise etwas in mir anstoßen.
„ein Ziel habe ich, wenn der Zug auf halber Strecke istzu wissen, dass Du wartest, auch schlafendist schöndas ist ein bisschen wie Freiheitkurz nach 11 Uhr abends, nach einer Lesungin einer fremden Stadt“
Dieser Eindruck hängt wohl damit zusammen, dass Gause sich
selten über das hinausbewegt, was einer einfachen Schilderung entspricht, oder,
wenn doch, dann selten über das, was ihn innerhalb dieser Schilderung persönlich
einnimmt. Ein großer Teil der Gedichte ist entweder ein Schnappschuss oder ein
Gesang von den Dingen, wie Moritz Gause sie erlebt, codiert, transzendiert,
aber nicht wie er sie bedenkt, hinterfragt, über das Erlebnis hinaus
erschließt.
Damit es nicht so klingt, als würde sich hier ein Verriss
anbahnen: diese Schnappschüsse und Gesänge sind schön, eindrücklich,
faszinierend, nur fehlen darin oft jegliche Widerstände, Widersprüche, sowohl
auf der sprachlichen als auch auf der inhaltlichen Ebene. Natürlich gibt es
Ausnahmen wie das längere „Journal aus Bishkek“ und manche Gedichte
konfrontieren einen zumindest ein wenig, wie etwa dieses:

„Auf dem Weg zum Supermarktendet der Versuch, mir meinen Tod vorzustellenmit der roten Leuchtreklameüber dem schwarzen Parkplatzmit den roten Flugwarnlichtern an den Schlotendes Heizkraftwerks im Nebel“
Ich will mit all dem nicht andeuten, dass ich eine solche
poetische Position für problematisch oder illegitim halte. Es ist eine Poesie
mit einem starken lyrischen Ich, das immer präsent ist und so gut wie nie
zurücktritt oder verschwimmt. Teilweise bekennt es, singt es, teilweise nimmt
es nur wahr, macht aus dem Moment eine Szenerie. Diese Herangehensweise hat
Vorteile wie Nachteile und ich will nicht den Richter spielen, der klärt,
welche Seite überwiegt.
„Links der Piste ein Wagen.Rechts der Piste ein Wagen.Die Fronten gestaucht bis zur Mitte.Schwarze Säcke glänzen in der Nachmittagssonne.Der Taxist steckt sich eine Zigarette anund beschleunigt.Das Radio spieltIt’s dangerous, dangerousI wanna do it again“
Zwei Jahre lebte Moritz Gause in Bishkek, Kyrgyzstan. Nicht
alle Gedichte, die in seinem Debütband enthalten sind, finden vor dem
Hintergrund der Steppen, Berge und Wälder dieses langen Aufenthalts statt (es
gibt Gedichte, die in Berlin, in Wien, in Italien und an andere Orten spielen).
Aber natürlich hat in diesem Zeitraum eine Auseinandersetzung stattgefunden,
die sich in einigen Gedichten manifestiert, allerdings selten in ihrem vollen
Ausmaß zu spüren ist.
Es gibt beispielsweise ein Gedicht über den Ata-Bejit-Kompleks,
eine Gedenkstätte, wo einerseits den Opfern von Stalins Säuberungsaktionen im
Jahr 1938 gedacht wird und andererseits den toten Revolutionären des Jahres
2010, als ein Aufstand gegen das autoritäre Regime stattfand. Dort heißt es:
„Die hier liegen, wurden nicht gefragt.Auch, dass sie zum Berg schauen durftenanstatt auf eine Mauer, wird kein Trost gewesen sein.Am Grabmal Chingiz Aitmatovszwei Mädchen mit Fahrrad und Rollschuhen.Auf dem Ehrenfriedhofsind die Gesichter weiß, die Augen schwarzer Granit.[…]Weiter unten weiden RinderEs ist eine ehrliche Geste, sich zum Gebet hinzuhockenwie die alten an den Straßenrändern.“
In solchen Gedichten wird vor allem spürbar, wie Gause
versucht, den Dingen und Momenten auf schlichte und ungefilterte Weise gerecht
zu werden, ohne zu viel Schmuckwerk, ohne Vereinnahmung und Interpretationen.
Wenn dies gelingt, dann entsteht das Geschilderte vor dem inneren Auge mit
einer unverstellten Eleganz, dann fließt den Lesenden die Energie der Atmosphäre
des beschriebenen Augenblicks/Eindrucks zu.
Aber manchmal wirkt diese Art der Darstellung auch zu vorsichtig.
Dann habe ich den Eindruck, das Gedicht gleiche eher einer privaten Notiz,
einer Erinnerungsstütze.
„Das Heulen der Wölfe haben sie ersetztdurch das Singen der Gleise.“
Zivilisationsferne, Innigkeit, Idylle – auch ein
romantischer, mitunter romantisierender Zug schwingt in dieser Lyrik mit. Ihn
zu verurteilen liegt mir fern, auch weil ich eine gewisse Schwäche für das
Romantische habe (wenn auch nicht unbedingt für Romantisiertes).
In Gauses Liebesgedichten ist diese Romantik für mich bar
jeden Kitschs und brilliert geradezu, was man von Romantik nur noch selten
sagen kann; meist erinnert sie ja schon in ihrer Gestik an ein Ritual oder eine
Nachahmung. Die menschliche oder zwischenmenschliche Romantik gefällt mir bei
Gause sehr.
Was die Landschafts- und Kulturromantik angeht, bin ich zwiegespalten.
Einerseits will ich die Begeisterung und Zärtlichkeit respektieren, mit der
Gause seinen Gefühlen für die Orte und Ereignisse Ausdruck verleiht. Er bringt
dies mit einer solchen Direktheit und Selbstverständ-lichkeit zuwege, die nichts
Unbekümmertes, Flaches oder Unbedachtes an sich hat, sehr in sich ruht, nicht
selbstverliebt oder versessen, sondern überzeugt.
Andererseits wirkt manche Zeile (oft nur eine unter vielen)
dann doch wie ein etwas atemloser Höhenflug, manche Wendung dann doch etwas zu
pathetisch, ohne Kanten. Nostalgie und Sehnsucht gehören zu den besten Motiven,
die ein Gedicht haben kann (meiner Meinung nach), aber wenn sie gar keine
Bodenhaftung mehr haben, wird es schwierig. Eigentlich achten die Verse auf
ihre Bodenhaftung. Aber manchmal heben sie trotzdem ab.
„Hier erfüllt sich das alte Versprechenüberall Blüte zwischen aufgelassenen KontorenMauerritzen, Schornsteinstümpfenzwischen niemals mehr singenden Gleisendas Land ist zahnlos gewordenbereit für eine neue Sukzession“
Ich schreibe und schreibe und die Rezension ist schon länger
geworden als geplant. Ich bringe viel Kritik an und doch will ich immer wieder
jene Sympathie unterbringen, die ich diesem Band letztlich entgegenbringe. Vor
allem, da ich die Wünsche, die in und hinter diesen Gedichten liegen, sehr
gerne teilen will.
Ich habe geschrieben, dass ich ohne Risiko durch diesen
Gedichtband ging. Das stimmt wohl nicht ganz. Denn es gab schon ein Risiko,
hier und da – und es war kein geringeres als das Risiko, sich wider die
Vernunft in einige Zeilen von Moritz Gause zu verlieben. Ich versuchte dem zu entgehen,
mit Bedenken und Vorbehalten. Daran halte ich fest. Aber es ist am Ende wichtig
zu sagen: so sehr diese Kritikpunkte meiner Ansicht nach auch greifen mögen, sie
schaffen es nicht, einen wirklichen Abstand zwischen mich und diese Texte zu
bringen.
„Mein Gedächtnis – eine kümmerliche Schaufel –grub auf der Suche nach Dir die Karpaten um.Gern wüsste ich von deinem Schmerz.“
Moritz Gause: Meditationen hinterm Supermarkt. Gedichte. Dresden (edition AZUR) 2018. 80 Seiten. 16,90 Euro.