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Monika Rinck: Champagner für die Pferde

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Stefan Hölscher

Die Sprünge entlassener Kontexte


Im Klappentext des Monika Rinck Lesebuchs „Champagner für die Pferde“ heißt es gleich im ersten Satz, „dieses Lesebuch … steht ganz im Zeichen der Fülle und Großzügigkeit“ Und in der Tat: Das von Monika Rinck und ihrer kookbooks Verlegerin Daniela Seel zusammengestellte und im März 2019 im S. Fischer Verlag erschienene Lesebuch enthält gut 500 in Hardcover gehaltene Seiten mit Texten von Rinck: Gedichte aus allen bisher von ihr erschienenen Lyrikbänden, Essays und Kurzprosa. Darunter auch erstmals Publiziertes, wie die 2015 in Münster gehaltene Poetikvorlesung. Der Band enthält also jede Menge Material, um tiefer einzutauchen in die poetische Wahrnehmungs- und Denkwelt der Dichterin. Unterteilt ist er in die Kapitel ANSPRECHEN, SCHWIMMEN, SCHLAFEN, VERKÖRPERN und SAMMELN umrahmt von einem kürzeren Prolog und Epilog. Der Titel LESEBUCH ist sicher auch insofern berechtigt, als diese Sammlung nicht unbedingt von vorne bis hinten, Seite für Seite, gelesen werden will, sondern den Lesenden die angenehme Freiheit eröffnet, sich immer mal wieder etwas herauszupicken und so auch über einen längeren Zeitraum im Dialog mit Monika Rincks schillernden Texten zu bleiben.

Um es vorwegzunehmen: Für mich sind hier eindeutig die Gedichte das Spannendste, das die Sammlung zu bieten hat. Sowohl die ausgewählten Kurzprosatexte als auch die poetologisch-metareflexiven Essays finde ich deutlich weniger inspirierend. Insbesondere bei den Vorlesungstexten hatte ich den Eindruck, dass Länge und Substanz in keinem idealen Verhältnis zueinander stehen. Die große Gabe von Monika Rinck, Sprache in Bewegung und unerwartete Assoziationen und Konstellationen zu bringen, zeigt sich zwar auch hier. Die Texte sind für meinen Geschmack aber an nicht wenigen Stellen zu sprunghaft und in Bezug auf das darin letztlich Gesagte ein wenig dünn, so zum Beispiel gleich in der ersten im Kapitel ANSPRECHEN stehenden Vorlesung, in der Monika Rinck doch eine ganz Weile den linguistisch und sprachphilosophisch nicht mehr sehr spektakulären Umstand umkreist, dass das Wort „ich … auf den Vorgang der individuellen Rede, in der er ausgesprochen wird, [verweist] und deren Sprecher [bezeichnet]“ (S. 59). Ich war nicht gänzlich unfroh, nicht als leibhaftiger Hörer dieser ganzen Vorlesungsreihe involviert gewesen zu sein, wobei die persönliche Verkörperung von Themen natürlich noch einmal einen ganz anderen Zugang zu ihnen verschaffen kann als die bloße Lektüre, was bei den Originalvorlesungen vielleicht geschehen sein mag.

Faszinierend finde ich demgegenüber Monika Rincks Gedichte. Gerade deren Versammlung in einem Lesebuch, das Texte aus über zwei Jahrzehnten enthält, verdeutlicht bei aller Entwicklung, die die Texte in der Zeitspanne auch genommen haben, wie stark und charakteristisch der Monika Rinck Stil ist: Die besondere Mischung aus umgangssprachnahem Sprechen, kühner Beweglichkeit, unerwarteten Kontext-Verbindungen und –Entbindungen, scheinbarer Gemächlich-keit und plötzlicher Beschleunigung, Absurdität, Albernheit, ständiger Selbstkorrektur und  omnipräsenter Metakommuni-kativität machen diese Texte unverkennbar und die Stimme der Dichterin darin in hohem Maße wiedererkennbar. Gegen Ende des Buches gibt es eine Passage in dem Reflexionstext DAS UNGESAGTE MEINEN, die gleichsam das poeto-logische Gravitationszentrum der Rinck’schen Dichtungswelt in wenigen Worten beschreibt:   

Was macht eine verbale Botschaft zu einem Kunstwerk? Entlassener Kontext, ausgewilderte Personalpronomen, mehrdeutiges, freigestelltes Wort, angespannte Relationen, die Freude an der poetischen Verknüpfung, eine bewusste, dreidimensionale Gelenkigkeit der Präpositionen, agrammatische Fügungen, Sprünge und Untertunnelungen, die zweideutige Unausweichlichkeit der Lautleite, halsbrecherische Beschleunigungen – ein heller Vorausraum kommender Verlässlichkeit. Dichtung erschafft unähnliche Formen der Wirklichkeit. Sie sagt nicht etwas, das bereits gesagt worden ist, besser, schöner oder anders, sie weigert sich, die bestehende Wirklichkeit sprachlich zu dekorieren ... Sie weist darauf, wie Bedeutung entsteht, welche Relationen für mich triftig sind und welche nicht.

(S. 443)

Das bringt den Geist der Rinck’schen Werke auf den Punkt und lässt sich auf jeder Seite der Sammlung wiederfinden. Dabei ist die sprachliche Spannweite der Texte Rincks zugleich beeindruckend weit. Es gibt darin zum Teil, wenn auch nur vereinzelt, ganz klare, unkomplizierte, gleichwohl dichte Texte, wie zum Beispiel das ganz am Ende der Sammlung stehende Gedicht:

ALLES SINNEN UND TRACHTEN

die menschen waren schlechte dichter
und ihre töchter trugen riesige bastarde aus.
das ist das ende, beschied gott im himmel.

und kein fünkchen güte erhellte den pechschwarzen uferwall.
die wasser stürzten.

(manch einer sagte sich:
bevor ich aus allen tieren
paare bilde und verlade,
geh ich lieber unter.)
            
(S. 508)

Es gibt, ebenfalls nur sehr vereinzelt, Gedichte von geradezu betörender klassischer Schönheit, rhythmischer Sprachmagie und existenzieller Intensität:

FALLEN, FALLEN UND VERGEHEN
Nach Alfred Tennyson

Die Wälder fallen, fallen und vergehn, die Dämpfe
Legen ihre schwere Last sehr langsam ab, nasse Wälder,
Männer gehen, karge Felder – wie darunter liegen?
Nach vielen Sommern stirbt der Schwan. Nur ich!
Verzehre die Unsterblichkeit, so verzehrt sie mich:
In ihren Armen welke ich, am stillen Limit dieser Welt,
wo Schatten sind und Fahrgeschäfte. So schön war ich,
du wähltest mich, ich fragte nach: Unsterblichkeit?
Die gabst du mir, doch lächelnd gabst du etwas nicht.
Die Jugend hieltest du zurück, und ewig, ewig altere ich …              

(S. 306)

Es gibt die in ihrer thematischen Referenz sehr klar bleibenden, gleichwohl komplex gewobenen Texte, wie etwa:

ZUM FERNBLEIBEN DER UMARMUNG

sie wollten nicht noch ein weiteres mal sterben,
sich kollidierend verfehlen, war ihre einzige chance.
sie hatten dazu die stadt, das land, ihren namen,
worunter sie verschwanden und wohin es sie rief.
es war eine decke, über sie gebreitet, ihre augen
geschlossen, wussten sie blind, es musste eine sein …

(S. 27)        

Und es gibt jede Menge Texte, die scheinbar ganz klar, fast simpel anzuheben scheinen und den Lesenden dann durchaus schwindelig werden lassen können:

SCHWEDENSCHANZE GENTLEMAN I

wir sprechen von der menge zerlegbarer dinge mit hörnern,
die an besitzlosen plätzchen moos und karge kräuter rupfen.
daneben die menge der legenden, von denen wir nicht sprechen,
weil wir es nicht können. Aber, sieh nur bruder, die berge!
die dürren wipfel der fichten, die schneeweißen gipfel,
das grollen der kommenden stürze, die räudigen bären,
das murren der bergwacht, das wort für flugzeugbenzin,
das dem braven senn nicht über die lippen gehen kann …

(S. 248)            

Und all die Texte, die plötzlich in scheinbar Absurdes einmünden:

IN EWIGKEIT ANGST UND CHAMPAGNER

artig artig artig – eine besonders einprägsame geilheit
wie ein hang, ein geflecht (ich sage mal: grünlich)
In einer geschlossenen form, unvordenklich,
arm an ausgang. der körper haftet schwer und rund
und auch mit seinen augen, während man um mich her
eine sprache spricht, die ich nicht kenne, plötzlich
die idee, eine kleine flasche shampoo zu trinken –

gott, diese großen hände.

(S. 427)               

Als Leser brauche ich nach einigen Seiten Rinck immer wieder etwas Abstand, um das Ganze wirken zu lassen, mich zu sortieren und mit neuer Frische an die nächste Rinck-Runde zu gehen. Zu tun hat dies meines Erachtens auch damit, dass die Texte ganz überwiegend nicht nur  komplex, sondern bei aller sprachlichen Beweglichkeit auch durchaus spröde sind und dass sie, auch wenn sie sich ständig in den Randbereichen des Sagbaren bewegen, den Lesenden doch vor allem als Denkwesen, kognitionszentriert ansprechen. Dies macht, wie ich finde, zugleich die Brillanz wie die Begrenzung der Dichtwelt von Monika Rinck aus. Jedenfalls das, worüber man geteilter Auffassung sein kann.

Eindeutig bleibt hingegen die immense Sprachkreativität, die eigensinnige Verknüpfungsgabe und risikofreudige Gestaltungskraft der Dichterin, die sich in den Sprüngen der von ihr immer wieder neu „entlassenen Kontexte“ manifestiert. Und diese Sprungkunst, die den ganzen Sammelband durchzieht, zeigt sich auch fast unscheinbar, aber dadurch nicht weniger schillernd auf den gegen Ende der Sammlung sich findenden Auszügen AUS DEM BEGRIFFSSTUDIO, wo zum Beispiel folgende Eigenbegriffe gelistet sind:

4227 bösewichtelnd
4229 eine Inflation des Gelingens
4242 bei Anbruch der Lämmerung
4243 im Eichenforst der Streichelwurst
4259 auf den Müll der Erfüllung werfen
4309 mein beruflicher Pferdegang
4327 die Minute, die nicht weiß zu vergehen
4393 Gewissenspisse
4396 Unterströmung der Bedeutung
4400 Wendekreise des Hefehörnchens

(S. 470 ff.)             

Hier wie auch an vielen anderen Stellen des so reich gefüllten Lesebuchs kann man reinschauen, verweilen, sammeln, schöpfen, genießen und die gute Gewissheit haben, dass es nicht nur die Pferde sind, für die es bei Monika Rinck Champagner gibt.


Monika Rinck: Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch. Frankfurt a.M. (S. Fischer Verlag) 2019. 528 Seiten. 24,00 Euro.
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