Miri Ben Simhon: Drei Gedichte
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Foto: Yedidya Ben Simhon
Miri Ben Simhon
Drei Gedichte
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
Ein mizrachisches, ödipales Freundschaftsgedicht
Für Amira Hess.
Komm schon, zeig mir ein neues Gesicht
gib mein Gesicht zu deinen Masken hinzu
kläre mir die luftigen, transparenten unter ihnen
danach die hart gewordenen, schwarzen
jene, die du verbirgst in einer archaischen Büchse
der Pandora von dir und deinen Ahnen
und lass dich von meiner Panik nicht aufhalten
zeig mir Gesicht, Bedeutung
die Innenseite.
Danach sezieren wir gegebene Zustände
mit dem Meißel aus Feuerstein
bieten Wirklichkeit, harten Stoff für Träume
bauen Mauern in ihnen und legen Fenster fest
ich werde dir zeigen, dass alles eitel ist
und mich möglichst elastisch verhalten
ich werde mich zusammenfalten, wenn du möchtest
und mich verdoppeln, wenn du möchtest
und mit dir streiten vielleicht
und mich versöhnlich zeigen, wenn du möchtest.
Gewiss werde ich mich wie eine feine Ähre fühlen
in einem Krug aus antiker Tonerde
neben den von dir übermittelten Hurrikan-Feldern.
Du wirst mich gleich erkennen:
Mein Vater war der erstgeborene, abgedunkelte Bruder
von Kohelet
zu Hause trug er seinen weiten Piqué-Kittel
schwitzend-Intrigen-schmiedend
um sich die Erstgeborene zurückzuholen
darum war er siebenfach betrübt
und seine Finesse nimmermüde
„Man muss die richtigen Techniken lernen“, sagte er
immer
und ich hätte von ihm lernen sollen
bevor ich wie eine Furie im Irrenhaus landete
dass die blutzerrissensten Schlachtopfer
und diese stöhnenden Höhen der Sinne
was über und was unter ihnen liegt
rituelle, urtümliche Dinge,
(wilde aus den Tagen der Schöpfung und kulturelle von Zweijahrtausenden
mehr)
sich nicht versöhnlich zeigen vor den Göttern.
„Man muss die richtigen Techniken lernen“, sage er
immer
(zu Hause haute er alle beim Kartenspiel übers Ohr)
und du bewegst den Kopf mit der zeremoniellen, mizrachischen
Geste der Identifikation
„ja“ wirst du ächzen
wirst mein Nachsinnen von seinen Ansinnen abzuziehen
suchen
und dennoch gehe ich wieder dazu über, dir Papa zu beschreiben
in weißer, glänzender Trikot-Kleidung
und mit Turnschuhen
schreitet er geschmeidig über asphaltierte Straßen
und ein ergriffenes Florett kreist in seinen Händen
seine Bewegungen sind schultrig, verrenken sich mit
männlicher, sehr leiser Anmut
sein Körper ist ihm vorbehalten, involviert in fließende Bewegungen
allein
(seine innere Disziplin ist makellos)
der Mann ist eine einzige Musik, wie eine Toccata und
Fuge von Bach BWV 540
elegant, besonnen, mathematisch und rein –
etwas wird unerreichbar
so richtig in meinen Fingern
„Papa“ möchte ich berühren und werde
schwefelhaltig
nymphetetisch
und meine Talismane: Avischag, die
Schunamitin
und werde mich nie mit ihm treffen.
Ich werde mich mit den Flechten meines Kopfes
im Geäst von Akazienbäumen verfangen
auf dass er rufe meine Tochter, meine Tochter, meine
Tochter
sein Gesicht mit seinen Händen bedecke
und seine Seele nicht kenne
er wird darauf brennen, um seine Leiden zu wissen
was sein Bild ist, seine Verbote und seine Pein
zur Zeit, da ich sein Bein und Eigen war –
gleichwie mein Selbst kam
von seinem Selbst.
Danach lasse ich ihn gehen
mit langsamen Bewegungen
geht er vorüber.
Und ich schamponiere mir den Kopf
und mache Maniküre
und treffe ihn im „Café“
ich richte mich ganz genau nach seinem Terminkalender
meine biologischen Uhren sind mir vorbehalten, nicht involviert.
Ein Mädchen aus Katamonim (Längsschnitt)
Ein schwarzes Mädchen mit Pickeln im Gesicht
Alisa Alfandari
an einem Ort, der für andere Leute bestimmt ist
wäscht ihre Kleider
wie eine, die das Gute tut in den Augen G″ttes
danach wird sie den Fußboden feucht wischen
und die Blumen in der Vase richten
Bluse und Rock passen farblich zusammen
sie deckt die Pickel im Gesicht nicht ab
sie nimmt eine dicke Schicht „Make-up“
dann sieht man es nicht so.
Ihre Vorzüge und Erfolge sind sowieso nicht davon abhängig
sie achtet streng darauf, ihre Pflichten der Reihe nach
zu erfüllen
weiß von Kindesbeinen an, wer „in Ordnung“ und wer
„nicht in Ordnung“ ist.
Gelegentlich bekommt sie einen Anfall, aber zu Recht
wenn man bedenkt, wie viele Leute echt keinen Benimm
haben
das ist ihre Natur
sie erträgt all die nicht, die Unsinn reden
die keine Vernunft haben
sich ihre Ehre nicht bewahren
ihre Mutter ist an einem Herzinfarkt gestorben, als sie
klein war
und ihr Vater ist Hausmeister in der staatlich-religiösen
Schule nebenan
sie liebt ihren Bruder Ja’akov
der es im Leben weit gebracht hat
er ist Verwalter in der Wirtschaftsabteilung der
Universität
und verantwortlich für so und so viele Arbeiter
die ihren Lohn aus seiner Hand erhalten und ihm Ehre
erweisen.
Sie ist Schreibkraft und schafft 120 Wörter in der
Minute
die Arbeit ist das Wichtigste für sie im Leben
jeden Morgen genau um 7.30 Uhr sieht man sie an der
Haltestelle
(sie ist fest angestellt und auch die Rente ist
geregelt).
In den freien Stunden stickt sie Gobelins
die sie am Schabbat in der Altstadt gekauft hat.
Ascher ruft manchmal aus der Werkstatt an
aber sie zeigt ihm die kalte Schulter
das ist gut so, dann weiß er, dass sie anständig ist
und denkt nicht, sie macht das vor der Ehe.
Manchmal geht sie mit ihrem Bruder Ja’akov ins Kino
ordentlich rasiert und mit geputzten Schuhen
und das ganze Viertel sieht, dass sie sich amüsiert
und ihr Name bleibt sauber.
Alle im Viertel wissen, dass Alisa die reine Unschuld
ist
sagt „Schalom“ und „Was machen die Kinder“
kann nähen und sitzt zu Hause
ein anständiges Mädchen.
Es kommt der Tag und mit ihm ihr Glück
ein junger Mann, der es ernst meint, und sie wird
heiraten
Kinder kriegen, die, so G″tt will, groß werden
und ihre Mutter wertschätzen.
Trost in ungenauen Worten
Es liegt ein gewisser Trost in ungenauen Worten
ein Freund heilt mich durch Worte, mit denen ich es früher
nicht konnte. Seltsam, wie ich erst jetzt verstehe.
Stille kehrt nicht ein überm Suchen
nach einem Wort.
Wie verzwickt ist die Suche nach
Genauigkeit, nach Genauigkeit in der Genauigkeit.
Ich hätte jetzt Tante Mari eine
magische Bedeutung
zuschreiben können. Doch Weisheit
ist
eine zum Verzweifeln banale Sache,
wenn mich jemand
so für vogelfrei erklärt (und man vorher
daran hätte denken können)
hauchzarte Luftlinien scheiden
zwischen mir und dem Chaos und in ihm
schwirrt mir der Kopf ‒ Stille kehrt
nicht ein überm fieberhaften Suchen
nach einem Wort.
Sturm läutende Sehnsüchte, die in meinem Körper pochen.
Passen nicht zu meinen Blicken.
In meinen Augen.
Ein wässriger marokkanischer Trank in meinem Blut
und ich versetzte ihn mit starkem russischem Wodka
trete an den Schlund meiner Grenzen. Eine Cohenet der
Liebe zu sein.
Geschützte Seelen-Gebiete lassen locker
ungehörige Orte brennen in mir –
Liebe, die aufgeregt war, zu kommen
wütet jetzt in meinem Gebein.
Und ein anderer Mann
und ich ein Wasserfall. Überschütte. Ihn.
Wer für sich nach Genauigkeit sucht
bei denen, die ihn umgeben
sucht für sich nach einem Gen zum Bollwerk auf
seinen Mauern.
Anmerkungen:
Katamonim (hebräisch auch „Gonenim“): In dem Jerusalemer
Stadtviertel kamen zwischen den 50er und 70er Jahren vor allem jüdische Einwanderer
aus Nordafrika und dem Nahen Osten in ärmlichen Verhältnissen unter; es galt
als sozialer Brennpunkt, auch mizrachische Protest-Bewegungen waren damals dort
aktiv.
Miri
Ben Simchon, geboren 1950 in Marseille in einem Übergangslager, wo sich ihre
Eltern auf dem Weg von Fès, Marokko, nach Israel aufhielten, ist eine
israelische Dichterin. Sie wuchs in dem Jerusalemer Viertel Katamonim auf,
studierte hebräische Literatur an der Hebräischen Universität und Schauspiel an
der Schule für Darstellende Kunst „Beit Zvi“ in Ramat Gan. Ihr Lyrik-Debüt Interessiert,
nicht interessiert (Me’unjenet, lo me’unjenet) erschien 1983, drei weitere
Bände folgten, der letzte, Ängstlicher Existentialismus
(Eksistenzi’alism chared) posthum 1998. Zentrale Motive ihres Schreibens sind
die mizra-chische Herkunft, Geschlechterrollen und der eigene Platz als Dichterin; ein
gehobenes, aus biblischen Quellen schöpfendes Hebräisch trifft auf häuslich-familiäre
Szenen, folkloristische Details und Spuren von Soziolekt. Miri Ben Simchon kam am 24. Juni 1995 ums Leben, als sie spätnachts in der Nähe des Moschavs Petachja
von einem Lkw überfahren wurde. Die Erstausstrahlung des Dokumentarfilms Liebe kommt mit Aufregung (Ahava mitrageschet lavo / Miriam’s
Poetry; Regie: Eldad Bouganim und Israel Winkler, Drehbuch: Dan Albo) über ihr
Leben und Werk fand im Oktober 2017 statt.
Alle Gedichte aus: Miri Ben Simhon: Nur die Luft draußen ist erhaben (Rak ha’awir bachuz sagi’). Sämtliche Gedichte von Miri Ben Simhon, einschließlich der Gedichte aus dem Nachlass, mit einem Essay von Ketzia Alon zur „radikalen Poetik“ der Dichterin, Tel Aviv: Hoza’at Gama 2018. Für diese Ausgabe wurden auch handschriftliche Texte erstmals mühevoll entziffert.