Mirko Bonné: Wege durch die Spiegel
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Foto: privat
Mirko Bonné
Wege durch die Spiegel
Im Nachtwind Gespenster, die Äste,
wie sie so
schwanken, mich erinnert das
schwarze Fenster
an mein Jungsgesicht, ein
Beben war es ja eher,
Gezittere, dieses Schwanken,
und innen Zweifeln,
oder täusche ich mich? Ich
sehe sie noch vor mir,
meine Augen, immer ist da
dasselbe so rastlose
Blicken, ein Unwissen,
Rätseln, Erratenwollen,
ja. Mit demselben Gesicht saß
ich als Schüler
weinend auf dem Sockel des
Spiegelschranks
meiner Großeltern. Blickte
tief in den Schmerz,
aber half der Blick? War er
poetisch? Mein Opa,
zwar tot, doch spielte eine
umso größere Rolle,
er wurde erzählt, neu
erfunden. Ein Vierteljahr
-hundert lang wehrte sich
meine Großmutter
gegen das Erlöschen, und in
ihrem Gesicht
sah ich Chemnitz, grün die
Straßen vor dem
Krieg, die Tram in Łódź,
verrußt ihre Fenster,
Flucht nach Westen, Flucht
nach Süden, Groll
auf die Schuld, Flucht in
Erinnerungen, Scham
vorm eigenen Dünkel,
Festhalten am Osten,
Ordnen erledigter Papiere. Die See ist glatt,
Silbertablett,
Spiegel. Der goldengrüne Wald,
gewachsen an den
Küstensaum. Alte spazieren
durch die Dünen,
Enkel toben. Das dunkle Meer
nur Geister, und ich am Fenster, am
Schreiben.
Das Gedicht ist als Teil des voraussichtlich Anfang Juni 2025 bei Schöffling & Co erscheinenden Bandes „Mirko Bonné: Gegen den Uhrzeigersinn“ vorgesehen.
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Hamburg und der Provence. Für seine Übertragungen aus dem Französischen und Englischen, u. a. von Joseph Conrad, Victor Hugo, John Keats und Oscar Wilde, erhielt er 2020 den Hamburger Literaturpreis für Übersetzung. Zuletzt erschienen: Lichter als der Tag, Roman, 2017, Wimpern und Asche, Gedichte, 2018, Seeland Schneeland, Roman, 2021, Elis in Venedig. Die frühen Gedichte, 2022, Alle ungezählten Sterne, Roman, 2023, alle im Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main. Sein schriftstellerisches Werk wurde u. a. mit dem Prix Relay (2008), dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2010), dem Rainer Malkowski-Preis (2014) und dem Hermann Hesse-Stipendium (2022) ausgezeichnet. 2024 wurde ihm der Hubert Fichte-Preis zugesprochen. Mirko Bonné ist Gründungsmitglied des PEN Berlin und seit 2024 Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Konzepte. Sein Gedichtband „Gegen den Uhrzeigersinn“ erscheint voraussichtlich im Juni 2025 bei Schöffling & Co., Frankfurt am Main.
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