Michel Houellebecq: Gestalt des letzten Ufers
Dirk Uwe Hansen
„Die Würfel sind erst halb gefallen“
Ganz unvoreingenommen geht man nicht an die Lektüre dieses Bandes. Dafür ist Houellebecq durch seine bisherigen Texte, mehr aber noch durch seine bisherige Selbstinszenierung zu sehr zum „umstrittenen“ Autor geworden. Die Ausstattung des Buches tut ein Übriges: Schwarz mit fluoreszierendem Blau, der Schnitt durch eine Klappe verborgen: Es ist, als müssten diese Gedichte erst noch aus einer (ein wenig kitschigen) Schatulle entnommen werden. Und wenn dann auch noch das zentrale Kapitel den Titel „erinnerungen eines schwanzes“ trägt...
Freilich geht es in dem Kapitel auch tatsächlich um Sex, Schwänze und Mädchenhintern:
Ein genüsslicher, sanfter Tod
Auf einem kleinen Flugplatz
Und niemand wüsste davon
(Oder in Rimini, warum denn nicht?)
Ich liebte sehr den Hintern der Mädchen
Und liebte kaum noch etwas sonst
In der Nacht so weniges, das funkelt,
So wenig Freude und zierendes Zubehör.
Du Kühner! Die Karzinome verrichten
Im Verborgenen und heiter ihr Werk,
Sie nehmen ganze Brocken von Fleisch
(Ungefähr noch eine Niere habe ich).
Lege mir die Zunge ein wenig an den Schwanz,
Bevor gar nichts mehr da ist.
Führe deine Zunge spazieren. Du wohnst
In einem anderen Universum als wir.
Wer aber diesen Text auf der Suche nach einem Skandalon liest, mag enttäuscht sein – und hat selbst Schuld. Denn diese Gedichte taugen nicht für Schlagzeilenträchtiges, wohl aber für eine ruhige und intensive Lektüre.
„Gestalt des letzten Ufers“ versammelt fünf Kapitel, die man auch als Zyklen lesen könnte. Erstaunlich ist dabei die Vielfalt der Register, die Houellebecq zu ziehen weiß: Da finden sich etwa mehrstrophige, chansonhafte Texte in gereimten Jamben – tatsächlich habe ich häufig beim Lesen der Originale, die zum Glück neben den Übersetzungen abgedruckt werden, im Kopf nach passenden Melodien gesucht, etwa bei diesem Gedichtanfang:
Ma vie, ma vie, ma très ancienne,
Mon premier vœu mal renfermé
Mon premier amour infirmé
Il a fallu que tu reviennes
Mein Leben, mein Leben, mein sehr altes,
Mein erster schlecht verborgener Wunsch
Meine verstümmelte erste Liebe
Du hast zurückkehren müssen.
Daneben gibt es längere Prosagedichte, die in ihrer düsteren Undurchdringlichkeit an H.P. Lovecraft gemahnen (auch mit ihm hat sich der belesene Houellebecq beschäftigt):
„Ich leide jetzt den ganzen Tag lang unter milden, leichten Beschwerden, die jedoch hin und wieder fürchterliche Spitzen in mein Herz bohren, unvorhersehbar und unausweichlich, einen Moment lang winde ich mich vor Qual, und gleich darauf kehre ich zähneklappernd in den normalen Schmerz zurück. (…)"
Und dann auch immer wieder stark verdichtete Miniaturen wie diese:
Vêtue d‘un manteau bleu
(Ciel sur l‘ésplanade)
Elle paraissait malade,
Le ciel au fond des yeux.
In einen blauen Mantel gekleidet
(Himmel auf dem Vorplatz)
Wirkte sie krank,
Den Himmel am Grunde ihrer Augen.
So entsteht der Eindruck, es hier eher mit einer Gesamtausgabe als mit einer Auswahl von Gedichten zu tun zu haben, ja, dass eine Auswahl – betrachtet man die große Zahl an Bezugnahmen auf das Nahen des Todes, tödliche Krankheit und Leid – aus Pietät nicht stattgefunden hat. Und das ist, ich kann es nicht anders sagen, eine Schwäche des Buches; denn bisweilen sind die Wiederholungen von Konstellationen und Themen eben nicht interessante Varianten (davon gibt es natürlich auch eine ganze Reihe, und es ist ein großes Vergnügen, diesen Variationen durch das Buch hindurch nachzuspüren), sondern schlicht Redundanzen, ja, so manches Mal gleitet ein Stoff bei erneuter Aufnahme dann doch in die Banalität ab. So wird etwa das Thema „Überdruss beim Betrachten der Mitmenschen“ in zwei Gedichten des Zyklus‘ „plateau“ durchgespielt:
AN DER CREUSE ANKOMMEN
Ein Best-of bemerkenswerter Bäume
Und die Pärchen, die den Abend ausklingen lassen
(Dürfte man auch sagen, den Lebensabend?)
In der Ferne die Pracht der Linden
Am Juniabend
Und die seltsam sexuelle Stimmung
Von den Kellnerinnen im Château Cazine genährt
(Die Eichhörnchen müsste man irgendwie beseitigen!)
Ein Pärchen ist verschwunden,
„Die sind wahrscheinlich zwischen Käse und Dessert
gestorben.“
und das folgende, titellose Gedicht:
„Crème brûlée“ steht auf der Speisekarte
Und wir sind fern vom Gesetze Jesu.
Das recht widerwärtige Schauspiel
Dieser beiden bebrillten Kadaver
Hätte uns mit den Zähnen knirschen lassen,
Hätten wir noch einen Rest Anstand bewahrt.
Lebenslust und -überdruss, (sexuelle) Faszination und Ekel für Mitmenschen und -geschöpfe bringt Houellebecq hier geschickt in eine ganz harmlos wirkende und doch präzise gearbeitete Form. Dagegen fällt „Quartett“ in den „erinnerungen eines schwanzes“ bei ganz ähnlicher Thematik (der Sprecher beobachtet hier zwei amerikanische Ehepaare im Zug) so stark ab, dass ich es – wäre ich der Lektor gewesen – versucht gewesen wäre zu streichen:
(...)
Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass diese zwei Männer
(durchschnittlich, vielleicht sogar begehrenswert)
Sich vorstellen können, mit diesen zwei Frauen zu schlafen,
Die dick und hässlich sind, doch zufrieden dabei und
dynamisch,
Nutzlos, doch fröhlich dabei
Und ich kann mir ehrlicherweise überhaupt nicht vorstellen, dass irgendein
Mann
Lust haben könnte, sein Fleisch zu vereinigen mit
Diesen Mysterien nutzlosen Menschseins.
Doch vielleicht hätten andere Leser anders ausgewählt, und sicher ist es auch eine Frage des persönlichen Geschmacks, wo wir die Grenzen zwischen Melancholie, Sentimentalität und Banalität ziehen wollen. Und es sind eben diese Grenzen, die die Texte des Bandes immer wieder ausloten, auch bewusst überschreiten oder zu überschreiten drohen. Es sind Texte, die fast alle geprägt sind von der Vorahnung eines nahenden Todes („...Bald bin ich nichts mehr als / Ein leerer räumlicher Körper.“) Dabei geht es aber höchstens vordergründig um die Vergeblichkeit menschlichen Lebens („Wenn alle Wege zu verschlossenen Kammern führen.“) und die grausame Unausweichlichkeit des Todes; es geht vielmehr um die Sekunden vor dem Verlöschen der Welt, das Glück, das sich erst kurz vor dem Tode zeigt, um einen Abschnitt, der immer wieder beschworen wird als „Möglichkeit einer Insel“ inmitten der Zeit, als pathetischer Nachmittag oder als vorübergehende Erektion:
Un matin de grand clair beau temps
Tout rempli de pensées charnelles
Et puis le grand reflux de sang,
La condamnation essentielle;
La vie qui s‘en va en riant
Remplir des entités nouvelle,
La vie n‘a pas duré longtemps,
La fin de journée est si belle.
Ein Morgen mit strahlend gutem Wetter
Bis obenhin voll mit fleischlichen Gedanken
Und dann der große Rückfluss des Bluts,
Die grundsätzliche Verdammnis;
Das Leben entzieht sich lachend
Um neue Wesenheiten zu erfüllen,
Das Leben hat nicht lange gedauert,
Das Ende des Tages ist so schön.
Darin, dass es Houellebecq gelingt, dieses Thema immer wieder neu und anders durchzuspielen und dabei die verschiedensten Arten lyrischen Sprechens, die er souverän beherrscht, vor Augen zu führen, liegt für mich die große Stärke dieses Bandes.
Zu loben ist auch die hervorragende Übersetzung von Stephan Kleiner und Hinrich Schmidt-Henkel (die so sehr im Gleichklang miteinander übersetzen, dass die Übersetzungen alle wie aus einem Guss wirken). Sie verzichten bewusst auf die Nachahmung von Reim und Form und konzentrieren sich ganz auf eine schlichte und behutsame Wiedergabe. So entstehen Übersetzungen, die teils als eigene deutschsprachige Dichtungen Bestand haben könnten (etwa bei den Miniaturen und Prosagedichten), teils als hilfreiche Begleiter für Leser mit durchschnittlichen Französischkenntnissen fungieren – und damit Stärken und Schwächen der Houellebecq‘schen Gedichte umso deutlicher vor Augen führen.
Michel Houellebecq: Configuration du dernier rivage / Gestalt des letzten Ufers. Gedichte. Französisch – Deutsch, übertragen von Stephan Kleiner und Hinrich Schmidt-Henkel. Köln (DuMont Buchverlag) 2014. 175 Seiten. 18,00 Euro.