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Michel Butor: Textes récents

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Jörg Neugebauer

Das Fieber nach außen tragen


Gegen Ende eines langen literarischen Lebens hat Michel Butor, 86jährig, noch einmal neue Gedichte vorgelegt: "Textes récents", in der Manuskriptfassung 37 Seiten, die, von Christof Weiand übersetzt, herausgegeben und kommentiert, 2012 in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen sind. Und es lohnt sich, diese Gedichte zu lesen, einzutauchen in einen persönlichen Kosmos, der zugleich - nicht übertrieben! - alle betrifft. Auch wenn oft vom "Ich" die Rede ist: Hier ist rein gar nichts privat. Ein Weltliterat, der alle Experimente hinter sich hat, erhebt nochmals seine lyrische Stimme. Und bringt dabei Verse hervor, die alle Gegensätze von "(post-)modern" und "traditionell" in sich aufheben und der, spürbar über jeden Zwang zur Originalität erhaben, dabei etwas sehr Originelles schafft.
Die 14 Gedichte lesen sich einerseits "unschwer", sie sind nicht "dunkel", auch syntaktisch nicht kompliziert - man "versteht" sogleich, oder meint zu verstehen. Andererseits muss man sie sehr langsam lesen, es steckt so viel gelebtes und reflektiertes Leben darin.


Der Kirchturm schlägt die Stunde,
es ist noch nicht zu spät,
wie zu befürchten war,
noch bleibt ein Augenblick,
im Moos zu ruhen
und kleine Zweige zu zerknicken


Nach einem Abschnitt von sechs Versen wie diesem (aus "Le sentier aventureux/Der Abenteuerpfad") hält man inne, um das Bild in sich nachhallen zu lassen. Ja, hallende Bilder. Nicht selten ist so wie hier etwas Optisches mit einem Höreindruck verbunden. Dieser verweist auf ein Erleben, auf etwas, das in der Zeit geschieht, aber noch bloßes Vorhaben ist, das wieder in ein neues Bild mündet. Am Ende steht erneut etwas Akustisches, hier das imaginierte "Zerknicken" der "Zweige".


Durchweg handelt es sich bei den Gedichten dieses Bandes um solche der Gattung "Langgedicht", wobei immer wieder eine Fußwanderung den äußeren Rahmen bildet. Manchmal ist es auch ein Weg durch die Zeit, die hier im großen Maßstab gesehen wird, parallel zu den Räumen, die kaum Entfernungen zu kennen scheinen. Alles liegt, auch sprachlich, nah beeinander:


Wo seid ihr, Freunde?
Bald schon trennt mich
die ganze Erde von euch,
wir kennen etwas besser
ihre Oberfläche, aber kaum
den Grund der Ozeane,
vom Inneren des Globus ganz zu schweigen.


Viele solcher Siebenzeiler - zehn davon bilden hier das Gedicht "Creuser/Freilegen" - können für sich allein stehen. So ergibt sich ein langsam fortschreitendes, immer wieder einhaltendes Lesen. Aber es handelt sich bei diesen Texten nicht um Idyllen. Titel wie "Intolérance/Intoleranz" und "Chant du rebut/Gesang des Abfalls" signalisieren bereits die Hinwendung zu eher unangenehmen Themen:
Die Erde als "Versuchsanstalt (...) fürs Strafen und fürs Foltern" ("La beauté du diable/Des Teufels Schönheit") und die "angestaute Wut" der von der Euro-Krise betroffenen Jungen und Alten


ob sechzehn oder neunzig,
die Unzufriedenheit hält an

("Obstination/Beharrlichkeit").


Die Politik - ihre Verlogenheit, ihr Versagen - und das entfesselte Chaos der herrschenden Banken-Anarchie sind überall anzutreffen, auch auf dem "Abenteuerpfad" (so der Titel eines weiteren Gedichts) eines Vorstadtspaziergangs, nirgends ist ein


entkommen dem Redeschwall
von Wahlkampfkandidaten bis zu
den Schurken aller Couleurs,
die, geduckt in ihr Büro,
die Graphikkurven unseres
Niedergangs beäugen.


Butors Verse sind dabei von angemessener Bitterkeit, scheuen indes jede Larmoyanz und rufen verhalten zu Aktion und Widerstand auf:


Das Fieber, das nicht weicht, nach außen
tragen, das ist sie, unsere Rolle


Sie klagen nicht an, sie beschreiben. Beschreiben, wie nah alles beieinander ist: Die "Wasserfälle (...)/mit ihren Brücken aus Holz/ (...)/Stelldichein für Liebende/belauert vom/Wetterschlag".


Es gibt keine Asyle, in denen man sicher wäre. Keinen Frieden, der diese Bezeichnung verdiente, keine Schönheit von Dauer. Harmonie ist kein Zustand. Das bedeutet jedoch keine Resignation: Für Augenblicke vermag das Bewußtsein sich über jede Misere zu erheben, innerlich bleibt der Mensch, wenn er will, autonom, sofern er in der Lage ist, die Gunst des kurzen Moments zu erkennen und zu ergreifen - wie jener Flugreisende in "Sur le départ/Reisefertig":


sollte das Glück ich haben,
an einem Bullauge zu sitzen,
werd ich den Wolken mich ganz widmen.


Die Übersetzung "verkünstelt" den Text öfters unnötig - hier durch die beiden Inversionen. Butors Sprache ist sehr klar und direkt, ohne je in eine "Ich-rede-hier-Klartext"-Attitüde zu verfallen. Auch hat es der Übersetzer für nötig befunden, den Text durch Satzzeichen zu gliedern - welche Fülle an Beistrichen! - Butors Verse kommen im Original ganz ohne Satzzeichen aus. Wichtiger aber erscheint mir, dass die Übersetzung den Rhythmus weitgehend bewahrt, das irgendwie Zupackende, so gar nicht Greisenhafte dieser Diktion, in deren Lakonie noch immer viel Aufbegehren zu spüren ist.



Michel Butor: Textes récents - 37 pages / Neueste Texte - 37 Seiten. Poésie / Gedichte. Deutsch / Französisch, hrsg. von Christof Weiand. Heidelberg (Universitätsverlag Winter) 2012. 140 Seiten. 10,00 Euro.

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